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e-card-“Missbrauch”, eine populistische Fangschrecke

Ahja: e-Card mit Foto für 23 Mio€? Wtf?

Gegen Missbrauch…? (Suggeriert: Durch Unversicherte, die sich Behandlungen erschleichen, weil ~kein Foto~?)
Peanuts im milliardenschweren SV-Haushalt, irgendwo bei 0,0003% der Ausgaben.
Sollens 230k€ p.a. sein. 100 Jahre, bis die Aktion “e-Card mit Foto” sich amortisiert?

Laut (allerdings altem) Artikel in der Presse gingen 2009/2010 bei Ermittlungen durch die WGKK 82% der Missbrauchs-Schadenssumme auf Ärzte/Ärztinnen, die nicht erbrachte Leistungen verrechnet haben. Ähem. I sag nur. Aber mittlerweile gibts ja sicher schon argumentativ gefälligere Zahlen.

Übrigens ist es imho Wirtschaftsbetrug und Betrug am Staat, wenn Ärzte nicht erbrachte Leistungen abrechnen. Und nicht „Sozialbetrug“. Aber hey: Es gilt ja nur mehr, was draufsteht.

Hier der Link zum alten Presse-Artikel. Der Titel ist gleich doppelt irreführend – “Betrug mit e-card – 1,2 Mio € Schaden”, wo doch die 1,2 Mio aus zwei Jahren sind, UND davon satte 82% auf nicht erbrachte Arztleistungen entfallen.

Damit bleiben 108k€ p.a. an patientenseitigem Missbrauch – wie gesagt: Peanuts.
Pro Fall sind das ~830€ Behandlungskosten (Schnitt; 325 Fälle, davon 260 patientenseitig, 216k€). Leistungsbürger zahlen das beim Wahlarzt vielleicht locker, aber welche Chance auf Behandlung hätten Unversicherte um den Preis wohl gehabt? Man sollte das nicht mit „sich bereichern“ verwechseln.

Es kann einem übrigens völlig blunzn sein, wenn vielleicht ein paar Leut „gratis“ zum Arzt gehen, die nicht versichert sind.
„Ja, aba aba… ich zahl dafür, und die nicht!“
Du zahlst auch dafür, wenn die nicht hingehen. Und zwar exakt dasselbe.
Und wenn du selbst nicht hingehst, auch. Wetten?

Wenn allerdings – zur “Prävention” der mickrigen Betrugsfälle, die man mit Foto verhindern könnte – Fotos auf die e-cards kommen, was unangemessene Millionen kostet, die zum Schaden in keinem Verhältnis stehen – dann könnt’s eventuell auch für die Einzelnen teurer werden. (Das allerdings liegt dann nicht am gemeinen E-Card-Missbräuchler vulgo “Auslända”.)

Mit der Kohle hätten wir jahrzehntelang die paar Unversicherten & Süchtigen unterstützen können, die’s sicher gern selbst bezahlt hätten, wenn sie sichs leisten könnten.
Aber wir unterstützen lieber… ja, wen eigentlich? Cui bono? Cui Hackn, Provision, “wo is mei Leistung”?

Man hätte aus den Daten freilich auch ganz andere Schlussfolgerungen ziehen können:
• Die Gesundheitsversorgung für alle Menschen ist in AT zu wenig effektiv.
• Es gibt zu viele, die sich keine (Selbst-)Versicherung leisten können.
• Es gibt zu viele unversorgte Suchtpatienten.
(Gewichtung dieser Schlussfolgerungen: 18/100)

• Die Vertragshonorare sind viel zu gering!
Und das kann man als Kassenpatient/in auch sehr deutlich an der Zeit und Aufmerksamkeit ablesen, die einem Onkel und Tante Kassendoktor für gewöhnlich nicht widmen.
(Gewichtung dieser Schlussfolgerung: 82/100)

Eine Spende an die Barmherzigen Brüder ist übrigens steuerlich absetzbar. Die behandeln auch Unversicherte. Dort kommt die Wohlfahrt – abgesehen von der geringeren Steuer – schön aus privater Hand, damit sie DEM STAAT nicht auf der Tasche liegt, nech? Die Ärztinnen und Ärzte sind dann natürlich immer noch unterbezahlt, aber Hauptsache, wir haben die Schuld und die schlechte Nachred’ auf die bösen Sozialschmarotzer umgelenkt.

Und mit solchen Aktionen begründen dann die Fänboys & -girls ihr Pro-Schwarzblaun? Weil “endlich was weitergeht”? Na hoffentlich bleiben sie alle weiterhin leistungsstark, krankheits- und unfallfrei im Leben. Damit ihnen das, was da weitergeht, nicht schon bald selbst auf den Kopf fällt.

Bitte den Sand aus den Augen wischen und an die Natur zurückführen! Der wird am Bau gebraucht.

(übertragen aus meinem ursprünglichen Twitter-Thread und ergänzt)

Update 8/2020:
Ui, und jetzt sind wir ganz enttäuscht, dass die Einsparungen deutlich geringer ausfallen als erwartet, während die Kosten um 7 Mio. höher liegen als 2019 veranschlagt.
“Wie viel der nun durch die Taskforce eingesparten Summe auf den Missbrauch der E-Card entfällt, gab der Innenminister nicht von sich aus bekannt.” Nageh!

Update 5/2021:
Im Nachhinein aus der Corona-Perspektive betrachtet, gefällt mir ein Satz in diesem Standard-Artikel aus 2018 ja besonders gut:
“Für die Neos ist das Vorhaben “von Anfang an eine Farce”. Die Regierung bestehe “partout auf die Fotos auf der Karte”, weil sie es als politisches Prestigeprojekt sehen. Dabei könnte das Geld für “etwas Sinnvolleres” ausgegeben werden. Hier hat Loacker auch einen konkreten Vorschlag: Der elektronische Impfpass soll endlich umgesetzt werden. Geht es nach den Pinken, sollen auch Schulärzte Zugriff auf das Dokument bekommen. Dazu brauche es aber Lesegeräte für die E-Card, das sei derzeit für Schulen aus Kostengründen nicht angedacht.”
Zihihi, “Sinnvolleres!” Aber nicht doch.

 

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Woher der Zuspruch?

Auf einen Artikel bei der Frau @KatQuat aka FireRedFriederike hab ich heute einen langen Kommentar hinterlassen… und werde irgendwann nicht mehr wissen, dass ich das nicht hier gebloggt hab, sondern dort kommentiert. Daher hier mein Kommentar, für meine Suchfunktion.

Kurz zitiert gings darum:

Ist es nicht außerordentlich eigenartig, dass eine Partei wie die ÖVP, die – zusammengefasst – sagt „Kümmert euch um euch selber und wer das nicht zusammenbringt, ist selber schuld“ einen derartigen Zuspruch erfährt? Die das Dogma „sich um Schwächere kümmern“ so komplett pervertiert und aus der Pervertierung die Erzählung von Erfolg strickt?

Ich greif mal kurzerhand einen Aspekt heraus: Die Geschichte vom leistungsstarken Idealbürger und seinem “sozial schwachen” Gegenstück, das ersterem immer nur in der Tasche hängt, ist voll aufgegangen, in allzu vielen Gehirnen. Ist es nicht immer stärker scham- und angstbesetzt, Hilfe zu brauchen? Umso mehr, je öfter dir erzählt wird, dass du es doch alleine schaffen können musst. ZB von Leuten, die es ja auch geschafft haben – unter welchen Umständen, lassen sie sehr gerne unter den Tisch fallen, weil die erhaltene private Unterstützung von 0-25 ja wiederum aus “Leistung” stammte, qua Eltern quasi den eigenen Kreisen zuzurechnen sind. In manchen Kreisen steht die Unterstützung so selbstverständlich zu, dass man deren Funktion als jahrelange Starthilfe komplett negieren kann.

Schwupps, und plötzlich stehen sie auf eigenen Beinen und denken: Na, das war doch eh ganz leicht! Daraus folgt ein Nichtzuständigseinwollen für andere, die “nur kosten und nix beitragen”, weil: “Um mich hat sich der Staat(!) auch nicht gekümmert, und ich habs trotzdem geschafft”.
Leute, für die sich ihre gesamte Erfahrung von “Ich hab kein Geld” darauf beschränkt, dass sie gerade keines dabei haben.
Die Adelung zum Leistungsträger obendrauf, Platzen vor Stolz, Ende der Solidarität.

Ja, sie ist in der Tat außerordentlich eigenartig, die Sache mit dem Zuspruch, die du als Kernpunkt definierst. Hab dazu auch gebloggt, noch vor der Wahl, weil auch mir nicht eingeht, dass so viele Leute die Story “endlich geht was weiter” weitererzähl(t hab)en.

Es wird nicht in die Tiefe geschaut, sagte mir dazu jemand – nein, es wird nichtmal knapp unter die Oberfläche geschaut. Was die Sozialstaat-Demontagen aus dem letzten Jahr tatsächlich bedeuten, ist (fatalerweise für diese Wahl) noch gar nicht lange genug am Wirken, das werden viele erst checken, wenn sie das nächste Mal beim AMS sitzen. Bis dahin glauben sie die Erzählung, dass den Bösen extra was weggenommen wurde, damit für sie, die Fleißigen, mehr bleibt. Sie merken nicht, dass sie während der geilen Zaubertricks auch immer die andere Hand hätten im Auge behalten müssen.

Ich meine, es ist der gewollte Effekt des liberalen Narrativs, und dem konnten sich über die Jahre auch sozialdemokratische Hirne nicht entziehen – nach außen hin müssten wir Soli sein, aber jeder kämpft für sich allein. Gehts nicht auch da vor allem um persönliche Vorteile? Um die first-hand-Angebote von Genossen? Wo soll da unter “Was kannst du für mich tun?” noch Raum gefunden werden für ein “Was können wir für die Menschen tun?” Geht’s den meisten aufgrund genau dieses Netzwerkes ZU gut? Ich vermute, ja. Sonst wäre man revolutionär laut geworden, auf die Barrikaden gegangen, hätte Revidierungen jedes einzelnen Punktes gefordert und versprochen; den Leuten hörbar vermittelt, was da gerade ratzfatz passiert ist.

Nun müssen die, die vom Kümmern profitieren, ja für ihre Annäherung an die Adelung zu Leistungsträgern vor allem eins: hackeln. Da bleibt eben nicht viel Zeit fürs Kümmern darum, was da politisch eigentlich genau passiert. Viele von ihnen glauben daher wohl lieber die einfachen Geschichten, auch wenn sie erfunden sind – und nicht die komplexen.

— Ende Kommentar.—

Zusatz:

Vielleicht ist diese Sozialdarwinismus ein Ausdruck einer Mentalität der FürImmerJung-Illusion – dieser dummdreiste Glaube, den Menschen haben, die noch nie richtig krank waren, die in Fülle aufgewachsen sind und bis zum Antritt der ersten gutbezahlten Stelle finanziert worden sind.

Ich kanns auch “allein” schaffen, ich brauche niemanden, es ist peinlich, wenn ich jemanden brauche oder es nicht allein schaffe. Und was für mich gilt, muss für die anderen auch gelten.

Daraus entsteht dann vielleicht genau dieses Ideal der Fehlerlosigkeit, der Perfektion, die nicht zu erreichen ist, und jeder kämpft nur noch für sich selbst, weil die anderen nur mehr als Perfektions-Kontrollinstanz (=Bestätiger) fungieren (dürfen) und nicht mehr als Beistand und Kümmerer.

Und Geldadel. Wer sich Pflege, Kinderbetreuung, Gesundheit auf privater Ebene leisten kann, private Krankenversicherung und alles Pipapo, hat auch weniger Angst davor, was passiert wenn…

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Gute Behandlung? Ein Fragenkatalog.

Angenommen, jemand möchte dich für sich gewinnen – und damit dein Vertrauen, deine Zuneigung, deine Unterstützung. Oder genauer gesagt, er möchte dich nach einem Scheitern oder Fehlverhalten zurückgewinnen. Wie müsste derjenige sich verhalten, um dieses Ziel bei dir zu erreichen? Fragst du dich in diesem Zusammenhang womöglich zuerst, was derjenige denn für dich tun kann? Oder fragst du dich doch vorher:

Wie möchte ich behandelt werden?
Zum Beispiel: Ich möchte respektvoll behandelt werden, mich wertgeschätzt fühlen, auch mein Vertrauen geschätzt und nicht missbraucht wissen. Vielleicht möchte ich auch was zurückbekommen und nicht nur geben: Ehrlichkeit. Toleranz. Umsicht. Und selbstverständlich möchte ich nicht für dumm verkauft werden.

Bevor du eine Entscheidung für die Zukunft triffst, würdest du versuchen sicherzustellen, dass du keinem Blender aufsitzt, der dir nur vordergründig schön tut, dir aber dann von hinten das sprichwörtliche “Hackl ins Kreuz haut”?

Wie lauten deine Anforderungen für gute Behandlung?
Natürlich würdest du davon ausgehen, dass so jemand…:
♥ sich ehrlich um dich bemühen wird
♥ sich von seiner besten Seite zeigen wird
♥ dir gegenüber Zugeständnisse machen wird, die dir bisher fehlten
♥ Wenn er auch vergangene Ereignisse vielleicht ein wenig beschönigen wird

Würdest du in gutem Glauben sofort alle Bedenken über Bord werfen? Oder erstmal abwarten, ob das erfreuliche Verhalten sich fortsetzt? Wie lange? Würdest du bemerken, wenn dein Gegenüber seine Versprechungen nur zwischen den Zeilen transportiert?

Und wenn er versucht, dir Angst vor einer Zukunft ohne ihn zu machen?
Wovor muss man mehr Angst haben – vor einem gemalten Schreckensszenario? Oder vor dem Maler?

Was stimmt hier nicht?
Was, wenn du ihn in Gesellschaft bei jeder Gelegenheit etwas anderes erzählen hörtest, und du würdest das irgendwann bemerken? Wenn du das Gefühl kriegst, er lügt wie gedruckt, um sich beim aktuellen Zuhörer anzubiedern, etwa indem seine Herkunft sich ständig ändert – wie würdest du das einschätzen? Könnte es sein, dass er seine wahren Absichten verbergen will?

Wie würdest du es in so einer Situation finden, wenn derjenige die aktuellen Fakten und die Vergangenheit, die du deutlich anders in Erinnerung hast, dreist verdreht? Wenn er es so darstellt, …:
♣ als wären andere an seinen Fehlern und Versäumnissen schuld
♣ oder die äußeren Umstände
♣ als wäre gar nicht sein Verhalten das Problem gewesen, sondern die Tatsache, dass du es gesehen oder davon erfahren hast
♣ als wäre es besonders gemein von dir gewesen, ihn dabei zu erwischen
♣ als wäre es ein Affront und “Anpatzerei” von dir, dass du sein Fehlverhalten auch noch benennst und thematisierst
♣ als wäre er immer das arme Opfer, egal, worum es geht
♣ als wären daher alle anderen die, denen man keinesfalls vertrauen könnte, weil sie nach seiner Logik ja dann Täter wären; er würde aber im selben Atemzug behaupten, andere anzupatzen wäre nicht sein Stil
♣ als wäre er von Natur aus über jeden Zweifel erhaben
♣ als wäre er jetzt schon dein “Schatzi”, obwohl du deine Entscheidung noch gar nicht getroffen hast

Enttäuschung vorprogrammiert
Und jetzt die Preisfrage: Wenn das alles schon das “Zeigen von seiner besten Seite” sein soll – in Zeiten, in denen er dich für sich (zurück)erobern will, wohlgemerkt – wie werden dann erst die weniger guten Seiten aussehen?

Du ahnst es schon
Würdest du in deinem Privatleben dermaßen offensichtliche Manipulationsversuche dulden? Wie würde dein Vertrauen darauf reagieren? Welches Recht hat eine Person, dich so zu behandeln? Würdest du dich verarscht fühlen und für dumm verkauft?

Unterscheidet sich das von dir erwünschte Verhalten im privaten Bereich davon, wie du als Wähler*in von Kandidaten oder Kandidatinnen zur Wahl behandelt wirst?

Was würdest du als nächstes tun?
Wenn dir vieles merkwürdig vorkommt, würdest du dann beginnen, Informationen und Details zu überprüfen, vergangene und aktuelle?

Angenommen, deine einzige Quelle bisher war dein eigenes Gedächtnis und das, was Freunde des Betreffenden über ihn sagen. Würdest du beginnen, neue Quellen zu suchen und in Erfahrung bringen wollen, woran andere Leute sich erinnern, oder wie sie denjenigen sehen?

Ist es dein Recht, das zu hinterfragen und dir dein eigenes Bild zu machen, bevor du eine Entscheidung triffst? Oder gar deine Pflicht dir selbst gegenüber?

Weiterfragen
Wie würdest du es nun bewerten, wenn du möglicherweise herausfändest, dass…:
♣ du schlecht behandelt, belogen und betrogen wurdest?
♣ jemand begonnen hat, deine Rechte, deine Ansprüche und damit deine Zukunft zu demontieren?
♣ jemand deine Interessen verletzt hat zugunsten anderer, die zB finanziell besser gestellt sind?
♣ dieser Jemand im Moment wieder so tut, als wäre er dein Freund, weil er offenbar was von dir braucht?

Hättest du das Gefühl, er hält dich für zu einfältig, um deine eigenen Schlüsse zu ziehen?

Wenn dieser Jemand offenbar nichts dabei findet, andere zu diffamieren (oder das von seinen Freunden besorgen zu lassen), nur um selbst besser dazustehen, als es ihm auf Basis seines Verhaltens eigentlich zukäme – wird er das dann bald auch mit dir oder deiner Gruppe so machen?

Was wird später aus seinen jetzigen Versprechungen werden? Wirst du womöglich bald von ihm verraten und verkauft? Musst du dich vielleicht eher fragen: Was wird er sicher nicht für mich tun?

Was ist realistischerweise von jemandem zu erwarten, der sich immer nur abputzt und für nichts verantwortlich sein will, der bewusst wegschaut, seine vergangenen Fehler nicht (an)erkennen (will) und schon nach kurzer Zeit so tut, als wären sie entweder nie geschehen oder die Schuld von jemand anderem? Wie gehst du in deinem Privatleben mit solchen Leuten um?

Schlüsse ziehen
Kannst du bei all diesen beobachteten Anzeichen noch davon ausgehen, dass demjenigen dein Vertrauen etwas wert ist, und dass du dafür was zurückbekommen wirst? Wenn er sich wohl auch künftig und in anderen Zusammenhängen drehen und wenden wird, wie es der Wind der Situation gerade vorgibt?

Schenkst du so jemandem trotzdem weiterhin dein Vertrauen? Im privaten Bereich? Und politisch? Und wenn dein Glück davon abhinge? Würdest du so jemanden Entscheidungen für dich treffen lassen? Ihm die Macht über dein Leben und deine Zukunft in die Hand geben? Verantwortung?

Wenn mit ihm wirklich irgendwas massiv nicht stimmen würde – müsste dann nicht zuerst seine Partei aufbegehren, und nicht ausgerechnet du kleine*r Einzelne*r persönlich? Und solange das nicht geschieht, kannst du dich dann darauf verlassen, dass sicher eh alles in bester Ordnung ist?

Musst du immer warten, bis andere für dich eine Entscheidung treffen? Oder darfst du selbst entscheiden, wem du dein Vertrauen schenkst?

Eine (neue) Wahl treffen
Ist davon auszugehen, dass jemand, der sich so benimmt, eine goldene Ausnahme machen wird für dich, deine Gruppe, Herkunft oder Zugehörigkeit – oder auch für dein gegebenes Vertrauen? Könntest du beweisen, wo du zuletzt dein Kreuz gemacht hast?

Wann ist also der beste Zeitpunkt für ein Umdenken? Wann triffst du deine Entscheidung für eine künftig bessere Behandlung? Und was, wenn das eventuelle Erkennen deines eigenen Irrtums vielleicht schmerzhafte oder beschämte Gefühle in dir weckt? Verzichtest du auf eine Korrektur, um solche Gefühle zu vermeiden? Verteilst du ständig neue Chancen, als hättest du eine ganze Garage voll davon, in der Hoffnung, dass schon irgendwann durchsickern sein wird, wie du eigentlich behandelt werden möchtest?

Oder würdest du dich abwenden und dir stattdessen Menschen suchen, die dich besser behandeln?

Neinsagen lernen
Wenn man jemandem die Rechnung für sein Verhalten präsentiert, indem man Nein zu ihm sagt – ist man dann ein schlechter Mensch?

Was, wenn genau dieses Nein ebenfalls eine Chance für den Betreffenden darstellt – nämlich die, sein Verhalten, das nun von außen deutlich als inakzeptabel benannt wurde, zu überdenken und vielleicht sogar verändern zu können?

Wer muss wem beweisen, wie loyal und integer er ist?
Dass jemand ein paar kleinere Fehler macht, kommt vor. Man wird durch eine ehrliche Entschuldigung und verändertes Verhalten bald merken, dass es Fehler waren, die er auch tatsächlich erkennt und bedauert. Dann hält man auch weiterhin zu einem alten Freund.
Aber was, wenn all das gar nicht kommt, und du stattdessen siehst, dass die eingeschlagene Richtung dir persönlich schadet? Oder anderen Menschen?

Jemand, der sich wie beschrieben benimmt, hat dich moralisch aus jeder gefühlten Verpflichtung entlassen, ihm gegenüber (weiterhin) loyal oder integer sein zu müssen. Oder wäre es klug von dir, bei solchem Benehmen einfach weiterhin mit seiner Loyalität zu rechnen?

Zu wem musst du zuallererst eisern halten, um gut behandelt zu werden? Mit welcher Begründung könntest du dein weiteres Vertrauen noch vor dir selbst rechtfertigen? Oder vor anderen, die darunter leiden würden?

Was zählt es schon, wie ich behandelt werden möchte?
Wenn du weiterhin dein Vertrauen schenkst – würdest du damit nicht das unerwünschte Verhalten stillschweigend absegnen und dich mit der schlechten Behandlung einverstanden erklären?
Warum sollten dafür in deinem Privatleben andere Grenzen gelten als in der Politik? Wie gut möchtest du dich von der Politik und ihren Kandidaten und Kandidatinnen behandelt wissen?

Wie ist das eigentlich mit den “Wenigen da oben” mit ihren finanzstarken Interessen und den “Vielen da unten” – sind die Letzteren wirklich ohne jede Handhabe? Wie ausschlaggebend können “Wenige da oben” eigentlich sein?

Mit entsprechender Unterstützung könnte der eine oder andere Jemand sich natürlich einen Vorteil verschaffen, bevor es an deine Entscheidung geht. Indem er für größere, auffälligere und häufigere Sichtbarkeit sorgt, als seine Mitbewerber es können, um deine Aufmerksamkeit und Entscheidung zu binden.
Wenn er in dieser Zeit aber geschönte Mythen über die Vergangenheit und Schreckensvisionen über die Zukunft erzählt, mit sich selbst in der Heldenrolle des heiligen Erretters, in denen alle anderen zufällig sehr schlecht wegkommen… und wenn er sich damit allzusehr bei den “Vielen da unten” anbiedert – dann vielleicht einfach deshalb, weil die “Wenigen da oben” einen zu kleinen Teil der Wahlberechtigten darstellen?

Im Jahr 2019 zählt es
Die Zeiten der Wiege der Demokratie, ein paar Jahrhunderte v.Chr., werden heute oft allzu verklärt betrachtet. Doch damals war das Wahlrecht – und auch das Regieren selbst – der Aristokratie vorbehalten, den Wohlgeborenen und -habenden. Arbeiter, Frauen – ah, und Sklaven natürlich – die hatten da gar nichts zu melden. Sie waren viele, aber machtlos.

Seither hat sich zum Glück vieles verändert bis zur modernen Demokratie. Die arbeitende Bevölkerung im Jahr 2019 n.Chr. hat sehr wohl eine Handhabe: ihre Wählerstimme. Und das sind in Summe sehr viele.

Im großen Unterschied zu einer Entscheidung für deinen privaten Bereich allerdings ist deine Stimme nicht nur eine Entscheidung für dich und deine persönliche Zukunft, sondern auch eine für Millionen anderer Menschen, etwa für jene, die (noch) nicht wählen dürfen.

Überlegen wir uns also sehr genau, wie und für wen wir diese Stimme einsetzen.
Schenken wir unser Vertrauen nur solchen Menschen, die uns so gut behandeln, wie wir es uns wünschen. Im privaten Leben genauso wie im politischen: Wie möchtest du behandelt werden?

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Was zählt, ist der Inhalt!

Von irreführenden Etiketten und Flaschen in der Politik

In welcher jenseitigen Definition entspricht es eigentlich noch der unverbrüchlichen Bedeutung der Begriffe “christlich”, “sozial” oder irgendeiner denkbaren “Freiheit” des Menschen, wenn politische Amtsträger…

¿ mit einhundert Wiederholungsfällen auffallen, indem sie u.a. menschenverachtende Sprache und Ideen führen und damit ungefragt und für alle definieren, was man heutzutage alles “sagen dürfen muss” – und damit wohl letztlich auch: “machen dürfen muss”? …und damit die Grenzen des Sagbaren und Denkbaren immer weiter übertreten und rausschieben.
¿ mit sozialer Kälte auf so vielen Ebenen die Solidargemeinschaft unseres Sozialstaates demontieren, die in diesem Land einst für soziale Sicherheit und Gerechtigkeit für uns alle sorgen sollte? Eine Gemeinschaft, an der jahrzehntelang verhandelt und gearbeitet wurde, und auf der die Sicherheit und der soziale Frieden in Österreich beruhen.
¿ Arbeitnehmerrechte und -vertretungen aushöhlen zugunsten jener, die sich eine Rechtsgebung in ihrem Sinne auch finanziell leisten können?
¿ ständig “Auslända”, “Balkanroute” o.ä. schreien, sobald das dumme Volk mal wieder vom eigentlichen gesellschaftspolitischen Ziel abgelenkt werden muss?
¿ schnelle Umwälzungen durchsetzen? Was soll an Schnell gut sein, wenn es angesichts einer Fülle an unterschiedlichen Interessen doch gilt, vorher gangbare Kompromisse zu finden? Hauptsache “Zack, zack, zack!”? “Sinn vor Tempo” ist doch weitaus klüger als umgekehrt!
¿ alles beliebig verdrehen und an allem immer nur die anderen für schuldig erklären?
¿ ständig subtile Angstmache betreiben, indem einer etwa “Tendenzen bekämpfen” will, die angeblich unsere “Identität bedrohen” würden?
etc… etc…

Wollen wir da wirklich ständig reingezogen werden, in dieses Schattenboxen gegen Unbekannt? Was soll das alles noch mit Freiheit, christlichen Werten, mit sozialen Ansinnen oder gar sozialer Kompetenz zu tun haben?

Ob blindfromme Gläubigkeit überhaupt noch in eine aufgeklärte Zeit gehört, darüber kann man vielleicht streiten. Aber nicht darüber, dass sie in die Kirche gehört und nicht in die Wahlkabine. Es wäre eine allzu fromme Loyalität, die keine politischen Fragen stellt. Zum Beispiel: Was ist drin? Statt die Aufschrift unverändert zu glauben, nur weil die Bedeutung der Begriffe sich ja nicht geändert hat. So eine Art der Loyalität würde nämlich bedeuten, aktuelle Werte hinter alten Aufschriften zu erhoffen, und diese Werte, die persönlich wichtig sind, damit letztlich aufs Spiel zu setzen.

Und wofür? Um ein Gottvertrauen zu beweisen, dass alles schon nicht so wild werden wird, wie es aussieht, wenn wir nur einfach nicht hinschauen? Das ist Selbstbetrug, und, pardon, als würde man in eine leere Flasche Château-Lafite brunzen und behaupten, es wäre Bordeaux, weil die Aufschrift gleichgeblieben ist. So eine Aufschrift ist bedeutungsleer und hält sich an keine Regeln mehr – auch nicht an die des guten Geschmacks. :)

Wollen wir also langsam beginnen, die Aufschrift anzuzweifeln und den deutlich sichtbaren Inhalt zu betrachten?

Gerade jene, die bisher vom kurzen Hinsehen befunden haben, es wäre doch in dieser letzten Regierung “endlich was weitergegangen” – ich enttäusche euch nur ungern, aber dass “was weitergeht”, ist per se noch kein Qualitätsmerkmal. Es kommt darauf an, w-a-s da weitergeht. Natürlich gibt es auch perfide Bremser, aber prinzipiell sind Bedenken, Gegenstimmen und längere Diskussionen eine gute Sache in einer Demokratie.
Daher möchte ich euch ans Herz legen, noch vor nächstem Sonntag eingehend zu prüfen: War und ist euch das wirklich alles so recht? Müsste man eventuell die eigentliche Bedeutung und weitere Konsequenz so manchen Beschlusses erstmal zu Ende denken, um aus Kenntnis auch Meinung abzuleiten? Vielleicht erhält dann doch noch so manches, was euch als Zuckerl verkauft wurde, im Nachgeschmack deutlich was von Bittermandel?

Was aber, wenn du deine Gruppe in der Solidargemeinschaft von alledem gar nicht betroffen siehst? Sondern einfach nur die Rechte, Ansprüche oder Zukunft irgendeiner anderen Gruppe? Beruhigt dich das soweit, dass du dann einfach wegschauen und sagen kannst, Hauptsache es betrifft nicht meine Gruppe?
Gehörst du einer Minderheit an? Beachte, dass es nicht nur numerisch-statistische, sondern auch soziale Minderheiten gibt: Frauen, Kinder, Arbeitslose, Einwanderer, LBGTIQ. Oder chronisch Kranke, Alte, Pflegebedürftige, Behinderte. Könntest du in Zukunft einer Minderheit angehören? Waren deine Vorfahren vielleicht Einwanderer, und in welcher Generation? Wann also wird wohl die kaltschnäuzige Demontage der Gemeinschaft auch deine Gruppe erreichen? Und auf welche Solidarität aus anderen Gruppen wirst du dann zählen können?
Freiheit ist nur dann gegeben, wenn sie allen Gruppen zugesichert wird, nicht nur selektiv einer privilegierten. Die Freiheit von Minderheiten ist daher immer im Interesse aller Gruppen.

Ist es nicht sinnlos, die Bereitschaft zur Verantwortlichkeit dort zu suchen, wo keine ist? Egal, wer es konkret ist – einer, der das ewige Opfer spielt, wird niemals seine Verantwortung akzeptieren, und daher auch nie verantwortlich handeln. Und einer, der behauptet, er würde deine Sprache sprechen, ist dann womöglich in Wirklichkeit einer, der von dir erwartet, dass du seine Sprache sprichst. Ansonsten gilt wohl: Hände falten, Goschn halten.

Nein, Herrschaften, gerade wer sich als Christ oder Christin versteht, und das bitte ehrlicherweise dann schon samt Nächstenliebe, Barmherzigkeit und allem Pi-pa-po, und wer Wert auf Freiheit legt, erteilt doch eine deutliche Absage an Eiseskälte, Restriktion, Raffgier und Pharisäertum dieser Politik. Und zwar egal, welche Worthülsen von christlich, sozial oder freiheitlich diese Parteien bequemerweise noch für ihre Fahnen gepachtet haben.

Echte Menschlichkeit macht keine Unterschiede zwischen Menschen. Oder sie ist keine Menschlichkeit.
Wie möchtest du behandelt werden?

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Resonanz

Ergänzend zum vorigen Artikel möchte ich hier ein Thema und einen Podcast empfehlen.

Zur Resonanz kommt es, wenn wir uns auf Fremdes, Irritierendes einlassen, auf all das, was sich außerhalb unserer kontrollierenden Reichweite befindet. Resonanz erfordert den Mut zur Verletzbarkeit. (Hartmut Rosa)

In unserer “Welt in Reichweite”, in der alles auf Knopfdruck funktionieren muss, geliefert werden muss, alles immer prompter verfügbar gemacht wird und sein muss, entwickeln wir auch einen dazupassenden, recht aggressiven Anspruch auf Sofort, Gezielt und Wie-Gewünscht – und damit auch auf Geplant. Verfügbarmachung, die sich auf alle Lebensbereiche erstreckt. Wir verplanen uns damit auch selbst.

Wir sind weniger offen für das und erleben immer weniger von dem, was uns doch die Welt um uns in der lebendigsten Art spüren lässt: die spontanen Geschenke des Lebens, die wir nicht bestellt haben – und die sich auch nicht bestellen lassen: Eine Begegnung in der Natur. Ein freundlicher Blick. Oder auch eine überraschende Eingebung. Das, was passieren muss, damit die erwähnte Resonanz entsteht. Eine Resonanz in unseren tiefsten inneren Schichten, nach der sich wohl viele sehen, die Konsum aber nicht erzeugen kann. Seelen-Nahrung!

Dafür braucht man nicht nur die nötige Aufmerksamkeit und Geduld, und ein etwas demütigeres Mindset als für die mittlerweile entstandene erpichte Attitüde “sofortige Verfügbarkeit”. Sondern auch offene Zeit, die nicht bereits durch Vorausgeplantes, Vorbestelltes belegt ist. Die Bereitschaft, Zeit und Welt auf sich zukommen und wirken zu lassen – und sich darauf einzulassen. Manche brauchen mittlerweile sogar jemanden, der sie dorthin mitnimmt, weil sie selbst gar keinen Zugang mehr haben.

Mit unserer Verfügbarmachung der Welt geht uns also unsere eigene Fähigkeit flöten, für diesen Zustand, für das Geschehenlassen dieser Resonanz verfügbar (ha!) zu sein.

Die sehr anregenden und weitreichenden Überlegungen dazu hat Alexandra Tabor in diesem Podcast wunderbar ausgebreitet:
“In trockenen Büchern – Unverfügbarkeit” – anhand des Essays “Unverfügbarkeit” von Hartmut Rosa.

Alexandra Tabor sagt in diesem Podcast:

… dass sich durch die neuen Möglichkeiten des Verfügbarmachens unsere Haltung, unsere Beziehung zur Welt stark verändert hat. Es macht einen Unterschied, ob ich alles, was nicht in den Plan oder ins gesellschaftlich erwünschte Schema passt, sofort beseitigen will, oder ob ich versuche, auf etwas, das sich querstellt, zu hören und zu antworten.

Um nun diesen roten Faden mit meinem vorigen Artikel zu verknüpfen:
Die beschriebene Attitüde – die Veränderung des Selbst durch die Anziehungskraft der allzu konsum- und planungsfreudigen Gegenwart – zieht uns nach außerhalb von uns selbst, und sie suggeriert uns obendrein durch ihre sexy Verfügbarkeit auch den leichteren Zugang. Leichteren Zugang als zu uns selbst. Es findet eine Entfremdung von uns selbst statt.
Dazu passt auch der selbst-entfremdende Impuls, Gefühle wegzuschieben und sich nichtmal mehr auf das, was in uns selbst vorgeht, spontan einlassen zu können und zu wollen – selbst wenn uns das so viel weiter bringen könnte als der nächste “Jetzt bestellen”-Button.

Auch unsere Toleranz für Widersprüchlichkeit und Mehrdeutigkeit, für Ungewissheit und Unplanbarkeit geht dadurch verloren. Ambiguitätstoleranz ist aber nicht nur ein wichtiger Skill für ein zufriedenes Leben, sondern auch für das Fortbestehen einer toleranten und freien Gesellschaft.

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Das tut nix, es ist nur ein Gefühl!

Sinnvolles Bewältigen von großen, schwierigen Gefühlen ist, sie wahrzunehmen, bei ihnen zu sein, sie zu spüren, zu trösten, zu umarmen, zu akzeptieren, sie nicht alleinzulassen.

Und damit auch: sich selbst nicht alleinzulassen. Eines der schlimmsten Gefühle ist es, sich alleingelassen zu fühlen. Dennoch tun wir uns das selbst immer wieder an – wir verlassen uns selbst, um uns nicht spüren zu müssen.

Dagegen:
Reinspüren. Aufspüren. “Ich hör dich. Ich seh dich. Ich bin da. Ich bleibe da, auch wenn’s schwierig wird. Es ist okay. Woher kommst du? Seit wann bist du da? Was willst du mir erzählen?”
Dortbleiben. Seine eigene Beschwichtigerin, Trösterin, Mama sein.
Zuhören. Fokussiert. Zugewandt. Erzählen lassen.
Erkunden, mit welchen Körpergefühlen das Gefühl zusammenhängt.
Tränen zulassen, wenn sie kommen. So lange, bis das Gefühl angenommen ist.
Dann aufatmen.
Reflektiertes Bewältigen, und es immer wieder zu tun, bedeutet, sich zu akzeptieren.
Sich selbst auszuhalten. Sich selbst lieb zu haben.

Dagegen ist sofort ausagieren, wüten, Schuld zuweisen müssen keine Bewältigung, sondern Verdrängung.
Dass andere Menschen das nicht gutheißen werden, versteht sich eigentlich von selbst. Vor allem solche, die für sich selbst und ihre Gefühlswelt bereits die Verantwortung übernommen haben. Und die andere für unreflektierte Affekte verantwortlich machen werden.

Wozu Gefühle bewältigen?
❥ Um die eigenen Gefühle zuzuordnen, zu benennen, aushaltbar zu machen, wiederzuerkennen.
❥ Um mit sich eine Verbindung einzugehen und verbunden zu bleiben, egal, was außen passiert.
❥ Um Blockaden zu lösen und sich weiterzubewegen, emotional und körperlich.
❥ Merken, wann man Ruhe braucht, bevor es zum Overload kommt. Spüren, wann man mit seinem Gefühl genug bei den anderen war und wieder zu sich selbst und seinen Quellen zurückmuss, um Energie zu tanken und alles in Ruhe einzuordnen. (Auch und gerade für Hochsensible)
❥ Um sich weniger alleingelassen zu fühlen, denn dieses Gefühl wird man so lange im Außen wiederfinden, wie man es innerlich mit sich herumträgt.
❥ Um nicht dem Auslöser die Schuld zuzuschieben, weil er jedesmal wieder mit dem wahren Ursprung verwechselt wird.

Manche glauben ja, mit dem Wissen um eine alte Verletzung wäre sie auch gleich gelöst. Aber da beginnt die Arbeit erst. Sich selbst und seine Gefühle zu kennen bedeutet freilich auch, leichteren Zugang zu sich zu finden, neue Situationen schneller einordnen zu können. Denn unsere Gefühle sind ein Fortsetzungsroman.

Es gibt für schwierige Gefühle keine Umleitung über den Intellekt. Nur wer die Gefühle der ersten Folge in sich kennt, bewältigt sie auch bei der Fortsetzung leichter. Und muss sich nicht im neuen Anlassfall mit einer ganzen Domino-Kaskade an älteren Gefühlen und Auslösern herumschlagen, die, angestoßen von einem neuen Auslöser, zusätzlich über ihn hereinbricht.

Leider wird den wenigsten von uns zeitgerecht beigebracht, wie das geht – bei sich sein. Für sich verantwortlich sein. Negative Gefühle okay finden, aushalten, bewältigen.
Gefühlsabwehr ist die unwürdige, aber am meisten verbreitete Ersatzstrategie. Panisches Wegschieben jedes Unwohlfühlens und schwerpunktmäßige Übertünchung der dunklen Farbe. Etwa mit rosaroter Feelgood-Ablenkung: Wellness, Alkohol, Serien und Schoki. Oder mit Aggression, Frustration, Schuldzuweisung, Drama, Rache. Oder Rückzug, Schlaf, Depri oder Selbstmitleid.
Die dunkle Farbe kommt aber wieder durch. Die Mauer an unbewältigtem Gefühl wird immer dünkler.

Dem modernen Imperativ der Masse nachzugeben, etwas zu erleben, den Tag zu nutzen oder auch etwas zu leisten, ist eine artverwandte und gern genommene Ausweichroute an Gefühlen vorbei – aber selten gleichbedeutend mit “mir selbst gut tun”. Man nimmt damit nur das enthaltene, verführerische Angebot an: “Solange ich das mache, muss ich nicht dort hinschauen, wo es wehtut”. Und: “Wenn ich fertig bin, ist es vielleicht weg.”

ES ist nie weg. ES löst sich nicht einfach auf. Es zieht in die Mauer ein, lässt darin die dunklen Stellen weiter anwachsen, und beeinträchtigt so allmählich die Stabilität. Bis die Mauer kollabiert.

Viele haben Panik vor schwierigen Gefühlen oder finden’s gar gefährlich, etwas zu spüren, weil sie meinen, dass ihr Verstand dann die Kontrolle verlieren könnte. Sie müssen das Gefühl umgehend verscheuchen, irgendwie agieren, andere mit hineinziehen oder auf sie projizieren – Hauptsache ganz schnell wieder super fühlen, zurück zur gesellschaftlich oktroyierten Default-Einstellung “Happy”, ohne Rücksicht auf Verluste. Und sie empfehlen dieses Vorgehen auch anderen, wollen mit deren Gefühlen nicht in Berührung kommen, weil sie dabei erst recht wieder ihre eigenen spüren müssten.

Dabei geht im “besten” Fall nur die Verbindung zu sich selbst flöten, im schlechtesten geht auch im Außen viel kaputt. Weil wir auch nicht mit-fühlen können, wenn wir uns selbst nicht spüren.

Auch „Mein Geist ist stets Herr über meine Emotionen“ ist ein nachvollziehbarer Wunsch, aber eben nur Wunschdenken. Je weniger Verbindung zum eigenen Gefühl, desto weniger bewusst sind uns die Auslöser des eigenen Handelns. Dabei entsteht leicht die Illusion, alles unter Kontrolle zu haben. Eine Zeit lang. Und währenddessen suchen wir weiter im Außen, woran es uns innen mangelt: Verständnis. Verbindung. Bedingungslosigkeit. Resonanz.

Es ist aber nicht die Aufgabe der anderen, unsere Gefühle für uns zu bewältigen oder jedes unreflektiert ausagierte Gefühl bedingungslos zu akzeptieren. Wer das glaubt, hat Liebe missverstanden.

Manche finden wohl auch, man wäre leichter manipulierbar, wenn man “zu viel spürt”. Doch die wahre Gefahr ist es, sich nicht zu spüren. Seine Empfindungen nicht zu kennen. Die klare Verbindung zu sich selbst, den Kontakt zu seinen Gefühlen nicht zu haben. Denn sie warnen vor Manipulation.

Etwas zu spüren ist noch keine Handlung. Es ist erstmal nur ein Gefühl. Eine Wahrnehmung, die unsere anderen komplettiert. Warum sollte man freiwillig auf einen Teil seiner Wahrnehmung verzichten? Wir verleugnen ja auch nicht unsere Nase, nur weil sie nicht immer nur Blütenduft meldet. Beide liefern uns wichtige Informationen darüber, was okay ist und was toxisch sein könnte.

Gefühle arbeiten auch mit kritischem Denken sehr gut Hand in Hand – und nicht etwa dagegen. Der Verstand darf dann im notwendigen Bias-Check die Gefühle auf Wahrnehmungsfehler abklopfen.

Wer hingegen gewohnheitsmäßig jedes ungute Gefühl sofort wegschiebt, tut sich auch schwer wahrzunehmen, wenn etwas nicht stimmt.

Auch Mitgefühl zu haben und zu zeigen ist nicht gleich Mit-Leid, und schon gar nicht (unverdiente, erschlichene) Zuwendung. Es ist nicht nötig, sich zu jeder Angelegenheit oder zu jedem Menschen und seiner Situation rigoros auf Schwarz oder Weiß zu positionieren. Man kann Nuancen von Grau und Bunt wahrnehmen dürfen, und bei jemandem sein, der etwas Schwieriges spürt, und dennoch bei sich selbst bleiben.

Gewohnheitsmäßige Gefühlsabwehr ist auch deshalb gefährlich, weil Verdrängung nicht ewig funktioniert. Wir laufen doch vor Gefühlen weg, weil wir spüren, wie stark ihre Energien sind. Und wir wissen genau, dass unterdrückte Energien sich immer ihren Weg bahnen werden – je stärker und je länger unterdrückt, umso heftiger. Letztlich bekommt man alles auf einmal zu spüren, seelisch und auch als körperliche Manifestationen – dann aber schwerer bewältigbar.
Oder gar nicht.

Wer sich selbst aushält, für sich verantwortlich ist und mit sich verbunden bleibt, kann sich auch mit anderen verbinden, dauerhaft, beiderseits zuträglich, fair und ohne Zuweisung unangemessener Verantwortlichkeit oder Schuld für schwierige Gefühle.
Und das ist es doch, was unser Leben mit Sinn erfüllt, und was die meisten von uns ihr Leben lang suchen, erhoffen und ersehnen – eine echte, wunderbare, tiefe Verbindung zu anderen Menschen.

Um für andere aushaltbar zu sein, darf man seine Gefühle nicht ausschließen. Ja, es erfordert großen Mut, sich ihnen zu stellen, bei ihnen zu bleiben und sie zu bewältigen. Auch das wissen alle, denn sonst würden nicht so viele davor wegrennen.
Ironisch ist, dass sich dennoch hartnäckig der Irrglaube hält, Gefühle zu haben wäre gleichbedeutend mit Schwäche. Etwas, das so großen Mut erfordert, kann gar keine Schwäche sein.

Man kann so eine Bewältigung mit sich allein machen oder mit professioneller Begleitung. Letzteres ist vor allem ratsam, wenn man dazu neigt, von schwierigen Gefühlen überwältigt zu werden, oder auch Gefühle im Verstand zu analysieren statt sie zu spüren, und das für Bewältigung zu halten.
Damit ist nicht gemeint, dass Analysen wertlos wären. Man kann auch dabei etwas lernen. Aber rationale Gefühlsanalysen sind keine wahrgenommenen Gefühle. Es ist nur eine weitere Art, seinen Gefühlen auszuweichen.

Auch um es zu erlernen und dabeizubleiben, kann Begleitung helfen. Mitgefühl zu bekommen ist natürlich wichtig, Trost von außen heilsam und manchmal in akuten Situationen auch unersetzlich. Letztlich ist aber das Ziel, sich auch selbst diese Begleitung zu werden und sein zu können.

Wichtig ist: Machen! Spüren. Mit sich verbunden sein.
Entspannter sein. Grenzen neu setzen. Besser leben. :)
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~ Für J. und alle, die es gerade brauchen können.
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~ Siehe dazu auch meinen nächsten Eintrag “Resonanz” – mit Podcast-Empfehlung!
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~ Oder auch meinen Artikel darüber, Was das Patriarchat mit den Männern macht.

Artikel

Männer, die Lächeln einfordern, haben mich radikalisiert

Man sieht so aus, wie man eben aussieht. Man schaut in einer Situation so drein, wie man eben dreinschaut. Mit dem Gesicht, das einem von der Natur gegeben wurde, und das sich im Lauf der Zeit so verändert hat, wie ein Gesicht das eben tut, wenn man lebt. Mit welchem Gesicht sollte man auch sonst dreinschauen? Ein Recht, das man allen Menschen durchaus zugestehen kann, ohne daran zu sterben.

Sollte man meinen. Hätten da nicht gewisse Menschen folgenden Anspruch:
“Frauen haben schön auszuschauen, und falls deren Gesichtsausdruck oder Erscheinungsbild nicht zu meiner vollsten Zufriedenheit ausfällt, dann ist es mein Recht, sie vor allen anderen laut aufzufordern, mein Anrecht auf Erfreuung meines Auges zu erfüllen.”

Wer diese Frauen sind – wuascht. Was sie gerade tun – wuascht. Wie sie sich gerade fühlen – wuascht.

Es wird nicht bemerkt, wie hirnverbrannt absurd das ist. Bis man es erzählt. Bis man es aufschreibt. Da wirds konkreter und isolierter, als Geschehnis, das ausgelöst wird vom Anspruch irgendeines Mannes.

Im Kontext des Geschehens fällts offenbar kaum jemandem auf:
Zufälliger männlicher Partygast, der gerade seinen Welcome-Cocktail genießt, zu meiner Freundin, die gerade wochenlang die perfekte Organisation ebendieser Party gestemmt hat:

“Kannst mal ein bissl freundlicher dreinschauen?”

(Und die Männer rundherum so: “…”)

Er richtet diesen Anspruch für alle deutlich vernehmbar…
– nicht vielleicht an seine “eigene” Frau (obwohl: ~~~ Einspruch Euer Ehren)
– sondern an irgendeine Frau, die Frau des Jubilars, die Frau “eines anderen”, die Frau des Abends (~~~ detto)
– somit im Grunde an jede beliebige Frau, die es wagt, in seinem Blickfeld nicht seinen persönlichen Vorstellungen zu entsprechen.

Anspruch. An andere Menschen. An alle anderen Menschen, evtl nur an Frauen. Einfach so.

Wirklich? Es wird von frau also erwartet, gefälligst nicht ihr angestammtes Gesicht offen zur Schau zu stellen und damit einfach herumzurennen, wie es ihr beliebt, sondern sich unter Beobachtung dauerhaft zu verstellen, sodass ihr natürliches Äußeres für ihn, ihr Publikum, nicht gar so eine Zumutung darstellt? Und dieses “Anrecht” wird offenbar als so selbstverständlich empfunden, dass man es jederzeit einfordern kann? Qua Penis oder wie?

Na Oida, gehts noch?? Ernsthaft, Menners: Was. stimmt. nicht. mit. euch?
Ist das womöglich dieses “Humorvoll”, das dann in Kontaktanzeigen von Frischgeschiedenen steht?

Wie oft fordern Frauen eigentlich die gefällige Aufhübschung der Umgebung durch den freundlichen Gesichtsausdruck eines zufällig im Blickfeld befindlichen Mannes? Welche Frau auf einer Party sagt zu irgendeinem Mann, mit dem sie nichts zu schaffen hat, er soll mal ein bissl lächeln? Oder gfälligst den Bauch einziehen? Oder sich mal rasieren? Oder die Spucke aus seinen Mundwinkeln entfernen?

Aufgepasst, vom Anspruchsdenken gebeutelte Leuts:
‣ Andere Menschen, egal welchen Geschlechts, sind nicht dazu da, euch die Umgebung zu verschönern.
‣ Ihr seid auch selbst nicht immer ein Ausbund an optischer Lieblichkeit. Wie oft werdet ihr mit dieser Tatsache offen konfrontiert? Ah eh nie? Und, is das eh gut so?
‣ Wenn ihr nicht damit zurechtkommt, wie jemand dreinschaut – dann dreht doch euren Kopf weg und schaut woanders hin! Ihr seid doch alle so gscheit, und da kommt ihr nicht auf die einfachste Lösung der Welt?

Und warum ist das so? Weil ihr euch gar nicht an der Optik selbst stört. Ihr stört euch an dem vermeintlichen Angriff, den diese Optik auf eure Ansprüche darstellt.
“Die anderen haben dafür zu sorgen, dass mein Auge erfreut bleibt”? Wirklich?
Think again. AND AGAIN.
Anspruch weg, Eigenverantwortung her. Zu schwierig?

Wie kann es eigentlich sein, dass ausgerechnet solche Männer sich zuverlässig für die Krone der Schöpfung, für das starke Geschlecht, für die bessere Menschversion halten? Wie kann man sich so benehmen und sich gleichzeitig dem anderen Geschlecht überlegen fühlen? Ist da irgendwer zu Hause innerlich?

~~~ Mein Einspruch von oben: Macht es einen Unterschied, dass die Frau in der konkreten Situation wochenlang die liebevollste und perfekteste Party-Organisation hingelegt hatte, die man sich vorstellen kann, und natürlich auch zu diesem Zeitpunkt sehr beschäftigt war – Gäste begrüßen, zum Geschenketisch weisen, andere Helfer in Abläufe einweihen, Zeug von A nach B tragen – als der Fritze schon entspannt seinen Cocktail schlürfte?
Oder macht es einen Unterschied, dass es nicht “seine” Frau war, zu der er das gesagt hat, sondern die “eines anderen”?

Höchstens machts das noch ein bisschen absurder, falls überhaupt noch möglich.
Das Überraschende ist nämlich: Sie hat nicht nur dann das Recht, so dreinzuschauen, wie sie eben dreinschaut, wenn sie vorher oder währenddessen etwas Großartiges leistet, oder wenn sie die Frau von jemand anderem ist. Sie hat dieses Recht immer.

Da steht man nun als (sehr unfreiwillige) Beobachterin. Und was sagt man dann auf sowas?
? “Es ist nicht ihre Aufgabe, deine Umgebung zu verschönern, toxischer Lurch.”
? “Wenn sie Gesichter machen könnt, hättest du schon längst ein anderes.”
? “Schau doch erstmal selbst ein bissl schöner aus, zufälliger Mann ohne Stil und Hirn, und zieh den Bauch ein bissl ein, heast.”
? “Ansprüche auf Äußerlichkeiten? Und deine inneren Werte so? Renovierungsbedürftig?”
? “Deine Mama hat sicher öfter freundlich geschaut, aber du warst eben vielleicht mit 4 noch süß genug.”

Wer wäre da wohl am Ende als jener Gast markiert worden, der schon in den ersten 5 Minuten “die Stimmung verdorben” hat, der “den heiligen Status Quo in Frage stellt” und natürlich “keinen Spaß versteht”? Hm. Womöglich ich. Frau hat sich eben auch im weiteren Verlauf zu verstellen, um die “Schönheit” der “Situation” nicht zu “zerstören”.

Hübsch bleiben, Goschn halten. Im Jahr 2019 im echten Leben maximal erlaubt ist eine (gutmütige!) Rechtfertigung:
“Ich schaue nicht unfreundlich, sondern konzentriert.”
Wir danken für diese Aufklärung – die nicht nötig gewesen wäre, wenn nicht jemand dem wirren Impuls nachgegeben hätte, seine Ansprüche herauszukrähen.

Wir Frauen sollen also nicht nur den random-männlichen Anspruch an unser eigenes Aussehen auf Zuruf erfüllen? Wir sollen auch noch die absurde Kritik an diesem Aussehen und dem unserer Mitfrauen widerspruchslos hinnehmen? Höflich genug bleiben, um euch nicht zu sagen, dass es eure gschissenen Anspruchsäußerungen sind, die hier die Umgebung verpesten?

Dazu ein so klares NEIN, dass es noch in 2032 widerhallt. Ihr könnts alle mal scheißen gehen, wenns nach mir geht.

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Nachsatz:
Ja, ich weiß, dass es für das Phänomen der normal dreinschauenden Frau sogar einen abwertenden englischen Dreibuchstaber gibt. Ich mache den hier nicht weiter populär, mit Absicht. Wer ihn drunterkommentiert, fliegt raus.

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Fusion durch die Mitte

Du sitzt irgendwo und tust irgendwas. Ich frage: ja, aber nein. Fehlen spürst du, doch wohl nicht dieselbe Sehnsucht, die aus Blei, die keinen Moment Aufschub mehr erträgt. Sonst wärst du längst hier. Aber endlose Momente kommen nach. Frage wieder: theoretisch ja, aber dann doch nicht, leider.

Ein Teil von etwas Besonderem sein! Nicht der besonderste Teil darin, der mit dem wichtigeren Ziel, der mehr Rücksicht braucht. Der auf ein Sorry wartet, das er selbst nicht kann, und mir Verzeihung mit einem Immer verspricht, das nie halten kann. Der xmal Nein sagen dürfen muss, um eines von mir zu respektieren. Schon zu Beginn, leere Kilometer als Anklage gegen mein Nein. Und am Ende, zum alten Plan mein Nein – ab in die Tonne damit, und mit mir auch gleich. Spiel die dir zugedachte Rolle no matter what oder hau doch ab, mir egal, dass du Geburtstag hast.

Und dann stirbt einer, und der war vielleicht verdammt unglücklich, so wenig Zeit, nur noch ein Jahr, im Vergleich. Ich will dich anschreien, so wenig Zeit! Für all das Geld gibst du deine Zeit, kriegst du keine Zeit zurück. Kannst sie nicht nachholen. Kriegst dafür auch keine, die dich liebt. Oder die du lieben kannst. Nicht zurückholen! Nicht gutmachen! Nur weitermachen. Zeit zurückkaufen, mit feinem Lebensstil als Blendwerk und Illusion. Spielzeug, originalverpackt, nicht für uns, für mich, “Spiel du doch und leb mein Leben, vertretungsweise!” Behalten, was du nicht brauchst, aus Zeitmangel. Dafür wegwerfen, was du vielleicht doch gebraucht hättest… gegen alle Behauptungen. Doch wofür keine Kapazitäten übrigbleiben, das kann auch nicht wichtig sein.

Kein Schlaf, keine Nahrung, und dann zu viel, ungeregeltes Alles, schwindeliger Ruhepol, rastlos am Sprung. Der Kraft hinterherhecheln und auf Stabilität warten. Den Kopf nie richtig freikriegen, bei aller Flucht in Flow, Schlaf, Wichtigkeiten. Hochgestimmt, wenn was klappt, und wenn nicht, am Boden. Liegt alles nur an der schwachen Seele? Andersrum, weil die Seele deinen Körper braucht, und dein Körper deine Zuwendung. Jetzt, verlässlich, regelmäßig, nicht später. Kannst auch Zuwendung nicht nachholen, auch nicht mit zehnmal-so-lang.

Ein neues Ziel, Beweis für Existenz? Statt zu leben, was du hast. Meine beschwörende Stimme gegen die Jagd nach anderen. Will es in dein Ohr brüllen! Hab Angst, du wirst wieder umfallen, aber nicht wieder aufstehen! Die war da, von Anfang an. Werde dich geliebt haben, und es wird umsonst gewesen sein, eine weitere leere Ecke im Keller meines Herzens, die nie wieder von Präsenz erfüllt wird, ein Karton materieller Erinnerung, unter Staub und Spinnweben in fahlem Mondlicht, Buch, Stofftier, Napf. Es spielt keine Rolle. Und ist doch das einzige, was zählt.

Ich wünschte, du tätest das alles nicht. Nicht so besinnungslos. Würdest selbst bremsen, bevor es dich bremst.
Eine, der du glaubst – was sie sieht. Was sie tut. Was sie sagt. Die gute Absicht. Das wär ich gern gewesen. Mit mir zu Bett statt schnell nochmal weg.

Irgendwas killt dich immer. Mein Anspruch, mein Fehlen, klar. Die eigenen Ansprüche in Camouflage aus dem Hinterhalt, unsichtbar. Oder noch mehr erreichen wollen. Mehr, wichtiger, als meine sinnlose Liebe.

Dafür etwas aufzugeben, als stolze Tat, die den Worten folgt, verantwortlich, nicht chronologisch verdreht als Pfand mit Dankbarkeitsanspruch. Nachfragen, hinhören, verstehen wollen, neu Maß nehmen… Zeit nehmen, bedingungslos. Wars nicht wert. Aber Bedingungsloses erwarten. Was hätte ich dafür noch aufgeben sollen. Zeit mit dir?

Man soll immer dreimal fragen: nein, leider. Lasse dich also hier zurück, gebe dich auf, wie du mich aufgegeben hast. Keine Worte gefunden, die klar genug wären, was diese Zeit ist, für die du kein Gefühl hast. Das kann nur die Zeit. Und dann ist es zu spät.

In meinem Traum sind wir zusammen. Weil Liebe mehr zählt als alles andere, in meinem Traum. Alt ist er geworden. Liebe besiegt nicht alles. Nicht, wenn sie auf halbem Weg verreckt. Es war wohl nie wirklich wahr, die Illusion kann weg, die Hoffnung auch. Stolz und Vorurteil sind mächtiger. Und jetzt? Die Brücke aus “Ich liebe dich” kracht zusammen unter dem Druck von “Ich kann nicht”.

Aber ich schreie nicht, sinke auch nicht weinend an deine Schulter. Du sitzt irgendwo und tust irgendwas.

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Hope I die before I get old

Spätsommer 1989, Konzert im Schlosspark, und ich war sofort verknallt. Der Sänger, der Mod mit den langen dunklen Haaren und den Mandelaugen, Chelsea Boots an den Füßen, schlank und groß. Und diese Stimme! Nine-two-seven-eight-zero, she said to call her at home, I’ve tried that number a hundred times, but nobody answered the phone.

Liebe auf den ersten Blick. Immer in Parka oder Harrington-Jacke, die mit dem Schottenmuster innen, schwarze, enge Hosen. Den Spitznamen von einem Kicker ausm ehemaligen Jugoslawien, der angeblich genauso aussah. In der Taverne am Abend, vor und nach den Proben. Vespa, Antn, “Bahnhof Zoo” für dich mehr Reiz als Schreck. Im Tonstudio für einen Bewerbungssong zum Songcontest.

Musik, das war unser gemeinsames Ding. Von jenseits meiner Linie hast du sie mir nähergebracht – oder reingedrückt, haha. Kratziger, unmelodischer, rauher und härter als meine Gewohnheiten, moddiger R&B, Beat und Punk, Soul, Reggae, Hard Rock und Metal.
Allen voran natürlich The Who – Quadrophenia, Tommy, und auch alle anderen Platten.
The Jam und Paul Weller – In a momentary lapse of my condition…
The Clash, Curtis Mayfield, Isaac Hayes, Gil Scott Heron – The revolution will not make you look five pounds thinner!
Peter Tosh und Alpha Blondy – Only the strong survive they say, weak heart dies in misery.
Purple und Whitesnake, Maiden, Judas Priest, Black Sabbath.
Ich denk jedes Mal an dich, wenn ich einen der Songs von damals höre.

Viel Gelächter und viel Unsinn, Schall und Rauch, viel gemeinsames Musikmachen, zu zweit und mit anderen, “Brainless”, später “Tea for two”. Oder einfach Gitarre und zwei Stimmen. His latest flame und Guitar Man und noch viel mehr von Elvis, sommerliches Schrummen allerlei alter Schnulzen in der Sitzgrube. Später auch Karaoke beim Rührig – der Travelin’ man, ewig dein Song. Bei Almost Paradise bist du seither ungeschlagen, keiner sonst ~dasingt diese Höhe. Und die zweiten Stimmen kann sowieso niemand. Up where we belong und natürlich Islands in the stream, unser Paradesong.

Mittwochs war gnadenlos Fußball angesetzt, mit deinem Onkel. Schauen, nicht spielen. Nicht so richtig mein Abend, bevor der verkündet: “I geh mi jetza ham brausn”. Darüber lachen wir jedesmal.

Ein neues, großes, schwarzes Bett unsere Wohnlandschaft, ganze Tage, oft nur unterbrochen von der Oma, die zum Blumengießen reinschlurft, in den Converse, die du ihr geschenkt hast, weil die so bequem ausschauen.
Du mit einem Stofftier-Entchen im Arm, breit grinsend. Mit Kartoffelchips in der Hand, und du lachst und spuckst: “Die ganze Pappm muass voi sein!” Dein “Gsundheit, Maus!” nach meinem Niesen hab ich heute noch im Ohr. Es ist und bleibt an Zärtlichkeit wohl unerreicht.

Deine Zähne, ein ewiges Gfrett, so viel Angst vorm Zahnarzt, schon als Kind, “beim Stiedl hat er scho gread”, das Gasthaus auf dem Weg zum Zahnarzt, keine 20m vom Elternhaus, deine Mutter erzählt das oft und gern. Jahre später dann alle Zähne neu in Narkose, armselig warst du, als wir dich abgeholt haben, noch halb weggetreten, mit deinem geschwollenem Mund und den aufgerissenen Mundwinkeln, so haben wir dich zum Auto geschleift.

“I hoss Bauern”, wenn vor uns auf der Bundesstraße ein Traktor war. “I hoss Piefke”, wenn im TV irgendeiner was piefkonisch ausgesprochen hat, sowas wie “Ferd” statt “Pferd” oder “Colgaahte” oder alles, was Österreicher halt sonst noch aufregen kann. Ernst gemeint bei dir immer nur höchstens zu 80%.

Viel größer warst du als ich, eine liebe Not, Zehenspitzen, Kniefälle, der Tanzkurs im Wirtshaus – beide zu dünn für Bauchkontakt beim Walzer, du zu groß, ich zu klein, unsere Schuhe einander im Weg. Der Beschluss: Entweder wir bleiben zusammen, oder wir tanzen – beides geht nicht. A echter Sänger tanzt net.

Oft bist du versumpert, beim Andi oder sonstwo, statt wie versprochen in 15 Minuten bei mir zu sein. Und warst danach gleich tagelang verschollen, wegen dem schlechten Gewissen. Du und dein Ausweichen und Vermeiden, und ich sah dich im Straßengraben liegen. Es gab noch keine Handys für eine SMS.
Nach einer sehr heftigen Nacht, damals irgendwann, hast du im Auto vorm Haus gesessen – mit einem Mopedhelm auf dem Kopf, selig schlummernd. Wurdest gefunden, geweckt, kopfschüttelnd zum Schlafen reingeschickt.

Die Todesanzeige, dachte ich spontan, als ich sie sah, die würd ich gern in unsere Vergangenheit schicken und sie dir zeigen. Die Daten. Hätte vielleicht deine Augen geöffnet und uns manche Diskussion zum Lebenswandel erspart. Unerwartet, plötzlich. Zu früh.

Schließlich Trennung, herzbrechend, es war Wahnsinn, es war furchtbar. Vielleicht hätte ich bleiben sollen. Aber zu zäh, zu viel Substanz, zu wenig Perspektive. Breaking up is hard to do.

Die Musik und die Freundschaft blieb uns aber. Auch die zu meiner Lieblings-Schwiegermutter, die einzige jemals, die einen ihrer Kuchen auf “Susykuchen” umgetauft hat und ihn heute noch so nennt.

An deiner Seite später die fesche kleine Rothaarige mit den Martens. Der fesche Rothaarige an meiner. Meinen feschen roten Audi hast du allerdings beim Abbiegen geschrottet, du hast zum Glück nicht viel abgekriegt.

Dann dein oranger Opel, die Mittelkonsole irgendwann mal halb gefüllt mit Cola aus einem maroden McD-Becher, eine Musikkassette schwamm drin. Das war typisch du. Die Backstreet Boys in voller Lautstärke, es warad wengan Chor, so perfekt geschrieben und produziert, meintest du. Stimmen verteilt und mitgegrölt auf den gemeinsamen Fahrten zur Bandprobe. Sometimes I wish I could turn back time, impossible as it may seem.

Gemeinsam bei “Höhenflug” zu zweit gesungen, bis zum Abbruch deiner Zelte. Sechs Uhr zehn. Ohne mich. Die Kobolde. Am Wendepunkt. Arbeiten an Chören, Texte schreiben und die lernen, die andere geschrieben haben. Viel blödeln. Ein erster Gig, ein zweiter. Bei einem kündigst du auf der Bühne Leben auf Rädern an, den Song von Pe Werner über die Rolli-Fahrer, leicht lallend mit den Worten: “Wir spielen jetzt einen Song fürääh unserääh… gefiederten Freunde!”, so peinlich, und wir brechen nieder vor Lachen.

Mit dir singen, wow. Mit dir singen war das beste. Einander in- und auswendig kennen, genau wissen, was als nächstes kommt, wo’s gleich hingeht, dich vorausahnen und meine zweite Stimme deinem Verlauf anpassen. Und umgekehrt. Das war der gemeinsame Tanz, den wir beherrscht haben. Gutes und schreckliches Zeug aufgenommen, irgendwo liegen Kassetten aus den 90ern. Viele Jahre Übung, die sich nie wie Übung anfühlen. Das reinste Vergnügen, ausnahmslos.

Eine Frau aus DE in einem Online-Chat. Du warst verliebt. Ein letztes Höhenflug-Konzert in Angern, da war sie dann da und saß vor der Bühne, neben meinem zukünftigen Mann – und dann zack, Umzug nach DE, weg warst du. Wurdest selber zum Piefke. Sogar dein alter Dialekt bekam eine neue Piefke-Färbung mit der Zeit.

Ein paar Besuche, ein paar Mails. Die Samtstimme war schon bald verklungen. Zwei Kinder später hatten wir kaum noch Kontakt, nur deine Mutter hat mir noch berichtet, was es Neues gibt.

Du warst immer tendenziell patschert, aber lucky, irgendwie so ein Pechvogel-Typ mit Glück im Unglück. Diesmal nicht. Diesmal ist was schiefgegangen, luck’s end. Ich hoffe, du bist glücklich eingeschlafen.

Mir tuts leid um dich. Du hast mir lange gefehlt, die gemeinsame Musik hat mir gefehlt, deine Stimme, deine Art, dein Schmäh und dein Lachen. Man lebt wohl das, was man will, sonst hätte man es nicht so, oder würde strampeln, um was zu ändern. Die Lücke in mir hat schon dein Wegziehen hinterlassen, und die verändert sich für mich vielleicht nichtmal groß, jetzt, wo du tot bist. Aber zu wissen, sie wird nie wieder gefüllt werden, auch nicht kurz auf Besuch für ein, zwei Tage, auch nicht in einem Mail, das tut verdammt weh.

Ich hatte dich immer sehr lieb, und ich werd dich für immer liebhaben. Lach mit den Engeln – und sing viel mit ihnen, bitte! Ich bin sicher, das macht denen genauso viel Freude, wie es mir immer gemacht hat. Flieg frei, gefiederter Freund.

Unser letzter Song bei Höhenflug war immer der hier von Purple Schulz:

Immer nur leben, nur leben
Sich dem Augenblick ergeben
Jeder Tag so als ob’s der letzte wär
wie die Falken frei am Himmel
wie Delphine frei im Meer

Immer nur leben, nur leben
Keinen einzigen Tag vergeben
Alles genießen, jeden Atemzug
Und ganz genau zu wissen:
es ist noch lange nicht genug.

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Süße Ernte

Gedacht sei ein exquisiter Mango-Club, der keinen finanziellen Beitrag verlangt, sondern einen persönlichen. Weil dieser Club nur dann funktioniert, wenn alle ihren Anteil leisten: Baumpflege, Gießen, Unwetterfolgen beseitigen, Schädlinge bekämpfen, Ernte, Schutz vor Frost.

Die Mangos sind mit Abstand die besten im Lande. Und sie sind nicht käuflich, sie werden nur unter den Mitgliedern verteilt.

Du willst unbedingt dort Mitglied sein, kannst aber diesen persönlichen Beitrag nicht oder zu wenig leisten. Weil man dich sehr mag, ruft man dich oft an, schreibt dir, lädt dich ein, und fordert dich schließlich zur Mithilfe auf. Du versprichst, in Zukunft deinen Beitrag zu erbringen, aber bei den nächsten paar Gelegenheiten hilfst du jedesmal ein bisschen weniger dort mit und schließlich gar nicht mehr.

Wenn du dann kommst und “deinen Anteil” an Mangos abholen willst und dort argumentierst, dass du ja auch einen Job zu machen hast, einen anderen Verein und eine Ehe zu führen, und dass man das ja auch verstehen muss, dann wird man dir dort sagen:

“Es sind deine Entscheidungen, die zu deinen Umständen führen. Dafür, wie du deine anderen Verpflichtungen verteilst, liegt weder die Verantwortung noch die Entscheidung bei uns. Deine Prioritäten musst du selber setzen. Wenn du dabei sein willst, dann gibt es dafür Regeln: Es muss dir wichtig genug sein, damit du den Beitrag hier auch leisten kannst und willst. Nur dann kannst nur deinen gesamten Anteil an Früchten mitnehmen. Die Pflege der Bäume aber ist keine Regel – sie ist eine Notwendigkeit.”

Würdest du dem Club vorwerfen, das wäre unfair, und er hätte dir alle Mangos geben müssen? Oder ihm vorhalten, du hättest soeben deine Ehe für ihn aufgegeben, und er hätte dir doch daher aus Dankbarkeit Mangos anbieten müssen?
Wohl nicht. Das wäre ein absurder Anspruch.

All das würde wohl erst recht gelten, wenn der gedachte Verein nur aus zwei Leuten bestünde.
Wenn dir die Arbeit an Mangobäumen, die Bedingung für eine gute Ernte ist, gar keine Freude macht, dann solltest du deinen Wunsch nach der Mitgliedschaft in diesem exquisiten Club hinterfragen.