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Gesundheitsvorherrschaft: Aspekte (2): Kinder

Hier ein weiterer Aspekt der Vorherrschaft der Gesunden, der selbsterklärten “Starken” und ihrer latenten Feindlichkeit gegenüber den angeblich Schwächeren: Kinder sind verletzbar.

Kinder können sich nicht wehren

In einer Begegnung zwischen zwei gleichberechtigten Menschen müssen 50% des Infektionsschutzes von jedem Beteiligten kommen. Niemand kann sich da ebenso gut ausschließlich “selber schützen”.
Doch Kinder können das am allerwenigsten. Sie sind völlig davon abhängig, was ihre Eltern, Großeltern und ihre Lehrer und Lehrerinnen denken und für richtig und wahr halten. Sie sind durch die Schulpflicht gezwungen, sich täglich mit vielen anderen Menschen in geschlossenen Räumen aufzuhalten. Und sie sind noch viel stärker dem familiären Druck und dem Gruppendruck ausgesetzt, als man das als Erwachsener ist, sofern man eine gewisse mentale Unabhängigkeit erreicht hat.

Der Staat müsste demnach besonderes Augenmerk auf den Schutz von Kindern legen.
Es macht mich fassungslos, dass das Gegenteil der Fall ist:
Die Absonderungspflicht für Infizierte aufzuheben, wie dies in Österreich ab 1. August 2022 vom Gesundheitsministerium verordnet wurde… Und jetzt der Plan, die Unterrichtenden, “wenn sie sich gesund fühlen” *, auch infiziert zum Unterricht zuzulassen (wenn diese das “für sich(!) verantworten können und wollen”, mit Maske natürlich) – Kinder mit einem Virus zu durchseuchen, der die Gefäße schädigen kann, die Organe, das Gehirn und Nervensystem und das Immunsystem, der für Folgeerkrankungen sorgt, und das alles mit noch unbekannten Folgen für die Zukunft der Menschheit – das ist das Unvorsichtigste und Verantwortungsloseste, was man diesem Land seit 1945 verordnet hat.

  • Wenn alle, die “sich gesund fühlen”, auch nicht ansteckend wären, hätten wir diese Pandemie wohl gar nicht. Das weiß unsere Regierung, oder?

Die Zitate im obigen Absatz stammen von Österreichs Wissenschafts-(!) und Bildungsminister Martin Polaschek. Als es um die Absage der Rektorenchefin Seidler ging, infizierte Vortragende auch an die Unis zu lassen, hat Polaschek diesen Beweggrund auch unumwunden in einer Pressekonferenz rausgehauen:
“Die Universitäten tun sich leichter, weil ja die Schulen auch die Funktion haben, dass ja die Kinder in der Schule sind, und damit die Eltern ja auch davon entlastet(!) sind, auf die Kinder zuhause schauen zu müssen.”
[Im Video-Link ab Minute 24:18]

Die Belastung eines angesteckten und erkrankten Kindes möchte der Herr Minister dann aber schon gern den Eltern überlassen, richtig? Die Belastung durch eine darauffolgende eigene Ansteckung der Eltern oder eines anderen Familienmitglieds sicherlich auch.

Auf die Journalisten-Frage, ob man sein Kind wenigstens problemlos daheimlassen kann, wenn man nicht will, dass es von Unterrichtenden angesteckt wird, meint Polaschek, er wolle, dass wir zu “einer Art Normalität” zurückfinden.

Es soll also künftig normal sein, dass eine infizierte Lehrkraft in der Klasse vor den Kindern steht? Und dass Eltern nichts weiter zum Schutz ihres Kindes und ihrer Familie tun können, als diese Situation als “eine Art Normalität” zu akzeptieren, weil unser Gesundheitsminister diese will?

Normal ist, dass man sich einer neuen Situation anpasst, um sie möglichst unbeschadet zu überstehen. An diese Anpassungen gewöhnt man sich dann, und zack – normal! Das ist “mit der Situation umgehen”.
Es ist normal, dass man das Wohl der Gemeinschaft über die eigene Bequemlichkeit stellt. Wenn das einzelnen Individuen nicht eingeht, hilft idealerweise eine verantwortungsvolle Regierung dabei, indem sie dazu Bestimmungen verordnet, in denen sie weitsichtige Vernunft und Vorsicht walten lässt. Auch und gerade für die, die zu wenig oder falsch informiert sind. Auch und gerade für Kinder!
Das ist die Normalität, die wir wirklich brauchen: Ein reifer und weitblickender Umgang mit einer veränderten Situation. Nicht irgendein Umgang, Hauptsache es wirkt so “normal” wie früher(tm).

Niemand braucht eine Scheinnormalität, in der alle sich hinter ihren Händen verstecken und “Du siehst mich nicht!” rufen. So tun, als wäre alles wie vor der Pandemie, obwohl es das nicht ist und wohl auch nie mehr wird – was soll das bringen? Diese Scheinwirklichkeit prallt dann heftig gegen die echte Wirklichkeit all jener Menschen, die ihre Kinder, sich selbst und/oder ihr übriges menschliches Umfeld schützen müssen und denen das einfach verwehrt wird. Diese Menschen haben bereits zu viele Belastungen, als dass sie die von den Bequemen abgelehnte Verantwortung noch mitschultern könnten.
Eine Scheinnormalität, in der Kinder und andere schutzbedürftige Menschen diesen Schutz vor einer Infektion einfach nicht wert sind? Auf so eine können wir gut verzichten.
Und das ist nicht nur mein persönlicher Wunsch. Ich erinnere daran, dass Kinder Rechte haben, etwa Recht auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit und darauf, dass ihr Wohl bei Entscheidungen vorrangige Berücksichtigung findet.

Die österreichische Bundsregierung sieht das anders

Wie schwimmend Gesundheitsminister Rauch sich durch das Interview in der ZIB2 mit Martin Thür zum Thema Aufhebung der Absonderungspflicht bewegte, ist schon geradezu legendär. (zur Transkription)
Wir erinnern uns, dass er diese Verordnung unter Verzicht auf die Stellungnahmen der Länderrunde unterschrieben hat. (Dennoch behauptete BM Polaschek in der Pressekonferenz am 9. August, es wären dem Aus für die Quarantäne, “dieser Entscheidung” “intensive Besprechungen vorausgegangen”.)
Mit der Begründung seitens Rauch, dass es bei den Jugendlichen “Kollateralschäden” durch die Schutzmaßnahmen geben würde (was sich dann überraschenderweise gar nicht so richtig belegen ließ), war hier der wohl auch nur vorläufige Gipfel des Zynismus erreicht: Die Kinder zum viralen Abschuss freigeben und dieses Vorgehen auch noch mit dem Kindeswohl rechtfertigen wollen.

Der Jurist und Antikorruptions-Volksbegehren-Mitinitiator Oliver Scheiber hat in seinem Gastkommentar im Falter die beklemmende Dysfunktionalität in unserer Regierung und deren Verwaltung treffend zusammengefasst.

Kinder sind doch gesund?

Menschen mit instabiler Gesundheit, mit Autoimmunerkrankungen, mit Chemo oder Bestrahlung wegen Krebs, mit Diabetes, mit Immunschwäche, übergewichtige, ältere oder uralte Menschen oder auch Menschen mit einer psychischen Erkrankung oder mit Behinderung – vulgo “Vulnerable” – werden also von krankenfeindlichen Arroganzlern als eh nicht so wichtig für die Gesellschaft und irgendwie minderwertig erachtet, und das wird immer offensichtlicher.
Dagegen fallen Kinder in Österreich offenbar überhaupt unter “komplett wurscht”. Dabei sind doch Kinder meist gesund – noch, zumindest.

Viele Kinder haben aber auch mit eingeschränkter Gesundheit zu kämpfen. Die Familien dieser Kinder führen so ein Schattendasein seit Beginn der Pandemie, dass sich mittlerweile für sie der Begriff “Schattenfamilien” etabliert hat; ebenso wie für Familien mit einem stärker gefährdeten erwachsenen Familienmitglied, wie Tante mit Immunsuppression, Papa mit Diabetes oder schwangere Mama. Diese Familien konnten das alltägliche Leben vor lauter “sich selber schützen” auch schon vor den Verordnungen der neuen Wurschtigkeit nur noch schwer bewerkstelligen. Von einer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ganz zu schweigen.

Und kleinere Kinder können dieses “sich selber schützen” einfach aufgrund ihres Alters nicht umsetzen; noch weniger als gesundheitlich beeinträchtigte, aber zumindest erwachsene Menschen, die risikobewusst agieren können.

Kinder sind verletzlich

Wann immer also von diesen ominösen “Vulnerablen” die Rede ist, empfehle ich hiermit, auch jedesmal die Kinder mitzudenken. Denn sie können sich nicht im Geringsten wehren gegen alles, was auf der Welt aus Gründen der Gier, des Egoismus und der dummdreisten Selbstüberschätzung über ihre Köpfe hinweg beschlossen und unbekümmert an ihnen durchgezogen wird.

Das Risiko für LongCovid besteht auch bei Kindern (11% laut Zwischenergebnis dieser Studie) und steigt wohl mit jeder Reinfektion. Wer glaubt, da würde einem nötigenfalls dann schon irgendwer irgendwie helfen, irrt. Die (wenigen) LongCovid-Ambulanzen sind so ausgebucht, dass man für einen Termin dort oft schon eine SARS-Cov-2-Infektion nachweisen können muss. Was man nicht kann, wenn man sich nicht mehr um einen PCR-Nachweis bemüht, weil jetzt eh alles wieder so normal und Omikron ja so mild wär. Nicht beirren lassen: Covid-19 ist lt. EpidemieG immer noch eine anzeigepflichtige Infektionskrankheit und muss daher gemeldet werden.
Wer das Leben mit einem LongCovid-Kind oder das (verpasste) Leben mit ME/CFS eher nicht ausprobieren sollte, sind ausgerechnet solche Leute, die finden, schon das Maskentragen wäre für Kinder eine “Strafe” oder “reine Schikane”.

Die ominösen “Vulnerablen”

Der Begriff “Vulnerable” für die unterschiedlichsten Menschen, die sich voraussichtlich nicht so gut gegen eine Infektion mit SARS-Cov-2 wehren können, ist ja auch ein Un-Wort. Es fasst diese Menschen, die Beeinträchtigungen ihres Lebens erleiden, Erkrankungen, Behandlungen, Schmerzen, Sorgen und Bedürfnisse haben, als gesichtslose, anonyme Masse unter einem lateinischen, massiv distanzierten Namen zusammen. Und wie wir aus politischen Framings wie “Flüchtlingswelle” wissen, wirkt sich das negativ auf das Mitgefühl für das Individuum aus. “The Unrelatables” oder “die Vernachlässigbaren” wäre für so eine Bedeutungsebene noch ehrlicher gewesen.
“Stärker gefährdete Menschen” wäre hingegen passender.

Menschen, die wiederholte Infektionen nicht unbeschadet überstehen werden, gilt jedoch mutmaßlich für alle:
Die Folgen der Infektionen akkumulieren sich. Die Risiken für neurologische Folgen nach einer Infektion bleiben über zwei Jahre lang erhöht (kognitive Defizite, Demenz, Psychotische Störungen, Epilepsie, Schlaganfälle); bei Kindern nur kürzer, aber ebenfalls signifikant. Das angeblich so “milde” Omikron macht dabei übrigens keine Ausnahmen.

Menschen mit erhöhtem Risiko sind da, sind Individuen mitten in der Gesellschaft, sind Kinder und Erwachsene. Und wir stemmen unser Leben genauso wie andere, gesündere Menschen, nur gegen weitaus mehr Widrigkeiten, mit mehr persönlichem, zeitlichem und finanziellem Aufwand, und das bei geringerem Energielevel, und seit der Pandemie mit noch mehr Vorsicht und Rückzug.
Viele von uns müssen genauso zur Schule, zur Uni, zur Arbeit, einkaufen und all die anderen Dinge machen, die jeder Mensch macht. Allerdings tun wir das mit dem Wissen ausgestattet, wie es ist, zB mit einer chronischen Erkrankung zu leben – und dabei oftmals ganz normal funktionieren zu müssen.
Wer davon keine Vorstellung hat, sollte sich auch keine realistische Einschätzung der Gefahr zutrauen.

Und dann gibt es ja noch andere Menschen mit erhöhtem Risiko – die wissen nichtmal was von ihrem Risiko.

Außerdem gibt es auch Lehrer und Lehrerinnen, die ein erhöhtes Risiko haben – was tun die, wenn von ihnen ihr Antanzen in einer Schule erwartet wird, wo infizierte Kollegenschaft und SuS rumrennen?

Vorsicht und Weitsicht

Solange unklar ist, wie die Folgeerscheinungen einer Infektion sicher verhindert werden können, müsste also jeder Mensch mit vernünftigem Geist hier größte Vorsicht walten lassen, wenn er sein Leben und seine Kinder liebt. Andere, sorglosere Haltungen dazu bestehen wohl mehr aus Verdrängung und falscher Sicherheit aus verharmlosenden “Alternativfakten” als aus ihrer gern vorgetäuschten, abgeklärten Rationalität.

Denkt doch daher einfach künftig auch euch selbst mit, wenn das Wort “Vulnerable” fällt – das erhöht die Empathie, und es wäre weitaus klüger als etwa krankenfeindlichen Bullshit rauszuhauen. Bullshit, der die Vorsichtigen heute noch als merkwürdig oder ängstlich hinstellen will, der euch aber schon morgen leid tun könnte. Vorsicht und Weitsicht sind nämlich überaus rationale Entscheidungsgrundlagen, mit “Angst” hat das wenig, mit “Panik” gar nichts zu tun, sondern mit vernünftiger Abwägung von möglichen Konsequenzen und (un)erwünschten Zukunftsszenarien.

Wir alle benötigen Schutz vor den Folgen dieses Virus – auch und vielleicht sogar besonders die, die ihn nicht zu brauchen glauben.

Trotz alledem soll das neue Schuljahr in Österreich in wenigen Tagen anscheinend ohne Schutzmaßnahmen beginnen.

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Gesundheitsvorherrschaft: Aspekte (1)

Hier erscheinen nun in losen Abständen weitere Gedanken zu meinem vorigen Blogeintrag, der Übersetzung des Essays von Dr. Maarten Steenhagen. Viele Aspekte der Krankenfeindlichkeit kommen im Essay nicht oder nicht explizit vor. Diese möchte ich hier nach und nach thematisieren.

Nach rechts geschwemmt?

In der Einleitung schrieb ich: “Wir sehen uns seit Pandemiebeginn zunehmend mit rechtsextremen Anschauungen konfrontiert.”
Gemeint: Mit den neoliberalen, neofeudalen bis rechtsrechten Vorstellungen von Stark und Schwach, von Hochwertig und Minderwertig, von Leistung und “Leistung”. Die, die uns weismachen wollen, Solidarität wäre, wenn die einen auf die anderen draufsteigen. Davon sind wir ja schon weitaus länger unterwandert als nur in den letzten Jahren.
(siehe auch mein Rant aus dem Mai 2020 und frühere Beleuchtungen des Leistungsgedankens)

Nicht nur rechte Trolle auf sozialen Medien konfrontieren uns damit, wenn sie uns ihren gefühlten Anspruch auf Rücksichtslosigkeit und Entsolidarisierung als “Freiheit” verkaufen wollen. Nicht nur aus der False Balance in zu vielen anderen Medien schwappt es uns die neue Kaltschnäuzigkeit frostig in unsere mentalen Systeme.

Sondern auch und immer wieder von Seiten unserer Regierung, die ihre Berater und Beraterinnen nie auf ihre Gesinnung abklopft, weil wertebefreiter Machterhalt sich gesinnungsmäßig gar nicht festlegen muss. Stattdessen scheint sie jede “gesundheitspolitische” Empfehlung gerne anzunehmen, die opportun ist, um ihre Wirtschaftsklientel zufriedenzustellen. Genausowenig überraschend ist dabei, dass die kapitalismusfreundlichsten Konzepte gleichzeitig mitunter die menschenfeindlichsten sind.

Während du dich also politisch unverrückbar links wähnst und auf Seiten von Toleranz, Mitgefühl, Gleichbehandlung und sozialer Güte, schwappen dir diese vereinfachten Inhalte durchs Hirn wie so’n Abwasser und nehmen dich und deine Haltung allmählich immer weiter mit nach rechts. “Normalisierung” tritt ein. Denn diesen menschenfeindlichen, wertefernen und rechtsextremen Anschauungen wohnt stets die verführerische Komponente inne, sehr simpel zu sein. 

Über Lernfähigkeit

“Wir müssen mit dem Virus leben lernen” ist einer dieser “simplen” Inhalte. Wiewohl es dieser Satz ordentlich in sich hat.

Zunächst wird ein solcher stehender Satz nicht einmal ansatzweise der Komplexität gerecht, die dieser Pandemiesituation nun mal eigen ist. Ja, es ist genau jene Komplexität, die die rechten Vereinfacher mit ihren Stehsätzen so gerne ausblenden möchten. Der lapidare Satz sagt sich aber eben so beschwingt-abgeklärt, dass er gern als veritables Killerargument genutzt wird, weil er ach-so-sehr nach einer realistischen, lebensnahen persönlichen Haltung klingt.

Er hat allerdings seine Tücken, weil er die vielen Aspekte dahinter eben gar nicht erst adressiert.
Stattdessen tut er so, als müsste man sich diskursfrei auf ihn einigen wollen, und man tut, als könnte er nur eins bedeuten.
Während der Satz in Wirklichkeit genauso alles Menschenmögliche an Schutzmaßnahmen und Rücksicht meinen kann (für alle Menschen, nicht nur gesunde), wie gar nichts.

Ich habe diesen Satz auch schon von Leuten gesagt bekommen, die sich für politisch links halten. Für Risikopersonen wie mich ein Schlag ins Gesicht, weil man uns damit meistens vermitteln will, wir sollen uns einfach “nicht so anscheißen” (wie die mit der stabileren Gesundheit uns das ja so plakativ vormachen) und uns “halt selber schützen” (wie die mit der stabileren Gesundheit uns das nicht plakativ vormachen können, weil sie wenig Erfahrung darin haben, wie das gehen soll). Und wir müssten uns für dieses “Selberschützen” dann noch anschauen lassen, als wären wir nicht ganz richtig im Kopf, weil wir unser menschliches Sein und Leben vor einem (weiteren) körperlichen Schaden bewahren wollen. Aus Vernunft und aus der Erfahrung, wie es ist, mit einem solchen zu leben (die denen mit der stabileren Gesundheit obendrein fehlt).

Was jemensch (womöglich gar Drosten oder so) ursprünglich vielleicht mal mit dem Satz gemeint haben könnte:
“Das Virus wird nicht mehr weggehen – also lasst uns einen Umgang damit finden, der die Gesellschaft als Ganzes am besten davor bewahrt.”
Könnte man so sehen. Lernen ist ja ein evolutionärer Vorteil, weil es oft zu besserer Anpassung an die veränderlichen Umweltbedingungen im Leben führt. Genau diese Implikation nützt der Satz aus, allerdings in jeder der mitschwingenden Bedeutungsvarianten. Also auch dann, wenn er für das genaue Gegenteil steht: die Wirklichkeit ausblenden und so tun, als wäre die Pandemie vorüber – auch dieses Verhalten soll uns mit dem Satz als “Lernen” verkauft werden.

[Man bemerke bitte wohlwollend, wie lässig ich eingestreut habe, dass darwinsche Evolution das (genetische) Überleben der Anpassungsfähigsten meint – nicht der Stärkeren.]

Was aber wirklich nach dem elenden Stehsatz als Implikation in der Luft liegt:
“… und wenn du das nicht lernen kannst/willst, oder deine Liebsten, dann sterbt halt.”

Oder auch:
“Wir müssen eben die Härte haben (Uga!*) und uns daran gewöhnen, dass niCHt aLLe überleben können!
Sondern nur die Supersten – die halt dann mit Gefäß-, Organ- oder Hirnschäden, aber das kümmert uns jetzt nicht mehr!.”

[*Mit “Uga!” pflege ich ich hierzublogge die Emotion zu bezeichnen, die absichtsvoll in jemandem ausgelöst werden soll, der sich endlich zu den StArKeN zählen darf.]

Wenn unsere Herrn Politiker einen solchen Satz daherfaseln, dann kann man nicht mit Sicherheit sagen, was sie wirklich meinen, wenn man nicht nachfragt. Macht aber trotzdem keiner. Man käme sich ja auch blöd vor. Das ist genauso, wie wenn sie sagen, “Leistung muss sich wieder lohnen!” und nicht dazusagen, dass damit aber nicht der Hackler aus Favoriten gemeint ist. Da fragt auch keiner: “Aha, wie meinen Sie das denn jetzt genau?”

Schwerer Fehler, man sollte ja viel mehr nachfragen.
Zum Beispiel:
¿ Finden Sie wirklich, dass man es Menschen noch schwerer machen sollte, denen es eh schon ausreichend gschissn geht?
¿ Dass man sie “aussortieren” müsste?
¿ Ihnen die alltäglichen Besorgungen weiter erschweren?
¿ Ihre Existenz ausblenden, damit die StArKeN endlich ihr Leben weiterleben können?

¿ Gelten Menschenrechte nicht für alle Menschen?
¿ Gibt es Menschenrechte nicht überhaupt nur deshalb, weil nicht alle ~gleich stark~ sind? Und das nicht nur in ihrer Konstitution, sondern auch und gerade bei ihren Möglichkeiten, auf ihre Bedürfnisse aufmerksam zu machen?

Wenn ihr diesen Fragenblock menschenfreundlich beantwortet hättet – dann sagt diesen Satz bitte nicht mehr. Zumindest nicht, ohne zu konkretisieren, was ihr damit genau meint; für euch und für andere.
Dankeschön! @->–>

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Die Vorherrschaft der Gesunden

Seit Beginn der Pandemie sehen wir uns zunehmend mit rechtsextremen Anschauungen konfrontiert. Ein Essay bringt eine klare Einordnung krankenfeindlicher Tendenzen: Gesundheitsvorherrschaft ist eine faschistoide Ideologie.

In den Jahren der Pandemie war es für Menschen aus der Risikogruppe, Menschen mit chronischen Krankheiten oder mit Behinderung und für deren Angehörige schon schwierig genug, ihr Leben wenigstens auf Sparflamme fortzuführen.
Ob und in welchem Ausmaß “die Gesunden” (oder die, die sich dafür halten) Schutzmaßnahmen mittragen und für sich als zumutbar empfinden, wird jedoch wesentlich davon bestimmt, welche geistige Haltung sie gegenüber Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen einnehmen. Die allzu lauten Verharmloser und Leugnerinnen schreien uns ihre Anschauung dazu regelmäßig in die Ohren und in unsere Gedankenwelt.

Dr. Maarten Steenhagen vom philosophischen Institut an der Universität Uppsala hat im Mai bei Medium ein eindringliches Essay in englischer Sprache veröffentlicht. Angesichts der sukzessiven und aktuellen Entwicklungen im Laufe der Pandemie sind Steenhagens klare Worte in diesem Essay eine wichtige Einordnung, wie ich finde.

Im Einvernehmen mit dem Autor (und sehr zu seiner Freude :) habe ich sein Essay daher hier auf Deutsch übersetzt.
(Hier verlinke ich seinen Original-Twitter-Thread zum Essay.)

tl;dr

Die Vorherrschaft der Gesunden ist eine krankenfeindliche, rechtsextreme und faschistoide Anschauung, die den vergänglichen Gesundheitsstatus der Menschen in eine absolute Eigenschaft umdeutet und daraus Privilegien- und Machtansprüche der “Gesunden” ableitet. Sie richtet sich gegen alle, die diesem trügerischen Gesundheitsideal nicht entsprechen, und schürt und legitimiert damit Abwertung und Aggression gegen diese Menschen.
Wir müssen den Erscheinungen dieser Ideologie entschlossen entgegentreten – in uns selbst und in anderen.

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“Verabscheust du Faschismus?
Dann sei nicht krankenfeindlich!

(“Loathe fascism? Then don’t be a health supremacist”)

Die Vorherrschaft der Gesunden ist eine Ideologie. Vorherrschaftsdenken beginnt immer mit der gedachten Aufteilung der Welt in vermeintlich “hochwertige” und “minderwertige” Menschen. Gesundheitsvorherrschaft ist die Anschauung, dass jemand, der als gesund betrachtet wird, all denen übergeordnet wäre, deren Gesundheit in irgendeiner Weise eingeschränkt ist; jegliche Form von Krankheit oder mutmaßlicher gesundheitlicher Beeinträchtigung macht dich in dieser Anschauung aus Prinzip zu einem “minderwertigen” Menschen. Gesundheitsvorherrschaft ist der Glaube, den Gesunden würde das natürliche Privileg zustehen, gesellschaftlich die Vorherrschaft über die anderen auszuüben.

Dem Kern von Gesundheitsvorherrschaft und Krankenfeindlichkeit wohnt ein Trugbild inne: Dass es so etwas wie eine “natürlich-gesunde” Person gäbe, die niemals ernstlich krank oder behindert ist und das auch nicht werden kann. Ein Trugbild deshalb, weil das einfach nicht der Wahrheit entspricht. Die Gesundheit ist eine der unvorhersehbarsten Gegebenheiten an einem Menschen. Jede und jeden von uns trennt nur eine Infektion oder ein Unfall von einer Erkrankung oder Behinderung.

Mit der Aussage, dass alle Gesundheit fragil ist, soll hier nicht in Abrede gestellt werden, dass es beim Gesundheitszustand strukturelle Ungleichheiten gibt: Wenn du dir Nahrungsmittel nicht leisten kannst oder in einer Gegend mit starker Luftverschmutzung lebst, wird das deine Gesundheit beeinflussen. Strukturelle Ungleichheiten, die unterschiedliche Gesundheitszustände zur Folge haben, sind ein guter Grund, den Gesundheitszustand nicht zu einer Kategorie zu essentialisieren. Und doch ist es genau dieser Essentialismus, den die Gesundheitsvorherrschaft verlangt. Das ist der Grundpfeiler ihres Trugbildes. Und Krankenfeinde tun was sie können, um aktiv diese Fantasie aufrechtzuerhalten und auszuüben.

Der Kniff lautet, dass man sich die Gesundheit als etwas vorzustellen hätte, das Grundlegendes und Essentielles über eine Person verraten würde. Anstatt anzuerkennen, dass Gesundheit und Krankheit praktisch jedem widerfahren kann, bildet sich die Gesundheitsvorherrschaft gern ein, dass ein guter Gesundheitszustand eine angeborene, naturgegebene Eigenschaft mancher Menschen wäre (und anderer Menschen nicht). Der selbst-erklärte Gesundheitsstatus wird allmählich zu einem Teil der individuellen Identität. Diese Auffassung von Gesundheit als essentielle Eigenschaft einiger (und anderer nicht) bildet die Grundlage für eine Weltanschauung, in der eine bestimmte Gruppe – die selbsternannten “natürlich-Gesunden” – den anderen naturgegeben übergeordnet wäre.

Wie wurde die Krankenfeindlichkeit während der Pandemie angekurbelt?

Wie andere rassistische Ideologien hat auch Gesundheitsvorherrschaft eine lange und grausame Geschichte. In den letzten zwei Jahren konnten wir beobachten, dass die Gesundheitsvorherrschaft ins öffentliche Bewusstsein vordringt wie schon lange nicht mehr. Krankenfeindliche Ideologie ist zum Mainstream geworden und scheint selbst von solchen Leuten übernommen zu werden, die von sich sagen, sie würden rassistische Denkweisen ablehnen. Das ist eine gefährliche Entwicklung, die wir bekämpfen und umkehren müssen.

Die Krankenfeindlichkeit wurde von der Pandemie angekurbelt. Erinnern wir uns, von Pandemiebeginn an wurde die öffentliche Wahrnehmung von Covid-19 dahingehend geprägt, dass es zu einer Spaltung in “hochwertige” und “minderwertige” Menschen kam. Die Krankheit wurde uns als eine präsentiert, die nur für “die Vulnerablen” ein Problem darstellt – Menschen, die älter sind und ein schwächeres Immunsystem haben, oder solche mit “Grunderkrankungen” oder “Vorerkrankungen”.
Covid-19 wird zunehmend als eine Krankheit abgetan, die nur jene schädigen würde, die (in krankenfeindlichen Begriffen) bereits “vorgeschädigt” waren; als etwas, das richtiges Krankwerden nur bei denen auslösen würde, die bereits vorher irgendwie die Veranlagung zum Krankwerden gehabt hätten. “Wenn sie der Virus nicht erwischt hätte”, sagen Freunde plötzlich, “dann hätte sie eben etwas anderes erwischt”. Oder: “Ich mach mir keine Sorgen, meine Konstitution ist von Natur aus stark.”

Ich weiß nicht, wie dieses Narrativ so gängig werden konnte, und das sogar unter denen, die es besser wissen sollten – unter Leuten, die an anderen Fronten gegen Faschismus auftreten, gegen Diskriminierung und Exklusion, oder die angeblich für soziale Gerechtigkeit und Inklusion kämpfen. Doch es wurde dennoch gängig.

In Wahrheit war jede demographische Gruppe von SARS-CoV-2 betroffen (wenn auch nicht gleich stark). Während der Pandemie haben Ärztinnen und Ärzte immer wieder betont, dass jede und jeder gefährdet ist. Und dennoch wiederholen viele ständig die Mär, dass SARS-CoV-2 als solches ein “mildes” Virus wäre; dass Covid-19 eine “milde” Erkrankung wäre, mit dem ein “natürlich-gesunder Körper” ganz einfach fertigwerden sollte. Ein Krankenfeind mag sogar zugeben, dass manche Menschen von diesem Virus tatsächlich schwer krank werden. Aber die, die tatsächlich krank werden, müssen dann ja schon vorher irgendwie anders gewesen sein. Der typische essentialistische Kniff eben.

Das gesundheitsbezogene Vorherrschaftsdenken und seine Narrative sind mit jeder Welle der Pandemie ausgeprägter geworden. Mittlerweile ist die öffentliche Vorstellung von der Gesellschaft fast gänzlich in zwei Lager gespalten: die vermeintlich höherwertigen, “gesunden” Individuen auf der einen Seite, und die vermeintlich minderwertigen “Vulnerablen” auf der anderen. Je verbreiteter eine solche Spaltung und diese Art des Deutungsrahmens (Framings) der Pandemie wird, umso weniger Individuen in der Gesellschaft bleiben davon unberührt. Das erzeugt auf alle den Druck, die eine Frage zu beantworten:
Zu welcher Gruppe gehöre ich?

Wie zeigt sich Krankenfeindlichkeit?

Krankheitsfeindliche Anschauungen unterwandern das öffentliche Bewusstsein, auch wenn wir uns dessen nicht immer bewusst werden. Um das klar zu sagen, es gab sie auch schon vor der Pandemie. Ein offensichtliches Beispiel ist der weitverbreitete Alltags-Ableismus – die gesellschaftliche Diskriminierung behinderter Menschen, sodass Menschen ohne Behinderung bevorzugt behandelt werden – sowie ein Hang zu eugenischen Bemühungen (mehr dazu später).

Allerdings hat das gesundheitsbezogene Vorherrschaftsdenken während der Pandemie wohl einen großen Sprung nach vorn gemacht. In Ländern wie den USA, Großbritannien, den Niederlanden und Schweden ist es in den Strategien der Gesundheitsbehörden offenbar zur Norm geworden – und es stößt auf beängstigend wenig Widerstand.

Wenn man die Vorherrschaft der Gesunden in Aktion sehen will, wo immer es um die Haltungen zur Pandemie geht, dann kann es hilfreich sein, zwischen ihrer offenen Manifestation und ihren verborgenen Formen zu unterscheiden.

Offene Krankenfeindlichkeit ist schwer zu übersehen, da sie für gewöhnlich laut und markant ist. Sie ist selbstbewusst, auffallend und symbolträchtig, und sie vergesellschaftet sich typischerweise sichtbar mit anderen rechtsextremen Ideologien.
In diesem Zusammenhang war der Artikel von Emily Gorcenski weitblickend, als sie im Jahr 2017 über die “Unite The Right”-Rally [Kundgebung “Vereinigt die Rechten”] in Charlottesville (Virginia, USA) schrieb: Rechten Aktivisten und Aktivistinnen gelingt es immer besser, die Lautstärke ihrer Botschaft durch Zusammenschluss zu erhöhen. Im Sommer 2020 führte Wettermoderator und Impfgegner Piers Corbyn auf dem Trafalgar Square in London einen beachtlichen Protestaufmarsch der Maskengegner an. Mit dem Event legte man es darauf an, Aufmerksamkeit zu erregen. Der Soziologe Phil Burton-Cartledge beschreibt hier, wie dieser Protest eine ganze Riege an rechtsextremen Aktivisten anzog, von solchen aus den Reihen der “British Union of Fascists” über Klimawandel-Leugner bis hin zu Anhängern der QAnon-Verschwörungsmythen.
Ein ähnlicher Aufmarsch fand im April 2022 in Los Angeles (Kalifornien, USA) statt, wo Aktivisten und Aktivistinnen auf ihren Transparenten Impfungen als gefährlich bezeichneten und “medizinische Freiheit” von ihnen gefordert wurde. Was er dort sah, beschrieb der Journalist Eric Levai vom “Rolling Stone” als einen “geschickt präsentierten Spendenaufmarsch der Faschisten voll unheilvoller Warnsignale vor dem, was uns bevorsteht”.
Ein Jahr zuvor hatte in derselben Stadt die neofaschistische Gruppierung “Proud Boys” in gewaltvoller Weise versucht, Menschen zu “demaskieren”, eine wilde, öffentliche Offenbarung rassistischer Vorherrschaftsstimmung.

Das sind offene und symbolträchtige Zurschaustellungen von Krankenfeindlichkeit: Da protestieren sie und wenden sich rabiat gegen Maßnahmen zur Infektionskontrolle, die (in der vorherrschaftlichen Anschauung) die vermeintlich “höherwertigen”, “natürlich-gesunden” Menschen nicht bräuchten und die vermeintlich “Minderwertigen” nicht verdienen würden. (Es versteht sich von selbst, dass dies eine gefährliche und widerwärtige Doktrin ist. Ich beschreibe es hier nur, um besser erfassbar und erkennbar zu machen, was da passiert, damit man dem entgegentreten kann.)

Verborgende Krankenfeindlichkeit kann schwammiger sein und allerlei Formen annehmen. Etwa die Form institutionalisierter Diskriminierung, Exklusion, Verharmlosung und Mikro-Aggressionen. Denken Sie an gesundheitspolitische Amtsträger, die es uns als positiven und beruhigenden Aspekt präsentierten, dass offenbar “nur” diejenigen schwer erkranken oder sterben, die ohnehin Vorerkrankungen haben – als würde die Krankheit oder der Tod eines Menschen irgendwie weniger Rolle spielen, wenn er Diabetes hat?
Oder denken Sie an Aussagen wie “Wenn du bisher kein Covid hattest, hast du vermutlich keine Freunde” – was unterstellt, dass alle, die sich darum bemühen, eine Infektion mit einem SARS-Virus zu vermeiden, sozial Ausgestoßene wären.

Andere Beispiele von verborgener Krankenfeindlichkeit: Wenn ein Arbeitgeber seine Angestellten zwingt, ins Büro zu kommen, ohne Maßnahmen zum Schutz vor einer Infektion. Wenn eine Freiwilligengruppe sich weigert, den Zugang zu ihren monatlichen Treffen auch auf alternative Arten zu ermöglichen. Wenn ein Freundeskreis dich fallenlässt, weil du auf Masken oder auf Treffen im Freien bestehst und das “keinen Spaß mehr macht”.
Oder was ist mit der allgemeinen Stimmungsmache, die Pandemie wäre vorbei – und das den bekannten Tatsachen zum Trotz: die Übertragungsrate ist hoch, Long-Covid grassiert, die Impfwirkung lässt zweifellos mit der Zeit nach, und Behandlungen gegen Long-Covid sind derzeit immer noch nicht verfügbar. In den Beispielen wird stillschweigend, aber unmissverständlich eine gesundheitsherrschaftliche Grundstimmung transportiert: “Wenn du glaubst, dass du von deiner Natur her Covid nicht wirklich gewachsen bist, solltest du möglicherweise gar nicht hier sein.”

Die vielleicht am stärksten handlungsbetonte Form der alltäglichen Krankenfeindlichkeit während der Pandemie war der irrational heftige Widerstand gegen das Tragen von Masken in vielen europäischen Ländern. Diese augenscheinliche Ablehnung lässt mich immer noch fassungslos zurück. Masken sind eine einfache und grundlegend effektive Maßnahme, um andere zu schützen und die Verbreitung eines Virus einzudämmen, der über die Luft übertragen wird. Dass so viele die kleine Unbequemlichkeit, die ihnen das Maskentragen beschert, für so unendlich viel wichtiger halten als den Schutz, den es anderen bietet – obwohl sie genau wissen, dass manche diesen Schutz wirklich benötigen – daran ist erkennbar, dass sie diejenigen, die sich gegen Covid schützen wollen, als minderwertig ansehen.

Aber es geht noch weiter, keine Maske zu tragen ist ihnen nicht genug. Ihre Maskenverweigerung muss aktiv und sichtbar zelebriert werden. Menschen mit Maske müssen zur Rede gestellt und verhöhnt werden, Blicke müssen geworfen und Augen gerollt werden. Die Existenz von Menschen die, aus welchem Grund auch immer, das Covid-Risiko ernst nehmen, scheint den Maskenverweigernden unerträglich zu sein.

Ist die Vorherrschaft der Gesunden eine Form von Faschismus?

Gesundheitsvorherrschaft ist dem Grunde nach eine faschistische Doktrin. Genau genommen ist Faschismus eine bestimmte geschichtliche Strömung. Sie begann im frühen 20. Jahrhundert in Italien und floss später in den deutschen Nationalsozialismus ein. Es war die Strömung, die letztlich zum Holocaust führte, ein Massen-Gemetzel, das genau auf einer Linie mit dem faschistischen Weltbild liegt: gewalttätig intolerant gegenüber allen Menschen, die als “minderwertig” betrachtet werden.
Nach dem Zweiten Weltkrieg haben verschiedene neofaschistische Bewegungen versucht, diese Ideologien wiederzubeleben (oder vielmehr: sie am Leben zu erhalten). Die immer stärker sichtbar auftretenden rechten Bürgerwehren in den USA sind ein gutes Beispiel dafür, genau wie die British National Party in Großbritannien, und Voorpost und das Forum for Democracy in den Niederlanden (die letztgenannte Bewegung hat derzeit Mandate im niederländischen Parlament).

Den ideologischen Kern des Faschismus kann man allerdings von der Geschichte entkoppeln. Faschistische Strömungen drehen sich um die Vorstellung, dass eine Gruppe in der Gesellschaft das natürliche Recht dazu hätte, über die anderen zu herrschen. Diese “überlegene” Gruppe sollte nach Ansicht der Faschisten “rein” gehalten werden, frei von genetischer Verfälschung oder körperlicher Verunreinigung, auf dass die privilegierte Gruppe nicht geschwächt werde. Die Methoden der Ausgrenzung, Ungleichbehandlung, Eugenik und Gewalt werden zur Gänze mit dem guten Gedeihen der selbsternannten privilegierten Gruppe gerechtfertigt.
Es ist freilich etwas komplizierter als das, aber in dieser Charakterisierung erkennen wir, dass die meisten, wenn nicht alle rassistischen Ideologien zumindest diesen faschistischen Kern haben: Sie alle verfechten eine gesellschaftliche Anschauung, derzufolge eine Gruppe einen naturgegebenen Anspruch darauf hätte, über die anderen zu herrschen. Demnach ist die Ideologie jeder rassistischen Strömung, unabhängig von ihrer jeweiligen historischen Entwicklung, in ihrem Kern faschistisch.

Der faschistische Kern der Vorherrschaft der Gesunden ist die Vorstellung, dass diejenigen, die gesund sind, irgendwie die “besseren” Leute wären, und dass die Gesellschaft ihre Interessen und ihr Gedeihen schützen dürfte und müsste (und das vorrangig zu den Interessen und dem guten Gedeihen aller Mitglieder der Gesellschaft).
Man denke daran, dass dies ein falscher, essentialisierender Anspruch ist: Diejenigen, die zufällig gesund sind oder sich für gesund halten, werden als besser erachtet, angeborenerweise, von innen heraus, vielleicht sogar genetisch besser. Dieses essentialistische Denken über menschliche Eigenschaften – das wird Ihnen jede Psychologin bestätigen – übt auf unsere Gedankenwelt eine Anziehungskraft aus, die eine oberflächliche und kindische Basis hat.
(Man bemerke auch: es ist gar nicht gesagt, dass einzelne Leute, die krankenfeindliche Vorstellungen vertreten, selbst tatsächlich gesund sind. Was in dieser Weltanschauung zählt ist, dass man sich als gesund und stark darstellt und erscheint – jeder gesundheitsherrschaftlich denkende Mensch kann sehr wohl alle möglichen unerkannten oder uneingestandenen Gesundheitsprobleme haben.)

In dieser Hinsicht benutzt die krankenfeindliche Ideologie der Gesundheitsvorherrschaft dasselbe kognitive Schlupfloch wie die bekannteren Formen des Vorherrschaftsdenkens: Weiße Vorherrschaft und Männliche Vorherrschaft. Genau wie diese Ausprägungen rassistischen, vorherrschaftlichen Denkens verfolgt auch die Gesundheitsvorherrschaft die Vorstellung von der natürlichen Stärke und Vormacht eines bestimmten Typus Mensch – mit der Absicht, die Macht dieses Typus zu gewährleisten und zu erhalten. Während der Weiße Vorherrschaftsglaube der Vorstellung vom starken weißen Körper anhängt und der Männliche Vorherrschaftsglaube der Vorstellung von der biologischen Überlegenheit des Mannes, hängt die Gesundheitsvorherrschaft der Vorstellung von der Überlegenheit des “natürlich-gesunden” Körpers an.
Als notwendige Ableitung daraus bildet sie sich ein, alle, die eine Krankheit oder eine Behinderung haben, wären minderwertig. In dieser krankenfeindlichen Anschauung sollen nur diejenigen soziale Ansprüche und Privilegien genießen dürfen, die als gesund erachtet werden. Jeder und jede, auf die das nicht zutrifft, hat darin ein geringeres Anrecht auf Existenz; idealerweise sollten – laut dieser Gesinnung – kranke oder behinderte Menschen überhaupt nicht existieren.
Aktivistinnen und Aktivisten für Behindertenrechte warnen seit Jahrzehnten vor solchen Anschauungen. Auf mich wirken diese Anschauungen schlicht und ergreifend faschistisch.

Wie unterscheidet sich Krankenfeindlichkeit von Ableismus und Eugenik?

Krankenfeindlichkeit ist mit einer Erscheinung namens Ableismus nah verwandt. Ableismus ist eine Form der Diskriminierung, ein System aus Stereotypen, das den “voll funktionstüchtigen” Körper (“abled body”) als gesellschaftliche Norm betrachtet. Wie K. Cassidy es charakterisiert, ist Ableismus “der vorurteilsbehaftete Umgang mit behinderten Menschen unter der anmaßenden Behauptung, sie wären minderwertig”. Ableistische Verhaltensweisen und Taktiken schaden also dem Wohlergehen von Menschen mit Behinderung und machen es zunichte. Ableistische Sprachmuster unterstellen, dass Menschen mit Behinderung irgendwie weniger wert wären, oder sie ignorieren die individuellen Formen ihrer Kompetenz und Handlungsfähigkeit.
Cassidy und viele andere Autorinnen und Autoren haben darüber geschrieben, wie ableistisch die Reaktionen auf die Covid-19-Pandemie sind, und dass dadurch weitere ableistische Gesinnungen verstärkt wurden.

Man kann sich Ableismus als eine spezielle Form der gesundheitsherrschaftlichen Anschauung vorstellen. Die Vorherrschaft der Gesunden idealisiert einen natürlich-gesunden Körper, der Krankheit und Behinderung widersteht. Folglich ist das Bild, das er von der Gesellschaft malt, von Grund auf ableistisch, weil ein behinderter Mensch unweigerlich daran scheitern wird, diesen wahnhaften krankenfeindlichen Idealen gerecht zu werden.
Doch Gesundheitsvorherrschaft ist breiter angelegt als Ableismus, weil sie auch jede Person, die krank geworden ist oder deren Genesung länger auf sich warten lässt, als “minderwertig” einstuft; außerdem solche Menschen, die chronische oder genetisch bedingte Krankheiten haben, die die Betroffenen selbst nicht als Behinderung einordnen würden. Als “minderwertig” werden darin übrigens auch all jene betrachtet, die der gesundheitsherrschaftlichen Ideologie nicht anhängen.

Die Vorstellungen der Gesundheitsvorherrschaft erinnern auf schaurige Weise an das Eugenik-Projekt. Eugenik ist ein gesellschaftliches Konzept, das erbliche Eigenschaften in der Bevölkerung zu verstärken sucht, typischerweise durch gezielte Zucht, aber auch durch Zwangssterilisation oder gar Mord an bestimmten Bevölkerungsgruppen. Der rassistische Gedanke hinter der Eugenik ist offensichtlich, baut sie doch darauf auf, dass Menschen mit bestimmten Eigenschaften als besser erachtet werden als Menschen, denen diese Eigenschaften fehlen. Man sollte jedoch erkennen, dass Gesundheitsvorherrschaft und Eugenik zwei verschiedene Dinge sind. Ersteres ist eine Ideologie, letzteres ein Zuchtprogramm. Die Bestrebungen der Eugenik mögen eine beispielhafte Manifestation der Gesundheitsvorherrschaft sein, sie sind aber beileibe nicht ihre einzige Manifestation. Wie oben erwähnt, manifestiert sich Gesundheitsvorherrschaft als eine ganze Reihe gesellschaftlicher Anschauungen, samt Ableismus und anderen Formen der Privilegierung auf der Basis gesundheitsbezogener Aspekte. Würden wir ein gewisses Zuchtprogramm als das einzige betrachten, was Krankenfeindlichkeit anrichten kann, dann würden wir Gefahr laufen, andere zerstörerische Manifestationen dieses Vorherrschaftsdenkens zu übersehen.

Was können wir gegen Krankenfeindlichkeit tun?

Faschismus ist eine gewalttätige, immer zerstörerische und oft todbringende politische Doktrin, der man entgegentreten kann und muss. Gesundheitsvorherrschaft ist eine faschistische Ideologie, daher kann und muss man ihr Widerstand leisten. Ihr Erstarken wird uns allen schaden. Doch etwas gegen diese Form des Faschismus zu tun ist leichter gesagt als getan. Denn die krankenfeindliche Anschauung hat unseren Alltag und das gesellschaftliche Bewusstsein dermaßen durchdrungen, dass der Kampf dagegen für viele bedeuten wird, ihre Gewohnheiten zu ändern und ebenso ihre Erwartungen. Doch es ist höchste Zeit, dieser Tatsache ins Gesicht zu sehen.

In seinem Buch “Faschismus. Und wie man ihn stoppt” führt der Journalist Paul Mason aus, dass man den Kampf gegen Faschismus beginnen muss, indem man auf seine Ideologie und seine Mythen aufmerksam macht, indem man beschreibt, wie diese faschistischen Mythen funktionieren, und indem man deren Schleier lüftet. Mason schreibt, faschistische Bewegungen werden von der Überzeugung genährt, dass “eine Gruppe, die ihnen [ihren Mitgliedern] eigentlich untergeordnet sein sollte, im Begriff ist, Freiheit und Gleichheit zu erlangen” (S. 17). Das ist Bestandteil der faschistischen Mythologie, und es ist im Grunde diese Angst vor dem “Anderen”, die die Gewalt anstachelt.

Übertragen wir das zurück auf die Vorherrschaft der Gesunden. Für Krankenfeinde sind diejenigen im Begriff, Freiheit und Gleichheit zu erlangen, deren Körper, Gesundheitszustand und/oder Verhalten ihrem Ideal des “natürlich-gesunden Körpers” nicht entsprechen oder sich ihm nicht unterordnen, denen aber trotzdem das Leben ermöglicht wird (und obendrein ein gutes Leben), indem entsprechende Schutzmaßnahmen, (Gesundheits-)Einrichtungen und Unterstützungen zur Verfügung gestellt werden – in der Gesellschaft, am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft und im Freundeskreis. Die Befürchtung, dass vermeintlich “minderwertige” Menschen – alle, die die Vorstellung vom “natürlich-gesunden Körper” nicht erfüllen – ein gutes, gar ein verbessertes Leben haben könnten – diese Befürchtung ist es, die krankenfeindliche Gewalt schürt.

Dem Faschismus muss Einhalt geboten werden, wo immer er seine Fratze zeigt. Ebenso wie wir gegenüber weißem oder männlichem Vorherrschaftsdenken radikal intolerant sein sollten, müssen Antifaschisten ihre Kräfte bündeln, um gegen gesundheitsherrschaftliche Anschauungen und deren Ausbrüche aufzustehen.

Bist du gegen faschistisches, rassistisches Denken? Ich hoffe es. Dann schau dir doch an, ob du in den letzten paar Monaten, vielleicht unter dem Druck von sozialen Medien oder von Bekannten oder Familienmitgliedern, irgendwelche Aussagen getätigt oder ein Verhalten gezeigt hast, das womöglich gesundheitsherrschaftlichen Tendenzen aufweist. Mach dir erstmal klar, dass du in letzter Zeit bereits sehr eng von krankenfeindlichen Haltungen umgeben warst und bist. Nachdem diese Vorstellungen heutzutage so ziemlich überall sind, trifft das auf fast jeden Menschen zu.

Würdest du anschließend überprüfen, ob und wie du diese Vorstellungen derzeit womöglich propagierst? Sie stillschweigend nach außen zeigst? Kostet es dich nur ein Achselzucken, wenn jemand aus gesundheitlichen Gründen nicht an dem von dir organisierten Meeting teilnehmen kann? Hast du den Kontakt zu einem befreundeten Menschen abgebrochen, als er chronisch krank wurde? Bist du deshalb nicht mehr an seiner Seite? Winkst du ab, wenn gesellschaftliche Anpassungen zugunsten kranker oder behinderter Menschen gefordert werden? Würdest du eine Kollegin oder einen Kollegen zu einem Indoor-Treffen in “gemeinsamer Luft” drängen, obwohl sie gesagt haben, dass sie das lieber nicht möchten? Bleibst du maskenlos, auch wenn andere Menschen um dich herum Maske tragen?

Dann hör damit auf. Hör auf, auch wenn es unbequem ist. Und wenn du an anderen ein solches Verhalten wahrnimmst, dann mach ihnen klar, was sie da tun. Handle, um eine Veränderung dieser Verhaltensmuster zu bewirken. Wir müssen die verdeckten Formen der Krankenfeindlichkeit entlarven – als das faschistische Raunen, das sie sind.

Frei nach Gorcenski:
Gesundheitsvorherrschaft will nicht deine Aufmerksamkeit. Sie will deine Untätigkeit. Gib ihr nicht, was sie will.

Artikel

Corona – 17 .. Impfung (3) – Virus, Mutationen, mRNA-Impfstoff

Dieser Artikel ist Teil 17 von 19 in der Serie "Corona" ...

Nach dem mikrobiologischen Ausflug in das faszinierende, aber alltägliche Geschehen in unseren Zellen nun zurück zum Virus, zu Mutationen und zu den Impfstoffen.

Zurück zum Virus

Ich hab erzählt, was für potente kleine Kerlchen Proteine sind. Doch nicht alle Proteine sind freundliche Mitarbeiter des Körpers.

Ein Virus hat um seine Erbsubstanz herum eine Kapsel aus regelmäßig angeordneten Proteinen, das sogenannte Kapsid (VCP, viral coat protein). Außenrum hat es, je nach Typ, noch diverse Membranen und Hüllen aus Lipiden und Proteinen, und ganz außen eine Virushülle.
(Es gibt auch “nackte” Viren, die haben nur ein Kapsid, aber keine Hülle (Hep E, Noro, Sapo, Adeno).
(Und es gibt auch richtig nackte Viren, die nichtmal ein Kapsid haben, sondern ausschließlich aus einem geschlossenen Ring aus einzelsträngiger RNA bestehen (ssRNA), die heißen Viroide und befallen nur Pflanzen.
Und dann gibts auch noch… aus! :)
)

Viren als Mitbewohner

Gewisse Viren sind übrigens ein fester Bestandteil unseres Mikrobioms. Der Begriff bezeichnet die Gesamtheit der anwesenden Mikroorganismen im menschlichen Körper, die ein anderes Genom haben als der Mensch selbst. Diese Viren haben eine ähnliche Aufgabe im Mikrobiom wie die Raubtiere in der freien Wildbahn – sie halten die Bestände (hier: an Bakterien) in Schach und dezimieren sie wenn nötig.

Wir haben in Summe mehr Mikroben-Genome im Körper als menschliche, übrigens. Und die Diversität von Mensch zu Mensch ist immens! Die Mikrobiom-Forschung ist ein extrem interessantes Kapitel der Biologie, in dem sich unfassbar viel getan hat in den letzten Jahren.
Es lohnt sich sehr, da reinzuschnuppern! Dabei kann man erfahren, dass unsere Darmflora viel mehr kann als nur “verdauen”, woher Neugeborene ihr Darmflora-Starterpaket bekommen usw. Und es hat nicht nur rein biologische Implikationen: Mit einem neuen Mikrobiom vom Schüchti zum Draufgänger, auch das gibt es – die ganze Persönlichkeit verändert sich, wenn man eine sehr schüchterne, darmsterile Maus mit einem fremden Mikrobiom “impft”. Ein super Blog dazu gibts zB hier (auf Englisch).

Von Hülle zu Hülle

Virion heißt ein Virus außerhalb der Zellen, zB in der Blutbahn. Es ist anhand seines Mäntelchens, der Proteine in seiner Hülle, für die Zellen der Immunabwehr und deren Antikörper eindeutig identifizierbar – sofern sie davor schon einmal die Gelegenheit hatten, es als Eindringling zu erkennen und es sich für später einzuprägen.
Bis dahin allerdings kann das aktive Virion mit einem bestimmten Teil seiner Oberfläche ungehindert an unseren Zellen andocken und dort Einlass finden.

Ein Virus bringt eine Wirtszelle dazu, neue Viren für sich zusammenzubauen – statt wie bisher die Bestellungen aus ihrer eigenen Zentrale abzuarbeiten, wie wir uns das im Abschnitt über mRNA angeschaut haben.
Ein Virus ist daher ein obligat intrazellulärer Parasit, weil er seinem Prinzip nach nicht ganz allein Kopien von sich selbst herstellen kann, sondern dafür zwingend eine Wirtszelle braucht. Er selbst ist meist nur ein mehr oder weniger umhülltes Stück Bauplan.

Wäre die mRNA aus einem Virus endlos verwendbar, wie es manche bei der Impfung befürchten, dann müsste ein Virus gar nicht seine Vermehrung in unseren Zellen bestellen. Es würde ein einzelnes Virion reichen, um uns krank zu machen – und wären Viren so aufgestellt, dann gäbe es die Menschheit nicht mehr.
Tatsächlich muss sich ein Virus aber millionenfach vermehren, bevor in den Zellen echter Schaden entsteht und wir uns krank fühlen.

Ein RNA-Virus wie SARS-Cov-2 lässt seinen Kopiervorgang draußen im Zellplasma erledigen – er muss dazu nicht in den Zellkern vordringen, wo unsere DNA wohnt. Genau wie bei der Impfung mit mRNA: Ablesung und Zusammenbau laut mikrobiologischem Bestellformular finden im Zellplasma statt und berühren unsere DNA nicht.

SARS-Cov-2

Der depperte Virus hat ebenfalls außen eine Virushülle. Daraus ragen die stachlig wirkenden Formationen (engl. spikes) nach außen, die man von den Bildern kennt – eine Eiweiss-Zucker-Mischung, das sogenannte Spike-Protein.

Darunter gibt es eine Membran, und darin ein Kapsid, das wiederum die eigentliche Erbinformation umhüllt: das Virusgenom, beim Coronavirus in Form von RNA. Das heißt, seine Erbinformation liegt einsträngig vor.

Seine Spikes sind sogar ziemlich flexibel, sodass sie leichter den Rezeptor an der Wirtszelle finden können. SARS-Cov-2 dockt mit einer Untereinheit seines Spike-Proteins (mit der rezeptorbindenden Domäne) an eine Wirtszelle an, eine menschliche Schleimhautzelle zB, legt sein Mäntelchen ab und seine Bauanleitung vor.

Etwas Startmaterial bringt der Virus selbst mit zur Fabrik-Party. Wie bei RNA-Viren üblich, hat er seinen eigenen kleinen Kopierer dabei (wieder eine Polymerase, allerdings in diesem Fall eine “RNA-abhängige RNA-Polymerase“). Denn der Virus hat sein Genom nicht als tausendfache Stränge unter seinem Mäntelchen. Die RNA muss von seiner Polymerase vervielfältigt werden, die ständig neue mRNA-Kopien ausspuckt.

Diese Art von Bauanleitung erkennt die Fabrik in der Wirtszelle wieder: Es ist dieselbe Spiegelsprache wie auf der Bestellkarte, die im zellulären Normalbetrieb aus der Zentrale zur Produktion in der Fabrik ankommt.

Die Zellfabrik bekommt die Bauanleitung also von dem kleinen Kopierer immer wieder neu vorgelegt. So kann jeder einzelne Virus nicht nur ein, zwei neue Exemplare seiner selbst in der Zellfabrik anfertigen lassen, sondern hunderte.
Das ist aber auch schon alles, was der Virus selber beiträgt.
Arbeiten müssen die Fabriken in seinen Wirtszellen auf eigene Kosten und Energie – mit ihren eigenen Ribosomen, tRNA und Aminosäuren.

Wenn die Zellfabrik schließlich erschöpft ist, zerfällt die Zellmembran, die Zelle stirbt, und die fertigen Virionen kugeln zur nächsten Fabrik.
Da capo al fine. Wenn das Immunsystem nicht eingreift.

Wie es zu Mutationen kommt

Wer im vorigen Artikel gut aufgepasst hat, hat ein Grundverständnis darüber erworben, wie Fehler im Kopiervorgang sich auswirken können, aber nicht müssen: Die Kopiervorgänge Transkription und Translation haben gewisse Fehlerraten, aber das Codierungssystem hat auch eine Fehlertoleranz, weil es für ein- und dieselbe Aminosäure verschiedene Tripletts gibt.

Wenn man nun hört, dass in einem Virus ein paar synonyme und einige nicht-synonyme (Punkt-)Mutationen entstanden sind, dann kann man sich die Bedeutung aus dem bereits erworbenen Wissen ableiten:
Wird an einer der drei Stellen im Codon ein falsches Nukleotid eingebaut, dann ergibt sich daraus in der Biosynthese eventuell, aber nicht zwingend eine andere Aminosäure. Mutiert also in einem RNA-Virus ein GAC zu einem GAU, dann klingt das zwar nach Super-GAU, es passiert aber nix – die codierte Aminosäure ist in beiden Tripletts dieselbe: Asparaginsäure. Das wäre ein Beispiel für eine synonyme Mutation.

Auch was ein Einschub (Insertion) sein mag oder eine Entfernung (Deletion), kann man sich dann ganz gut vorstellen: Ein Nukleotid hat sich in die Reihe reingeschummelt oder ist rausgeflogen. Innerhalb des Gens rücken dann die nachfolgenden Nukleotide jeweils vor oder zurück, wodurch sich mitunter völlig andere Tripletts ergeben.

Erhält ein Virus durch Mutation neue biologische Eigenschaften, dann spricht man von einem neuen Virusstamm. Verändern sich nur Kleinigkeiten, dann ist es eine neue Variante.

Mutation ist natürlich keine “böse Absicht” seitens eines Virus. Diese Fehler passieren ständig, Mutationen entstehen naturgegeben immer wieder, solange Gene repliziert werden. Mit der Menge kommt die Mutation.

Dass eine Variante sich stärker verbreitet (hat), ist an sich noch kein Beweis für ihre höhere Infektiosität. Natürlich kann ein Virus, wenn es einen Vorteil aus einer Mutation hatte, sich besser vermehren. Allerdings ist der Umkehrschluss nicht gültig: Dass er sich weiterverbreitet hat, ist kein Beweis dafür, dass er einen Vorteil aus der Mutation hätte. Er wird sich auch dann weiterverbreiten, wenn seine Mutation ihm keinen Vorteil verschafft hätte oder vielleicht sogar einen kleinen Nachteil – solange er dazu Gelegenheit hat.

Die Mutation in den Nerzen in Dänemark beispielsweise war eine, die u.a. das Spike-Protein betraf, was eventuell vorteilhaft für das Andocken in den Wirtszellen der Nerze war (so sagte Drosten). Dennoch konnte sich diese Variante auf Menschen zurück-übertragen, weil sie eben gerade anwesend waren. Manch mutierter Virus verbreitet sich also einfach weiter, weil er es weiterhin kann, ohne eine “verbesserte” Version seiner selbst zu sein.

Eine tolle Gelegenheit dafür ist jedes Superspreader-Event: Infiziert ein Mensch sehr viele andere gleichzeitig, dann hat diese Virus-Variante einen Vorteil, der erstmal nichts mit ihren veränderten Eigenschaften zu tun hat: Gelegenheit. Passiert das ein paarmal, dann wird sie zur vorherrschenden Variante, und das weitgehend unabhängig von ihren genetischen Eigenschaften.

Mutationsbezeichnungen, zB D614G oder N501Y, sagen etwas über die ausgetauschten Aminosäuren aus (an der Code-Stelle 614 hat sich das Codon für D zu dem für G verändert, wobei D für Asparaginsäure steht und G für Glycin); sie beziehen sich nur auf eine veränderte Eigenschaft innerhalb eines mutierten Virus, wobei in einer Variante meist mehrere Veränderungen vorhanden sind. Manche davon sind wahrscheinlicher als andere, wodurch bestimmte einzelne Veränderungen am Genom an mehreren Orten in der Welt beobachtet werden. Auch das ist kein “böser Plan”, sondern eine Frage von Wahrscheinlichkeiten.

Andererseits verbreiten sich regional häufig einfach die Varianten, die gerade anwesend sind (Stichwort “Vorteil” ;). Das macht die Varianten zu einem oft neutralen regionalen Marker, der für die Cluster-Analyse wichtig ist.

Ein Anstieg der Infektionen plus eine neue vorherrschende Variante, wie jetzt in die Variante VUI2020/12/01 in GB, ist erstmal eine Korrelation, genau wie die vielerorts vorherrschende D614G-Variante. Ob eine Variante tatsächlich ansteckender ist als ihre Vorgängerinnen, muss also erst separat erwiesen werden. Man kann nicht per Umkehrschluss die Existenz einer Mutation zur Ursache für einen Anstieg der Inzidenzen machen, das ist Gegenstand genauerer Forschung.
Wieviel “ansteckender” eine Variante ist, wird zunächst höchstens aus diversen Daten hochgerechnet und dabei Kausalität vorausgesetzt statt Korrelation angenommen, bis die Varianten genauer auf ihre Eigenschaften analysiert werden. Denn Varianten entstehen die ganze Zeit, ungefähr 2 neue pro Woche.

Die weltweit sequenzierten Genom-Varianten (auch von SARS-Cov-2) werden in einer Gensequenz-Datenbank gesammelt (GISAID), die Daten von dort und Visualisierungen dazu liefert nextstrain.org, und von dort wiederum kann die Welt ihre Informationen beziehen.
Die bisher eingereichten Sequenzierungen kann man sich in einer Visualisierung hier ansehen (von mir voreingestellt, weltweit, gruppiert nach (viraler) Abstammung = “clade” (Klade).
[Technischer Hinweis dazu: Mouseover-Elemente! Im bunten Teil der Visualisierung erscheinen nur bei Mauszeiger-Kontakt die Informationen über die einzelnen Varianten und wo sie gefunden wurden. Also besser am PC anschauen als mobil!]
Wenn man da ein bisschen durchscrollt, sieht man beides: Benachbarte Länder mit ähnlicher Klade, aber auch ähnliche Varianten in weit entfernten Erdteilen.

Ob eine Mutation eine höhere Gefahr darstellt als bisherige Varianten, ist ergo von vielen Faktoren abhängig. Das beste Mittel gegen Mutationen ist daher die Ausrottung des Virus. Je kleiner die Inzidenzen, desto weniger Gelegenheiten. Solange er sich in Menschen oder Tieren weiterhin vermehrt, wird er auch mutieren – je länger er im Körper verbleibt und je öfter er repliziert wird, desto höher sind seine Chancen zu mutieren.

mRNA-Impfstoffe

Statt nun lebende oder tote Original-Viren oder Teile davon in den Körper zu bringen, was die Grundlage vieler Impfungen in der Vergangenheit war, impft man mit einem editierten Abschnitt aus der viralen RNA, also in Form der Bestellkarte aus meinem vorigen Artikel.

Weil dieser Abschnitt so filigran ist, wird er im mRNA-Impfstoff von einer Hülle aus Liposomen oder Lipid-Nanopartikeln umgeben, die ihn schützt, und die ihm Eintritt in die Zellfabriken in der Nähe der Einstichstelle verschafft.
Die Ribosomen im Zellplasma unserer Zellen werden somit nach Eingang dieser Bestellkarte aufgefordert, einen Teil des Spike-Proteins von SARS-Cov-2 herzustellen. Nur ein Flicken vom Mäntelchen des Virus, an dem das menschliche Immunsystem gefahrlos lernen kann, wie der Virus sich verkleidet, ohne dabei einem ganzen vermehrungswütigen Viruskörper ausgesetzt zu sein.
Die Proteinbioynthese im menschlichen Körper findet dabei wie gesagt im Zellplasma außerhalb des Zellkerns statt. Unsere körpereigene DNA im Zellkern bleibt von diesen Vorgängen unberührt.

Wenn das Spike-Protein fertig synthetisiert ist, wird es aus der Zelle entlassen. Das Immunsystem hat dann Gelegenheit, es als Eindringling zu erkennen.
Es gibt außerdem antigenpräsentierende Zellen (APC) – ein Schlüsselvorgang für das Immunsystem bei jeder Infektion: Ein Virusprotein (Antigen) oder Teile davon werden von der Zelle nach außen präsentiert, woran die komplex zusammenwirkenden Elemente des Immunsystems lernen können, wie das aussieht und worauf sie sich stürzen müssen. T-Zellen docken dann von außen an und zerstören die infizierte Zelle.
Außerdem klemmen sich Antikörper aus B-Zellen mit ihren Y-förmigen Haxis an die charakteristischen Spikes und markieren den Feind damit als “zur Vernichtung freigegeben”. Das ist wie eine Abschleppkralle auf Autoreifen.

Die Armada des Immunsystems merkt sich das alles für später, um das Protein-Mäntelchen des Feindes wiederzuerkennen, zu melden und niederzumetzeln, falls er in seiner vollständigen, gefährlichen Form in unserem Körper auftauchen sollte.

Die Impfung ist also eine Simulation, eine Feueralarm-Übung:
Statt ganze Proteine oder komplette Virione in den Körper einzuschleusen, wird nur die Bauanleitung für das Spike-Protein verimpft. Der Körper wird kurzfristig zum Fremd-Produzenten, erzeugt ausgewählte Proteine des Virus selbst, und dann generiert er die Immunabwehr dazu. Unser Immunsystem kann das erworbene Wissen einige Zeit aufrechterhalten. Danach können Auffrischungsimpfungen nötig sein.

Sobald die begrenzte Menge verimpfter Baupläne (mRNA) verbraucht und zerfallen ist, versiegt auch die Produktion der Proteinteile – und damit endet der Lernvorgang des Immunsystems.
Übrigens ist das allmähliche Abfallen der Antikörper im Laufe der Monate nach der Impfung auch ein sicheres Anzeichen dafür, dass die Produktion der Protein-Teile wirklich aufgehört hat.
Wir haben als Durchschnittsmenschen leider wenig Vorstellungskraft für biochemische Abläufe, daher muss man sich diese Produktion als geradezu mechanischen Vorgang vorstellen, der nur bei Vorliegen des nötigen Bauplans und der Bausteine vonstatten gehen kann. Während dieser Produktion findet keinerlei Speicherung oder gar Vervielfältigung des Bauplans selbst statt. Auch mit unserer DNA kommen diese Baupläne nicht in Berührung.
Wie unsere körpereigenen Proteine aussehen sollen, steht in unserer DNA im Zellkern und wird bei Produktionsbedarf immer wieder neu aus ihr abgeschrieben – mithilfe der vier Buchstaben, aus denen alle Baupläne gemacht sind.
Wie das Spike-Protein aussehen soll, steht auf der mRNA der Impfung, die in begrenzter Menge vorhanden ist und nach Produktion in ihre vier Buchstaben zerfällt.

Nachdem die mRNA in Impfstoffen einen Zuschnitt von gewolltem Design darstellt, ist auch die Anpassung der Impf-mRNA an neue Virus-Varianten eine Möglichkeit.

Der von Pfizer/BioNTech entwickelte Impfstoff BNT162b2, EU-Handelsname “Comirnaty”, ist ein solcher mRNA-Impfstoff. Er wurde von der Europäischen Kommission am 21.12.2020 bedingt zugelassen, als erster SARS-CoV-2-Impfstoff in der EU. Die Ergebnisse per 10.12.2020 der Phase III der BNT162b2-Impfstudie gibt es hier.

Ebenfalls auf der mRNA-Plattform basiert der Impfstoff mRNA-1273 von Moderna. Über eine Empfehlung zur bedingten Zulassung urteilt die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) voraussichtlich am 6.1.2021. [Update: Die bedingte Zulassung ist auch an diesem Tag erfolgt].

Für die Verwendung in den USA wurden beide Impfstoffe schon früher im Dezember 2020 zugelassen.

Follow-Up:
Aus welchen Codonen der Pfizer-mRNA-Impfstoff genau zusammengesetzt ist und warum, kann man in diesem sehr coolen Berthub-Artikel erfahren, sofern man des Englischen mächtig ist.

[Updates 11/2021: Hinweise zum Kopiervorgang hinzugefügt, Moderna-Zulassung ergänzt]

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Mehr zu Vorteilen und Risiken der Impfstoffe gibts dann demnächst.

Artikel

Corona – 16 .. Impfung (2) – mRNA: Ausflug in die Zellfabrik

Dieser Artikel ist Teil 16 von 19 in der Serie "Corona" ...

Fortsetzung zum Abschnitt Impfung (1)

Ich gebe hier eine ausführliche, hoffentlich anschauliche Show zu den Vorgängen in einer Zelle mit Zellkern. Wenn man verstehen will, was mRNA ist, muss man wissen, was in einer Zelle normalerweise so passiert.
Und es geht um das Wesen von Viren. Alles natürlich im Zusammenhang mit der SARS-Cov2-Impfung.

tl; dr: Intrazelluläre Vorgänge sind extrem cool. Wer’s gern kurz mag, ist hier falsch. Goldrichtig hingegen, wer’s wie ich immer genau wissen will und gern was lernt. :)

Extrem effizient, aber wenig Spass

Viren sind die effizientesten aller Parasiten, wiewohl Viren gar nicht zu den Lebewesen zählen, und zwar genau deswegen: Sie sind völlig auf einen einzigen Zweck reduziert – sich zu vermehren. Und das, ohne Energien für etwas so Profanes aufbringen zu müssen wie Stoffwechsel, Fortbewegung, Arbeit oder gar ein erfolgversprechendes Sozialverhalten.
Party gibt’s trotzdem: in den kleinen Fabriken in unseren Zellen.

Ein Virus ist vielfach kleiner als die meisten Bakterien, und dennoch oft aus mehreren Bestandteilen zusammengesetzt.
Das wichtigste am Virus ist aber seine Erbinformation. Das ist die Bauanleitung für den Virus – für den vorhandenen, und für neue. Wer sich vervielfältigen will, muss diese Anleitung liefern.
Rund um dieses Genom des Virus sind meist noch Schichten aus Lipiden und Proteinen, ganz außen ist die Virushülle. (Dazu später mehr.)

Der genetische Code

Der funktioniert für alle Organismen weitgehend gleich:
Mithilfe von vier verschiedenen organischen Verbindungen werden Informationen codiert.
Genauer: mit Nukleotiden.
Noch genauer: Das sind zusammengesetzte Moleküle aus einer Base, einem Zuckermolekül und mindestens einer Phosphatgruppe.

Die Nukleotide liegen in der Erbinformation sehr zahlreich nebeneinander und sind chemisch miteinander verknüpft, sodass sie damit gleichzeitig das Rückgrat ihres eigenen Strangs bilden.
Wie kleine Buchstaben, die sich an den Händen halten. Naja, an den Füßen. Also, an Hand und Fuß. Blöde Metapher! :D

RNA ist (meist) einseitig angeordnete Information aus einer Reihe ihrer Nukleotide.
Sieht aus wie ein der Länge nach halbiertes Bahngleis.
In manchen Viren liegt das Erbgut in dieser Form vor (Masern, Ebola, SARS-CoV).

DNA ist zweiseitig angeordnete Information aus Reihen ihrer Nukleotide.
Daraus ergibt sich die bekannte Doppelhelix-Form: zwei gegenüberliegende und in der Mitte verbundene Stränge, die ineinandergewunden sind.
Sieht aus wie ein komplettes Bahngleis, aber ein viel zu weiches und daher in sich verdrehtes.
Die Schienen sind das Rückgrat, ein Bahnschweller jeweils zwei gegenüberliegende Nukleotide = ein Basenpaar.

Wir Menschen tragen unser Erbgut in dieser Form in unseren Zellkernen, wie alle Organismen mit echtem Zellkern und Zellmembran (Eukaryoten): Tiere, Pflanzen, Pilze – aber auch bestimmte Viren.
Auch Organismen ohne echten Zellkern (Prokaryoten) haben DNA, also Bakterien und Archaeen, aber nur direkt in ihrem Zellplasma.

(Sprachhinweis: Das A in RNA und DNA steht für Acid (Säure); das sind die internationalen Abkürzungen, sie entsprechen den deutschen Abkürzungen RNS und DNS).

Macht euch klein für einen Ausflug ins Erbmaterial!

Hier erstmal ein leiwandes kleines Video zur Protein-Biosynthese. Bitte einfach nur schauen, noch nix verstehen müssen! :)
Und dann hier weiterlesen.

Wirklich! Bitte anschauen! Es dauert nur 2 Minuten 42.
Ich warte auch hier, versprochen! =)

Anders als bei einschlägigen YouTube-Schwurbler-Videos, die man nur nachplappern braucht, muss man hier sein Köpfchen ein wenig anstrengen, um zu verstehen, was man gesehen hat.
Hier folgt das Basiswissen dazu.

Ein Buch aus Codes

Mithilfe gewitzter Codierung sind in DNA und RNA tausende Bauanleitungen gespeichert:
Die Reihenfolge, in der die Basenpaare auf dem Strang angeordnet sind, ergibt Codes, die für verschiedene Aminosäuren stehen.
Aus einer ganzen Kette von Aminosäuren kann eine Zellfabrik zB Proteine bauen.

Buchstaben

Die Nukleotide sind die Buchstaben im Buch der Erbinformation.

ஐ Bei DNA sind das A G C T: Adenin, Guanin, Cytosin und Thymin

ஐ Bei RNA sind das A G C U: dieselben ersten drei, aber Uracil statt Thymin (ist aber fast dasselbe ;)

Worte

Ein Dreiergrüppchen an Nukleotiden – ein Basentriplett oder Codon – codiert eine bestimmte Aminosäure.
Da es zur Zusammensetzung dieser Tripletts aber vier verschiedene Basen gibt, sind damit zahlreiche unterschiedliche Codone möglich. Dies teilweise mit Redundanz: Einige Codone sehen zwar verschieden aus, ergeben aber ein- und dieselbe Aminosäure; es ist also auch eine gewisse Fehlertoleranz im Code eingebaut.

Sätze

Manche Codone sind auch Satzzeichen – auf dem Strang gibt es nämlich zwischen den unterschiedlich großen Triplett-Gruppen auch Codone für Start und Stop. Damit man weiß, wo ein Bauplan zu Ende ist und der nächste beginnt.

Ein Start + viele Codone nacheinander + ein Stop = quasi ein Satz in der Erbinformation.
Dieser Satz ist ein Gen. Es codiert eine Kette aus Aminosäuren, und wenn man die in der richtigen Reihenfolge zusammenbaut, ergibt sie ein funktionierendes Endprodukt.

Kapitel und Buch

Unmengen solcher Sätze hintereinander bilden die Kapitel unserer Erbinformation, die Chromosomen.
23 Chromosomen-Paare von Mama und Papa enthält das Buch der menschlichen Erbinformation, das in unseren Zellkernen liegt – das Buch ist das Genom.
Es enthält 23.700 Gene (Sätze) aus etwa 6,4 Milliarden Buchstaben (3,2 Gigabasenpaare (Gbp) = Milliarden Basenpaare).

Satzweise Übersetzung

Aus der Anleitung für eine Kette aus Aminosäuren – aus einem Gen – kann eine Zelle ein Makromolekül bauen: ein Peptid oder Protein.

Ein Peptid ist ein Molekül aus bis zu 100 Aminosäuren (Polypeptid). Ein Protein hingegen besteht aus über hundert, bis hin zu tausenden Aminosäuren.

Bauanleitung und Zusammenbau

Einfach dargestellt passiert dieser Vorgang so:

In der Zelle gibt’s eine Zentrale: den Zellkern, und eine Fabrik: das Zellplasma (Cytoplasma, gr. kýtos: “Gefäß”).
Die Zentrale verfügt über sämtliche Baupläne in Form der DNA. Werden bestimmte Stoffe im Körper benötigt, dann erstellt die Zentrale eine Bestellkarte mit einem Satz drauf – eine kopierte Bauanleitung – und schickt die nach draußen in die Fabrik.
Dort wird die Bestellung dann ausgelesen und zusammengebaut.

SCHRITT 1: Die Bestellkarte verfassen – TRANSKRIPTION (Umschreibung)

Im Zellkern wird aus der DNA ein Satz = Gen abgeschrieben, in dem der benötigte Stoff codiert ist, und das geht so:

Ein Transkriptions-Team im Zellkern spürt das gesuchte Gen in der DNA auf.
Ein sehr nerdiges Protein (TBP) sucht und bindet sich dazu an das sogenannte Start-Codon (für Nerds: an den sog. Promotor, zB eine “TATA-Box”).

Von dort aus wird ein Stück “stromabwärts” gezählt und das DNA-Bahngleis dort dann quasi aufgezippt.
Eine kleine Kopierer-Dampflok aus Enzymen (RNA-Polymerase II-Kernkomplex) wählt die richtige Seite zum Abschreiben aus und beginnt, diese Schiene entlangzuschnaufen.

Frei im Zellkern verfügbare RNA-Nukleotide (= die Buchstaben-Kopien) schreiben währenddessen die buchstäbliche Gen-Information aus der DNA ab, indem sie sich einzeln gegenüber von den DNA-Nukleotiden platzieren.
Eigentlich schreiben sie sie aber nicht ab, sondern um:
Weil immer zwei Basen komplementär (“ergänzend”) sind:

A bindet sich gern an
T

G lieber an
C.

Und umgekehrt natürlich!

Die freien RNA-Nukleotide bilden also die Reihenfolge der Basen auf der DNA-Schiene nicht 1:1 nach, sondern komplementär.
Sie hätten dabei vielleicht auch gern
A in
T umgeschrieben – aber ach, die RNA-Nukleotide haben ja gar kein T! Und so verwenden sie stattdessen ein
U.

Steht in der DNA also
C T G A, dann wird daraus im RNA-Transkript
G A C U.

dna_transcription

Bild: “Schematische Darstellung der beiden DNA-Stränge während der Transkription und des entstehenden RNA-Transkripts” von National Human Genome Research Institute. Lizenz: Gemeinfrei
(Änderungen durch mich: *Erleichterung bei Rot-Grün-Farbenblindheit *Komplementärfarben für komplementäre Basen *sprachliche Ergänzungen)

So geht’s dahin, natürlich aber in Tripletts: Aus
CTGACGGAT wird
GACUGCCUA und so weiter.

Hinter dem Kopiervorgang schließt sich der DNA-Zipp wieder.

Auf der herausflatternden RNA-Kopie reihen sich also die umgeschriebenen Tripletts aneinander wie auf einem der Länge nach halbierten Bahngleis. Die Kopie ist einsträngig und wird danach auch noch ein bisschen zurechtgeschnipselt. Sie enthält DNA-Wörter in Spiegelschrift, die einen Satz ergeben.
Diese Botin bildet die Bestellkarte an die Fabrik.

Und genau das ist mRNA: messenger ribonucleic acid oder: Boten-RNA.

Leider ist die Botin sehr filigran, und sie sieht von vorne und hinten auch irgendwie gleich aus.
Deshalb kriegt die mRNA auf ihrer Kopfseite noch ein Käppchen aufgesetzt, damit man sieht, wo vorn und hinten ist, und damit es sie nicht zerreißt auf ihrer Reise aus der Zentrale in die Fabrik. Sie reist aus dem Zellkern hinaus und hinein ins feuchte Klima des Zellplasmas, zu den Ribosomen innerhalb der Zellmembran.

#SideFact: Die gerade beschriebenen komplementären Nukleotide bilden auch die Gegenüberseite auf der DNA-Doppelhelix – dieselbe Information nochmal gegengleich, sowas wie eine gespiegelte Sicherheitskopie. Gegenüber von A ist T, gegenüber von C ist G.
Man kann sich mit ein bisschen Gespür für Statik schon anhand der Form der Doppelhelix vorstellen, wieviel stabiler so eine DNA im Vergleich zu RNA sein muss.

SCHRITT 2: Die Bestellung ausführen – TRANSLATION (Übersetzung)

In den Fabriken außerhalb des Zellkerns wird auf Basis der mRNA-Infos die Aminosäurenkette produziert, und das geht so:

Ein Translations-Team nimmt die mRNA außerhalb des Zellkerns in Empfang und trägt die darauf codierten Aminosäuren zusammen.
Zu diesem Behufe kommt Transfer-RNA zum Einsatz:
Diese tRNA ist wie ein Adapter in Form eines Kleeblättchens, sie hat wie auf so’m Dreizack ein Basen-Triplett auf ihrer einen Seite – das sogenannte Anticodon (Anti-, weil wieder 3 komplementäre Basen zum Codon passen); auf ihrer anderen Seite glitzert die entsprechende Aminosäure.
Passt nun das Anticodon der tRNA perfekt auf das Codon auf der mRNA, dann wird die Aminosäure abgeladen.

Die spiegelhafte Informationskopie aus dem Zellkern wird also Codon für Codon übersetzt, es findet seine Entsprechung in einer Aminosäure. Dann ist das nächste Codon dran, das richtige tRNA-Anticodon passt drauf, und so entsteht eine Kette an Aminosäuren.
Aber immer schön der Reihe nach – so, wie es auf der mRNA geschrieben steht.

Die Ribosomen machen dabei die eigentliche Arbeit, sie sind quasi die Produktionswalzen und Zahnräder, die sich von einem Zustand in den anderen verwandeln, um die mRNA auszulesen und die Aminosäuren, die von der tRNA getragen werden, zur Kette zu verknüpfen.

Das Ende des Vorgangs wird erreicht, weil das Stop-Codon auf der mRNA einfach keine Entsprechung in der Anticodon-Sprache der tRNA hat. Das Stop-Codon beendet daher den Vorgang.
(Für Nerds: UAG, UGA, UAA sind Stop-Codons. Man kann also statt Stop! auch Uga! rufen (das wär ein geniales Safeword für Nerds! :))

Die Aminosäuren-Kette ist damit fertig und wird vom Ribosom freigegeben.
Sie faltet sich im Zellplasma zu ihrer dreidimensionalen Endform zusammen.

Die Proteinbiosynthese ist abgeschlossen.

Das fertige Protein wird durch die Außenmembran der Zelle geschleust und ins Leben entlassen.
Oder vielleicht bleibt es ja auch daheim – weil auch in der Zelle Proteine gebraucht werden. Ribosomen bestehen auch teils aus Proteinen, hauptsächlich aber aus rRNA (ribosomaler Ribonukleinsäure).

Proteine sind enorm potente kleine Dinger, die alles mögliche können: Signalstoffe erkennen, andere Stoffe anordnen, transportieren, für sie den Katalysator machen, sie integrieren und zu größeren Konstrukten verbinden. Sie sind für die biologische Entwicklung eines Lebewesens und den Stoffwechsel in der Zelle essentiell.

Und jetzt nochmal

das Video von vorhin.

Et voilà: Warum sich bei den Vorgängen, die man hier sieht, nicht einfach immer dieselbe Farbe gegenüber hinstellt, um die DNA mithilfe von mRNA abzubilden, dass das kein Fehler in der Darstellung ist, sondern so gewollt – das ist jetzt bestimmt klarer. (Hoffe ich!)

Bei der Translation in Aminosäuren findet über die tRNA der umgekehrte Vorgang statt wie bei der Transkription – nur dass wir hier, weil von RNA zu RNA, schon dauerhaft mit U arbeiten statt mit T.

Ein einzelner mRNA-Strang kann dabei für eine einzige solche Produktion dienen, oder auch für mehrere herhalten. Manchmal sitzen auch mehrere Ribosomen auf einer mRNA und produzieren gleichzeitig. Doch letztlich zerfällt die mRNA mehr oder weniger zufällig in ihre Bestandteile.

Wahre Komplexität

Ich weiß, das Ganze klingt hier schon eher kompliziert. Welche unglaublich differenzierten Phasen und Komponenten diese Vorgänge aber tatsächlich haben, die ich euch hier beinhart unterschlagen habe, das kann man hier angucken; und auch die “Codesonne” für die Aminosäuren-Codierung. Dort kann man, von innen nach außen gelesen, für die drei Beispiel-Codons von oben aus der Grafik die entsprechenden Aminosäuren ablesen:
GAC: Asp (D): Asparaginsäure
UGC: Cys (C): Cystein
CUA: Leu (L): Leucin

#SideFact: Die Nukleotide in der RNA und DNA sind nicht nur starre Information. Gewisse Typen enthalten auch Energie in Form von chemischen Verbindungen, die etwa als Quelle für Reaktionen bei der DNA-Replikation genutzt werden kann. Sie bilden so die ursprünglichsten Energiequellen des Lebens.

Ich hoffe, ihr könnt darüber auch so schön staunen wie ich! Jedesmal, wenn ich aus diesem genialen Mikrokosmos geistig wieder auftauche in meine gewohnte Welt, bin ich endlos fasziniert von der Vorstellung, dass diese Vorgänge in unseren Zellen in jeder einzelnen Sekunde unseres Lebens stattfinden!
Auf so winzigem Raum, innerhalb einer einzigen menschlichen Zelle, sind schon allein Ribosomen in der unvorstellbaren Menge von 10^5 bis 10^7 Exemplaren vorhanden!

Zurück zum Virus und zur Impfung

… gibt’s dann demnächst!

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Korrekturen und Fragen bitte in die Kommentare!

Credits:

Herzlichen Dank für die Beantwortung meiner Fragen der lieben Dr. Julie Blommaert, Mikrobiologin mit Expertise in Genom-Sequenzierung, Transponierbare Elemente und Evolutionary Genomics.

Artikel

Corona – 15 .. Unser Weihnachten?

Dieser Artikel ist Teil 15 von 19 in der Serie "Corona" ...

Was brauchen wir wirklich für “unser Weihnachten”? Das Feiern der Nächstenliebe könnte im Jahr 2020 darin bestehen, daheim zu bleiben.

Armselig ist, wenn ein Messias geboren wird und danach in einem Futtertrog schlafen muss.
Diese Armseligkeit liegt nicht am Messias. Sie liegt an denen, die keine Herberge hatten für die schwangere Maria und ihren Mann.
So zumindest geht die Legende, diese armselige Situation war es, die von Christen zum Kult erhoben wurde – die Krippe, Ochs’ und Eselein als Mahnmal für die Hartherzigen und Fremdenfeindlichen.

Für uns ist das so normal, aber besieht man die Krippe mal aus einer etwas distanzierteren Perspektive, dann ist es schon bemerkenswert, wie so eine furchtbare, karge Situation jedes Jahr nachgestellt und angebetet wird. Die Krippe sollte als Erinnerung dienen, dass genau dieses Kind später in seinem Leben für Milde, Güte und Nächstenliebe eintrat.
Weil Milde, Güte und Nächstenliebe dringend nötig waren in dieser harten, kalten Welt.

Und das sind sie immer noch. Aus unserer Regierung hört man genau nichts über die Geflüchteten im Lager in Kara Tepe auf Lesbos, und seit gestern darf von dort auch nicht mehr berichtet werden, keine Fotos, keine Videos.
Man kann von hier aus nicht helfen, außer mit Unterstützung und Spenden (siehe ganz unten).
Man kann nur bei der nächsten Wahl sein Kreuz dort machen, wo Nächstenliebe kein Fremdwort ist.
Das ist diese “flexible Solidarität”, die sie meinen, die EU und unser Herr Kanzlerdarsteller. Wir schauen flexibel woanders hin. Wir haben schließlich unsere eigenen Probleme – die wir aber auch nicht lösen.

Daher soll nun unser Blick darauf umgelenkt werden, ob wir shoppen und skifahren “dürfen”, und was denn nun mit “unserem Weihnachten” ist. Indessen drückt uns im Fernsehen ein Spot rein, es würde uns vor einer Infektion schützen, zum Massentest zu gehen. Da piept und blinkt der Bullshit-Detektor sogar bei der Risikogruppe über 80. Und wer aus einem Risikogebiet einreisen will, der muss… Breaking: Wir sind das Risikogebiet!

Jo, und wenn alle Fingerzeige nicht helfen, droht man uns kurz mal an, die Polizei dürfe zur Kontrolle daheim vorbeikommen.

Das alles ausgerechnet von der Partei, die neuerdings Gebete im Parlament abhält, was natürlich interkonfessionell ist, aber freilich ohne Muslime auskommt (also mehr so intrakonfessionell eigentlich) – und von ihrem mundtoten grünen Anhängsel. Vermutlich haben sie keine andere Idee mehr als beten? Statt alles dichtzumachen, damit die Infektions- und Todeszahlen auf ein Maß sinken, das ein echtes Weihnachtsgeschenk wäre.

Sie zeigen auf die armen Nachbarländer, auf die Todeszahlen in den USA, weil die absoluten Zahlen eines so großen Landes ja auch so schön schockierend sind. Da muss wohl viel mehr schiefgehen als bei uns! Nur dass wir auf unserer vermeintlichen Insel der Seligen pro 100.000 Einwohner mehr Tote haben als die USA – mit unseren Werten hätten sie vorgestern (11.12.) nicht 2951 Tote vermeldet, sondern 3662. Auch Deutschland hat pro 100k nur halb so viele tägliche Covid-Todesfälle wie wir.

Corona ist aber kein Wettbewerb, und schummeln ist nicht drin. Fürchte aber, die können gar nicht mehr in anderen Begriffen denken als “Wer ist besser, wer ist beliebter, wie können wir das Desaster für uns noch positiv framen?”
Es gibt nix zum positiv-Framen, die Leute krepieren reihenweise, die Spitäler krachen, die Regierung hats verkackt!

In Deutschland wird ein harter Lockdown von einem Zusammenschluss der Wissenschaft dringend eingefordert und ab Mittwoch umgesetzt, und das bei einer Inzidenz von 20 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner.
Bei uns gibt’s hingegen bei einer doppelt so hohen Inzidenz fröhliche Lockerungen, da macht die Regierung den Handel, die Dienstleister, Museen und Schulen wieder auf. Hurra, soll das Volk doch seine Kaufkraft noch schnell ins Weihnachtsshopping leiten, bevor es verreckt.

Zur Ablenkung zeigen sie mit nacktem Finger auf die bösen Reise- und natürlich insbesondere Herkunftsländer-Rückkehrer im Sommer, während drei Finger deutlich auf sie zurückzeigen.
Und erzählen immer noch was von Eigenverantwortung, weil sie selber nichts anderes denken können als “ich, ich, ich”. Eigen.
Niemand entscheidet jetzt für sich allein. Jeder Versuch, einzelne Gruppen aus dem Infektionsgeschehen auszuklammern, führt zurück zu dem Schluss, dass alles verbunden ist. Dass wir alle verbunden sind: Die Kinder mit den Alten. Die Verleugner mit den Risikogruppen. Die Menschen mit der Wirtschaft.
Die gesuchten Worte heißen also Verantwortung und Rücksicht.
Der Aufruf zur Eigenverantwortung ist nur das Vorbauen für die nächste Schuldzuweisung an das Volk. Nach Weihnachten. Mark my words.

Statt an einer Zahl, bei der man die Kontrolle über das Contact Tracing nicht komplett verliert, die Maßnahmen an der obersten Kapazität der Spitäler festzumachen, enthielt eine klare Botschaft seitens der Regierung: Es werden so viele Kranke und Tote in Kauf genommen, wie das Gesundheitssystem gerade noch bewältigen kann, Hauptsache man kann so schnell wie möglich wieder aufsperren. Und die heilige Skisaison klappt.
Diese Kranken und Toten sind wir. Es könnte jeder und jede von uns sein, die hier einer Regierung zum Opfer fällt, die von Milde, Güte und Nächstenliebe nur vom Hörensagen weiß. Wäre es nicht gewollt, bis auf Anschlag zu gehen, dann wäre man nicht so weit gegangen.

Von welchem Weihnachten reden die also eigentlich? Ist noch dieses Christenfest gemeint?
Weihnachten ist das Fest der Nächstenliebe. Nicht der Selbstverliebtheit. Es gibt eine Menge Menschen, die jetzt Nächstenliebe und Solidarität brauchen: Die Geflüchteten auf Lesbos. Die Covid-Risikogruppen. Was für heuchlerische Christen und Christinnen wären wir, wenn wir ausgerechnet zum Fest der Nächstenliebe diese Solidarität nicht aufbringen, weil wir “unser Weihnachten” wollen?

Mit den Öffnungen ab 7.12. geht sich eine neue Welle zu Weihnachten leider gut aus. Okay, dann will die Regierung uns eben nicht schützen. Ein Ausbund an Empathie war sie ja noch nie. Dann müssen wir eben die Gscheiteren sein.

Nächstenliebe könnte heuer bedeuten: Anderen Menschen körperlich fernbleiben. Besonders denen, die man lieb hat.

Den anderen bleibt man sowieso eher fern. Und manche sind nie richtig anwesend, wenn sie mit ihrer Familie in einem Raum sind. Ich behaupte: Wenn man in der Familie keine seelische Nähe hat, dann ist Weihnachten auch nicht die Krönung für ein Jahr voller Zuwendung und Liebe. Es soll ein Ersatz dafür sein. Davon hat niemand was. Und das liegt nicht an räumlicher Distanz.

Wenn man diese Nähe aber hat, kann und möchte, dann kann man zu Weihnachten telefonieren, skypen, zoomen – den ganzen Tag über, wenn man will. Man könnte mal über wesentliche Dinge miteinander reden, vielleicht ein bisschen tiefergehend als sonst, über Gefühle, Liebe und Dankbarkeit. Man kann auch rumblödeln oder miteinander singen. Man kann sich seelisch sehr nahe sein, auch wenn man keinen Raum miteinander teilt. Man braucht nur mit seinem Herzen voll anwesend zu sein. Das ist eine Frage des Wollens.
Was wir wollen, ist, dass unsere liebsten Menschen immer noch da sind, wenn die Pandemie vorbei ist, damit wir mit ihnen feiern können.

Man kann größere Familien bestimmt auch auf mehrere Orte aufteilen, in jeder kleinen Gruppe ein Mensch, der ein iPad bedienen kann und ein jitsi- oder Zoom-Meeting zusammenbringt – dann kann man einander zur Bescherung trotzdem sehen. Dafür müssen nicht zehn Leute in einem Raum sitzen. Man kann sich organisieren, in die Gänge kommen und sich was Kluges ausdenken. Gruppen halbieren und bei dieser Halbierung bleiben, zumindest bis wir das Gröbste überstanden haben, das ist immer noch eine der besten Strategien, die wir haben. Und in diesen Gruppen: Masken, lüften, Abstand halten, nicht zu lange bleiben.

corona-rk-weihnachten Ihr könntet jederzeit schon ansteckend sein, auch wenn ihr euch gesund fühlt. Und andere können das genauso sein. Ja, auch wenn ihr vorgestern negativ getestet worden seid.

Also fragt nicht danach, was erlaubt ist. Fragt, was vernünftig ist. Glaubt nicht nur das, was euch in irgendwelchen Pressekonferenzen aufgetischt wird. Lest mehrere Zeitungen und nicht nur eine.
Hört auf die Experten!
Informiert euch über Aerosole!
Und unterstützt eure lokale Wirtschaft, wenn ihr das gefahrlos könnt.

Wenn ihr irgendwelches Halb-So-Schlimm-Geschwurbel hört, dieses oder jenes würde “nichts bringen” oder wäre “gefährlicher als das Virus selbst”, dann müsst ihr auch nicht sofort wissen, was wahr ist. Ihr müsst wissen, was nach dem aktuellen Wissensstand vernünftig ist. Entscheidet euch im Zweifel für die Vorsicht. Denn Entscheidungen dagegen lassen sich nicht mehr rückgängig machen. Und mögen sie nachträglich betrachtet noch so “übertrieben” gewesen sein.

corona-uebertragungsrisiko Und fordert eure Regeln ein! Das ist nicht die Zeit, sich unbesorgteren Mitmenschen zu beugen, weil man nicht als übervorsichtig verspottet werden will, sich nicht unbeliebt machen oder keinen Unfrieden stiften. Oder weil man die schlechte Nachred’ vermeiden will, die man hat, wenn man nicht in die Kirche geht.
Wenn ihr wollt, dass die Leute bei euch daheim Masken tragen, dann sagt das. Wenn ihr nur ein kurzes Treffen oder kurzen Besuch wollt, sagt das. Wenn man eure Wünsche nicht respektiert, seid ihr alleine besser dran.

Ja, ich weiß, dass Einsamkeit nicht lustig ist. Ich weiß, dass nicht jede/r die heutige Technik bedienen kann. Dass Kinder das Christkind brauchen. Dass es Ausnahmen geben muss, dass Omas abgeholt werden müssen. Dann kann und sollte man sich vorher isolieren, 10 Tage wären gut, also ab morgen.

Aber wir, die wir es können, und unsere Angehörigen, die es können – da stirbt niemand, wenn wir zu Weihnachten mal alleine zu Hause bleiben.
Wenn wir es nicht tun aber womöglich schon.

Schon deshalb sollten wir bei Nächstenliebe und Rücksicht bleiben und uns nicht von der Verrohung anstecken lassen, deren kalter Wind uns aus der Regierung contra-vorbildhaft entgegenweht.

Apropos kalter Wind: Der Flüchtlingsarbeit kann man derzeit mit Geld helfen: Etwa der lieben und engagierten Doro Blancke, die gerade in Kara Tepe auf Lesbos ist. Oder Courage Jetzt.

Denn falls der neue Messias in Kara Tepe geboren wird, müssen wir uns sonst künftig überflutete Zelte ins Wohnzimmer stellen, die im kalten Wind flattern. Als Mahnmal für die Hartherzigen und Fremdenfeindlichen.

Artikel

Corona – 14 .. Massentest

Dieser Artikel ist Teil 14 von 19 in der Serie "Corona" ...

Bevor ich weiter über die Impfung blogge, muss ich noch loswerden, warum ich die geplanten Massentests für eher sinnlos halte. Das liegt nicht daran, dass ich es nicht gscheit finden würde, wenn man Infizierte auch erkennt. Es hat was mit Wirtschaftlichkeit zu tun.

Nur dass der sogenannte “Hausverstand” bei diesem Thema bei den wenigsten anschlägt.
Deshalb will ich’s hier erklären, damit ich das die nächsten 50 Mal am Telefon nicht muss. :)

Es ist nur einfache Mathematik und ein bisschen Schlussfolgerung. Und es lohnt sich!

Vorab ein Hinweis
Der “Antigen-Test”, der für den Massentest verwendet wird, ist kein Antikörper-Test! Als Antigen wird jener Teil der Außenhülle des Virus bezeichnet, an dem die menschliche Immunabwehr den Erreger wiedererkennt. Es werden beim gleichnamigen Test Virenpartikel nachgewiesen, anders als in der PCR aber nicht virales Erbgut, sondern Teile seiner Hülle (“Spike-Protein“).
Auch wenn das Wort Antigen-Test also danach klingen mag – es wird dabei nicht nachgewiesen, ob man bereits eine Infektion hatte und daher Immunabwehr gebildet hat.

In den (bisherigen) Testraßen stehen teilweise sowohl Antigen- als auch Antikörper-Tests und natürlich auch PCR-Tests zur Verfügung.
Die für den Massentest angeschafften Testkits sind Antigen-Schnelltests dreier verschiedener Hersteller. Es ist aber natürlich nicht auszuschließen, dass auch andere Tests verfügbar sein werden.

Nun zur Wirtschaftlichkeit
Der Einfachheit wegen erstmal nur die erste Hälfte:

SPEZIFITÄT 98%:
Wenn ein Test eine Spezifität von zB 98% hat, dann heißt das, dass er von 100 Gesunden 98 auch als Gesund erkennt, der Test also 98 mal negativ ausfällt. Diese Spezifität nehmen wir für die Beispiele an.
(Und wir nehmen vorerst an, der Test würde alle Infizierten richtig erkennen.)

Beispiel 1:
Bei einer niedrigen Prävalenz in der Bevölkerung, also wenn nur ein sehr geringer Anteil tatsächlich infiziert ist, sieht das so aus:

PRÄVALENZ 3%:
Von 1000 sind 30 infiziert und 970 gesund.
Die Tests werfen 2% der Gesunden als positiv aus, das sind 19 Falsch-Positive.
Auf 30 Infizierte.
Insgesamt gibt’s 49 Test-Positive, davon sind 19 in Wirklichkeit gesund, das sind satte 39% der Positiven.

Die reale Infektionsrate ist 3%, die Positivrate der Tests 4,94%. Das klingt nach wenig Unterschied, ist aber ein Faktor 1,65.
Testet man sehr viele Menschen, rechnen wir’s mal Tausend, haben wir in einer Million Getesteter 30.000 Real-Infizierte und 19.400 Falsch-Positive. Im Verhältnis zu dem, was dabei rauskommt, ist das sehr viel.

Beispiel 2:
Testet man hingegen in einer Umgebung oder einer Gruppe, in der die zu erwartende Prävalenz hoch ist – unter Gesundheitspersonal, in Altersheimen, in Clustern und um sie herum – dann sieht das Verhältnis schon anders aus:

PRÄVALENZ 20%:
Von 1000 sind 200 infiziert und 800 gesund.
Die Tests werfen 2% der Gesunden als positiv aus, das sind 16 Falsch-Positive.
Auf 200 Infizierte.
Von insgesamt 216 Test-Positiven sind in Wirklichkeit 16 gesund, das sind nur noch 7%. Statt 39% wie oben im ⇧Beispiel 1 mit nur 3% Prävalenz.

Mit Faktor Tausend: Sinds zwar immer noch 16.000 Falsch-Positive, “nur” 3400 weniger als oben – aber im Verhältnis zur viel höheren Anzahl von 200.000 Infizierten, die man erkannt hat. Die reale Infektionsrate ist 20%, die Positivrate der Tests 21,6%. Faktor: 1,08.

Und mit echten Zahlen?
Prävalenz: Jeder weiß, dass unsere Infektionszahlen zu hoch sind. Aber in % der Gesamtbevölkerung?
Nun hat die Statistik Austria unlängst zufällig in ihrer dritten Prävalenzstudie hochgerechnet, dass Mitte November etwa 3,1% Infizierte in der Bevölkerung waren. Das sind in absoluten Zahlen zwar 276.000 Menschen, aber im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung ist das ein sehr geringer Anteil.

Spezifität: Die angekauften Schnelltests haben im Schnitt eine Spezifität von 98,8%.

-> Testet man mit dieser Kombination nun die halbe Bevölkerung durch, liegt das Ergebnis nahe am ⇧Beispiel 1 und zu weit weg vom ⇧Beispiel 2.
Die hohe Positivrate der bisherigen Testungen, Mitte November bei 20% bis über 40%, zeigt also nicht, dass dieser Anteil der Bevölkerung krank wäre, sondern wie gezielt hier getestet wird/werden muss.

Na und?
Das Problem: Alle positiven Antigen-Tests müssen mittels PCR-Test bestätigt werden. Das ist bei einer so hohen Falsch-Positiv-Rate wie im ⇧Beispiel 1 eine zusätzliche Verschwendung von Geld, Zeit und Ressourcen, die ohnehin knapp sind. Es zieht Kosten und unnötige Kontakte nach sich. Und unsere wahren Zahlen sind eben viel näher am ⇧Beispiel 1.

Weiteres Problem: Alle Testpersonen müssen sich schonmal zum Testpunkt bewegen. Das ergibt eine enorme Mobilität, die zu einem großen Teil in den Öffis stattfinden wird. Sie werden in der Kälte warten müssen oder gemeinsam mit anderen in Innenräumen, auch mit Terminvergabe wird das kein Rein-Raus. Das sind viele unnötige Risikofaktoren.

Wenn Menschen, die gemütlich daheimsitzen könnten, zu Nach-Testungen rennen, entsteht noch mehr Gewusel. Von den nervlichen Auswirkungen eines falsch-positiven Ergebnisses mal ganz zu schweigen.

Und nochmal schnell nach-testen?
Eine sofortige Nach-Testung mit dem (gleichen) Antigen-Test hat übrigens insofern weniger Sinn, weil die falsch-positiven Tests nicht rein zufällig anschlagen, sondern mitunter aus einem konkreten Grund. ZB wegen bestimmter Bakterien in Rachen oder Nase, auf deren Antigene der Test versehentlich anschlägt. Diese Stämme sind bei diesem Menschen vermutlich heimisch, sodass auch der Nach-Test wieder positiv wäre. In der PCR werden hingegen Teile des Virus-Erbguts gesucht.

Selbst wenn sofort nach dem Schnelltest ein Abstrich für die PCR-Nach-Testung durchgeführt werden kann (in Wien wird das so sein) – das PCR-Ergebnis erhält man nicht sofort. PCR-Tests sind aufwendig, teuer und nicht endlos vorhanden, und auch bei den Menschen, die sie durchführen und auswerten, hat der Tag nur 24 Stunden. Für jede PCR-Nach-Testung eines falsch-positiven Tests muss womöglich ein Mensch, der Symptome hat, auf sein Ergebnis länger warten.

Nach dem finanziellen Fiasko bei der Beschaffung der 10 Mio. Schnelltests, bei der irgendwie vergessen wurde, einen Mengenrabatt auszuhandeln, und die daher 10 Millionen mal 2,67 € mehr gekostet haben als die Slowakei für ihre (gleichwertigen!) Schnelltests bezahlt hat – da wärs hochgradig sinnvoll, wenn sie nun zumindest so zielführend wie möglich eingesetzt werden.

Wird beim Massentest nur ein Viertel der jetzt angekauften Tests verbraucht, dann sind es in echten Zahlen 28.000 falsch-positive Ergebnisse, die man nach-testen muss. Das sind 28.000 Schnelltests und nochmal 28.000 PCR-Tests, die man anderswo besser nutzen könnte – dort, wo eine hohe Infektionsrate vermutet wird, dort wo Symptome vorhanden sind, dort wo man Menschen vor Ansteckung durch andere schützen muss.

Logisch: Je mehr Infizierte unter den Getesteten, umso weniger Gesunde bleiben, von denen 2% falsch-positiv sein werden. Aber der “Hausverstand” erfasst diesen Aspekt nicht so schnell und intuitiv.

Was ist mit den Falsch-Negativen?
Das Gefahrenpotential der Falsch-Negativen liegt weitaus deutlicher auf der Hand; vermutlich wird deshalb auch öfter darüber gesprochen.

Um darauf also noch kurz einzugehen: Ja, die gibt’s auch – tatsächlich vorliegende Infektionen, die vom Test nicht erkannt werden.
Wenn die Sensitivität eines Tests bei 95% liegt, heißt das: von 100 vorliegenden Infektionen bleiben 5 unerkannt.

Ob der Test anschlägt, hängt auch stark vom Zeitpunkt im Infektionsverlauf ab – am zuverlässigsten tut er das in den ersten 5 Tagen ab Symptombeginn, weil da die Viruslast am höchsten ist. Der positive Aspekt daran: Wenn der Antigen-Test (richtig)-positiv ist, weiß man: ich bin momentan auch wirklich ansteckend. Das ist ein kleiner Informationsvorsprung gegenüber dem PCR-Test.

Die Chance, dass Asymptomatische oder Präsymptomatische bei einer Massentestung erkannt werden, hängt aber eben an dieser Viruslast, die durchaus (noch) gering sein kann. Dazu muss eben auch der Testzeitpunkt zum Fortschritt der Infektion passen. Ob man Asymptomatische im Massentest wirklich in ausreichender Zahl erkennen kann, weiß man also nicht.

Ich verschone euch mit dem erweiterten Rechenbeispiel, das beide Faktoren miteinbezieht. Der Effekt der falsch-negativen Ergebnisse scheint die Falsch-Positiven ein wenig “auszugleichen”, aber das tut er natürlich nicht. Wenn es auch Falsch-Negative gibt, kommt man an die wahre Anzahl von Infizierten und Nicht-Infizierten zwar näher heran, aber sie ist den jeweils richtigen Getesteten nicht besser zugeordnet.
(Falls sich jemand für Rechenwege, Quotienten, Vorhersagewerte u.ä. interessiert, gerne Kommentar, ich nehme dann Kontakt auf.)

Massentests mit solchen Falsch-Negativ-Raten just bei hoher Prävalenz zu machen – so wie ich es aufgrund der ⇧Rechenbeispiele oben als sinnvoller einordne – erscheint einem folglich zwar auch nicht unbedingt ideal, weil umso mehr Infektionen unerkannt bleiben. Allerdings mit einem markanten Unterschied: Unerkannte Verbreiter entstehen nicht erst durch einen Massentest, wenn sie falsch-negativ sind – die rennen sowieso herum! Falsch-Positive, die sich nach-testen lassen müssen, aber nicht.

Negativ! Hurra?
Ein negatives Testergebnis ist nur eine Momentaufnahme. Es besteht die Gefahr, dass Menschen sich danach allzu sicher fühlen und sich versehentlich für unverwundbar halten. Man kann sich aber auch fünf Minuten nach dem Test anstecken. Und hat daher keinerlei Grund, zehn Minuten danach sorgloser zu sein als vor dem Test. Wenn ich ein Selfie mache und drei Minuten später beginnt mir ein Pickel auf der Nase zu wachsen, dann kann ich mit dem Foto auch nicht beweisen, dass ich gar kein Wimmerl hab.

Von eigenwilligen und freiwilligen Ergebnissen
Die Massentests in der Slowakei waren zumindest günstiger gekauft als bei uns, aber freiwillig war die Teilnahme nur scheinbar. Wer positiv getestet wurde, musste sich streng isolieren. Wer sich nicht “freiwillig” testen ließ, musste das aber ebenfalls, und zwar unter Androhung von Strafen bei Zuwiderhandlung von bis zu 1600€. Mit so rigorosen Ausgangssperren kann man die Kurve natürlich auch nach unten bringen. Dafür braucht man aber keine Testkits für 67 Euromillionen.

Man wird sich solche Maßnahmen eventuell auch hierzulande vorher ausdenken, wenn man uns vom Kanzleramt aus die Ergebnisse der Massentests bei relativ niedriger Prävalenz hinterher dennoch als Erfolg verkaufen will; oder mit Verlängerung des Lockdowns für alle drohen, um den Gruppendruck zu erhöhen; oder was ähnlich Lustiges.
Hinterher werden keine akurraten Zahlen vorliegen, und stattdessen wird der erste Frame mit schöngefärbtem Bullshit besetzt: Sehet, die Kurve!

Und so einen “Effekt” möchte ich mir dann nicht von der Regierungs-Glitzi-PR als wundersame Folge einer sündteuren, tendenziell sinnlosen Massentestung verkaufen lassen müssen. Wenn ihr versteht. Ich lass mich nur ungern für dumm verkaufen.

Konklusio
Es klingt trivial, aber: Um so viele Positive wie möglich rauszufischen, muss man so viele Positive wie möglich testen.
Dieses Ziel erreicht man nicht, indem man so viele Negative wie möglich testet.
Und je weniger Negative man testet, umso weniger Falsch-Positive erhält man, und umso weniger Folgekosten hat man.

Soll ich nun oder nicht?
Wenn man Symptome hat, wird man sich ohnehin testen lassen – dann aber besser in einer der PCR-Teststraßen. Man ist dann vermutlich froh, wenn man nicht hinter drölfzig fröhlich-gesunden Leuten warten muss; und umgekehrt ist es für die Gesunden, die zum Massentest gehen, auch ungefährlicher, wenn sie gar nicht erst mit Symptomatischen in Kontakt kommen.

Testen lassen also ja, wenn:
ஐ Verdächtigen Kontakt gehabt
ஐ In Gegenden mit hoher Inzidenz
ஐ Zum Beruhigen eines unguten Gefühls (aber wohlwissend, dass man unter den 2% sein könnte…)
ஐ Bei (zB beruflicher) Situation mit hohem Risiko
ஐ Oder zur Vermeidung von angedrohten Konsequenzen, die man nicht tragen will.

Hat man sich hingegen seit Monaten isoliert und alle unnötigen Risiken strikt vermieden, dann sollte man genau das auch weiterhin tun.

Würde ich trotz allem nicht auf die Teilnahme verzichten wollen, dann würde ich versuchen, den Menschen mit Symptomen, die sicher auch kommen werden, zumindest zeitlich den Vortritt zu lassen. Am letzten möglichen Tag hingehen zB. Oder, falls Terminvergabe, mich erst so spät wie möglich anmelden.
Wenn die Organisatoren klug sind, sortieren sie die Wartenden nach Symptomatischen und Symptomfreien – aber verlassen würd ich mich darauf nicht.

Eine Frage des Wo
Sollten nach Ende der Massentests sehr viele Tests unbenutzt übrigbleiben, dann dürfen wir hoffen, dass die sicher anderswo guten Gebrauch finden werden, wo sie mehr Sinn haben, und wo wiederholte Testungen die Sicherheit erhöhen: Beim Gesundheitspersonal, im Altersheim, in Schulen mit Verdachtsfällen, in stark betroffenen Gegenden und in Clustern.
Die jetzt eingesetzten Kräfte und Energien hingegen würde ich mir anderswo hinwünschen, zB zur Vorbereitung der Impflogistik.

Artikel

Corona – 13 .. Impfung (1)

Dieser Artikel ist Teil 13 von 19 in der Serie "Corona" ...

Impfen und impfen lassen – Wann geht Corona den Weg des Dodo?

Entscheidungen trifft man am besten auf Basis von breitgefächerter Information. Zu den Impfungen gegen das SARS-Cov-2-Virus gibt jetzt schon sehr viel zu erfahren und zu wissen. An weiterer Information wird im Laufe der nächsten Wochen und Monate auch noch einiges eintrudeln.

Ich hab mir einige Aspekte zum Thema Impfung angesehen, manche sogar sehr genau. Hier steht, was ich dabei herausgefunden hab.
Zunächst ein allgemeiner Teil, es folgt ein speziellerer über Covid-19-Impfungen, mRNA, Vektorimpfstoffe, Zulassungsverfahren etc.

Bis die klinischen Studien abgeschlossen sind,
bis die Ergebnisse feststehen,
bis die Zulassungen erfolgt sind,
bis die tatsächlichen Lieferungen fertig ausverhandelt, Vorbesteller bedient und logistische Herausforderungen gelöst sind,
bis Gesundheitspersonal und Risikogruppen geimpft sind…
bis unsere (Normal-)Bevölkerung tatsächlich durchgeimpft werden könnte und soll,
rinnt noch sehr viel Wasser die Donau runter.

Diese Zeit kann man nutzen, auch als Ottilie oder Otto Normalverbraucher, um sich schlau zu machen. Ihr solltet euch diese Zeit und Gelegenheit nicht von geistigen Abkürzungen in Schwarzweiß oder von voreiligen Verteufelungen nehmen lassen.

tl; dr: Impfen ist cool. Trittbrettfahren ist uncool. Hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht. Die Option “ALLes-HaPPy” auch nicht.

Impfen lassen oder was?
Eine Impfung ist ein Tauschhandel:
Man kriegt die Leistung “habe stark abgeschwächte Form einer Infektion durchgemacht” bekanntlich im Idealfall mit Immunität vergütet. Nicht der schlechteste Tausch im Vergleich zu einer voll ausgebrochenen Infektion. Keine Impfung führt zu 100% sicherer Immunität. Aber es führt auch keine Erkrankung zu 100% sicherem und folgenlosem Überleben.

Was man beim Impfen noch kriegt: Eine Herdenimmunität in der Bevölkerung, die – bei Covid-19 – hoffentlich letztlich über 60% (“HIT”, Immunitätsschwelle) liegen wird.

Findet die Impfung keine ausreichende Akzeptanz, dann müssen wir weiterhin “auf dem alten Weg” dorthin – durch weitere Infektionen. Was das bedeutet, habe ich im vorhin verlinkten Artikel umrissen.
Das alles setzt natürlich voraus, dass eine Immunität gegen SARS Cov-2 überhaupt für längere Zeit anhält – ob nun durchgemacht oder geimpft.
Untersuchungen dazu (Preprints eins, zwo) deuten auf eine moderat haltbare Immunität von acht Monaten oder mehr hin. Wobei man bei einer so jungen Viruserkrankung eine jahrelange Immunität auch nicht zweifelsfrei beweisen kann, mangels jahrelanger Evidenz; man kann sie maximal aus Vergleichen ableiten, und auch dabei wird man sehr vorsichtig sein.

Wir haben also mit der Impfung die Wahl auf einer Skala – pardon my French – zwischen bissi-gschissn und mega-gschissn.
Genauer:

  • Option 1:
    Vorsichtsmaßnahmen und ggf wiederholte “Lockdowns”, um das Infektionsgeschehen einzubremsen – denn selbst zum Ziel “Herdenimmunität auf dem alten Weg” kann man das Geschehen nicht unkontrolliert wüten lassen
  • Option 2:
    Uns locker machen, uns noch wahrscheinlicher anstecken, Coronainfektion ausbaden, zum Preis des individuellen Risikos der Krankheit selbst, ihrer Folgeerscheinungen; einer Überlastung unseres Gesundheitssystems und daraus folgend auch einer höheren Fallsterblichkeit.
  • Option 3:
    Uns über eine Impfung freuen und uns immunisieren. Dann zurück zu Option 1 bis zur Herdenimmunität.

Eine Option 0 namens “ALLes-HaPPy” steht übrigens seit Anfang 2020 nicht mehr zur Verfügung. Die Folgen einer Impfung oder auch anderer Maßnahmen damit vergleichen zu wollen, wie es vor der Pandemie war, mag zwar seelisch verlockend sein, um die Wirklichkeit auszublenden. Und vermutlich ist es deshalb auch ein gern genommener rhetorischer Trick der Schwurbler: einfach mal so tun, als gäbe es doch auch noch Option 0.
Aber die gibt es nicht, das ist naiv, unrealistisch und irreführend.

„Woah, NeBenWiRkUnGeN!!11“ ??
Willkommen im menschlichen Körper! Wenn sich Immunabwehr bildet, dann spürt man das.
Nach einer Infektion braucht das Immunsystem etwas Zeit, um den Feind zu identifizieren. Dann beginnt es, den Erreger zu markieren, um ihn beseitigen zu lassen, infizierte Zellen zu killen und den Abtransport zu organisieren, organismusweite Regimente aufzustellen und ortsständige spezifische Abwehr in gewissen Körperarealen zu bilden oder zu aktivieren, zB in den Schleimhäuten von Mund, Nase, Rachen und Lungen. Zytokine, B-Zellen und T-Zellen sind dann in voller Action, und dabei entsteht das Krankheitsgefühl: Fieber, Gliederschmerzen, Flüssigkeitsansammlungen und deren Auswurf.

Krankheitsgefühl beruht zu einem guten Teil also direkt auf dem Lösungsversuch des Körpers. Bei einer Impfreaktion fällt es weit milder aus als bei einer heftigen Infektion mit großer Viruslast. Der Körper muss nach einer Impfung nicht gegen eine ganze Armada an Feinden gleichzeitig kämpfen, sondern kann easy-peasy seine Abwehr in Aufstellung bringen.
Weil man sich aber impfen lässt, wenn man gesund ist, neigt man dazu, Impfreaktionen mit dem gesunden Zustand zu vergleichen, und – mangels Erfahrung – nicht mit einem kranken Zustand.

Trittbrettfahrer
Vom Immunitätsstatus der anderen profitieren diejenigen, die nicht immun sind.
Die fehlende Immunität kann – wie bereits erzählt – verschiedene Gründe haben:
ஐ noch nicht impfbar
ஐ gar nicht impfbar
ஐ impfbar, aber nicht impfwillig

Trittbrettfahrer vulgo Impfscheue profitieren zwar von der Herdenimmunität, wollen dazu aber nichts beitragen. Sie wähnen sich als wahre Helden und Heldinnen der Gesellschaft, weil sie meinen, das Risiko einer Infektion “voll auf sich zu nehmen” – was sie nicht tun, weil die Allgemeinheit auch für ihre Infektion aufkommen muss; und was sie nicht mehr müssen, sobald die Schwelle in den anderen Menschen auch ohne ihr Zutun erreicht ist. Ihr eigenes Risiko bewegt sich dann gegen Null, es sinkt natürlich auch schon davor, mit jeder Immunisierung eines anderen Menschen. Trittbrettfahrer sagen dafür auch nicht “danke”, sondern “selber schuld”. Wenn das alle täten, hätten wir gegen keine einzige Infektionserkrankung Herdenimmunität. Das ist, als wollte man in einem gemeinsamen Swimmingpool eine Pinkelzone einrichten.

Unsere europäische Welt mit einer weitgehend gegen vieles immunen Bevölkerung ist nicht vergleichbar mit einer Welt, in der sämtliche Infektionskrankheiten sich ungehindert ihren Vermehrungsweg durch die Menschheit bahnen würden. Und die Vorstellung einer solchen Welt ist uns auch nicht mehr präsent. Manche Krankheiten sind schon so lange her, die Immunität in der Bevölkerung so hoch, dass manche dann tatsächlich meinen: “Ach das, das hatten wir doch seit hundert Jahren nicht!” und meinen: “Dagegen braucht man sich doch nicht mehr impfen lassen!”

Dass sich so eine Welt heutzutage kaum jemand mehr vorstellen kann, ist durchaus ein Beweis, und zwar für die Geschichtsvergessenheit der Menschen. Aber nicht gegen die Sinnhaftigkeit von Immunität. Bias: Man verwechselt die Nichtverfügbarkeit eigener Erinnerung mit Nichtexistenz. Oder Harmlosigkeit.
Da wird die Impfung das Opfer ihres eigenen Erfolges. Die fehlende Erinnerung ist eine direkte Folge der erreichten und aufrechterhaltenen Herdenimmunität gegen sehr viele Krankheiten. Eine vermeintliche Harmlosigkeit daraus abzuleiten ist ein Fehlschluss. Präventionsparadoxon.

Ich kannte noch eine Frau, die ihren kleinen Sohn zwei Wochen vor seinem ersten Geburtstag an eine Abfolge von Masern, Lungenentzündung und Diphterie verloren hat, während sie selbst an Diphterie erkrankt war. Sie ist ihr ganzes Leben lang nicht richtig darüber hinweggekommen. Soviel zu Erinnerungen und fehlenden Erinnerungen.

Negative Effekte
Um die negativen Effekte von Immunisierungen auf dem Impfweg nicht unter den Tisch fallen zu lassen:
Natürlich gibt’s die, etwa wenn Krankheitserreger umsatteln auf eine andere Ausformung ihrer selbst, weil der bisherige Erreger de facto ausgemerzt ist, worauf die Herdenimmunität nicht mehr zum Erreger passt. (“Serotypen-Replacement”, zB bei Pneumokokken.)
Oder wenn Krankheiten sich in der Altersgruppe verschieben, weg von Kindern, hin zu ungeimpften Subpopulationen und/oder Erwachsenen, wo sie mitunter schlechter erkannt werden oder mehr Schaden anrichten (Mumps, Masern).
Und es gibt Impfkomplikationen, die zu Erkrankungen oder zum Tod führen, wenn auch sehr selten.

Negative Effekte ergeben sich aber auch durch Impfscheue, wenn die Durchimpfungsrate so weit absinkt, dass Ausbrüche wieder möglich werden, wie es etwa bei den Masern immer wieder vorkommt, vor allem bei uns in Europa, eingeschleppt dann auch in den USA.

Ein staatliches oder auch über-staatliches Interesse an der Entwicklung von Impfstoffen und die finanzielle Beteiligung an den Entwicklungskosten ist hingegen kein Grund für überbordende Skepsis. Denn würde ein beliebiger Staat keinerlei Interesse und keine Mittel dafür aufbringen, seine Bevölkerung zu schützen, dann würde das wohl ebenso verdächtig gefunden und angeprangert werden. Man kann aber nicht jemandem eine Handlung vorwerfen, deren Unterlassung man ihm genauso ankreiden würde.
Auch wenn ein Staat die Haftung für eine Impfung übernimmt, kann man das durchaus so sehen. Dazu später mehr.

Artikel

Corona – zwölf .. Heute ein (G)rant

Dieser Artikel ist Teil 12 von 19 in der Serie "Corona" ...

Ich bin wütend.
Wütend auf Leute, die Todesraten anzweifeln und immer noch von Fallsterblichkeiten unter 0,3% fantasieren. Die die Überlastung unseres Systems an allen Ecken und Enden nicht wahrhaben wollen und daher meinen, ein Lockdown wäre unnötig. Die behaupten, sie hätten Kontakt zu zweieinhalb Insidern, die meinen, die Situation in den Spitälern wäre nicht schlimm.

Auf Leute, die immer noch den Mythos “eh nur eine Grippe” glauben und “die Panik” übertrieben finden. Die aber vom Anschauen eines verfickten YouTube-Videos ein Angsti davongetragen haben und sich daher nicht impfen lassen wollen – weil der ExPeRtE darin nämlich, ebenso unverantwortlich wie selbstverliebt, schon aLLes weiß, während die Impfstudienbetreiber noch nichtmal ihre Ergebnisse fertiggeschrieben haben.

Die wirklich meinen, wir würden “auch so” zu einer Herdenimmunität kommen, weil ScHwEdeN!

In den Spitälern
hackeln sich tausende Menschen täglich seit März einen Buckel und ein lebenslanges Pandemie-Trauma für zu wenig Geld, zu wenig Respekt und zu wenig Wertschätzung. Ja, auch genau in diesem Moment. Sie müssen die Unbekümmertheit und Ignoranz solcher Leute ausbaden, in voller Schutzbekleidung, jeden Tag. Wie fühlen die sich wohl, wenn sie sich nach Schichtende anhören müssen, wie “übertrieben” die das alles finden und meinen, sie würden “das Risiko selber tragen”, während sie selbstgerecht auf ihrem Arsch sitzen?

Das Risiko tragen genau diese Menschen im Gesundheitswesen mit, ja, auch für diejenigen, die solchen Bullshit verzapfen, und sie sind sogar dann noch für die verantwortlich, wenn die längst auf den Bauch und ins Land der Träume befördert wurden und kurz mal nichts für übertrieben halten.

Die Menschen im Gesundheitswesen
Wenn die nicht mehr wollen, nicht mehr können, weil sie sich verarscht vorkommen – von Dienstgeber, Regierung, Nichtmal-Mehr-Balkonklatschern und solchen Ignoranzspezialisten wie beschrieben – und deshalb auf uns scheißen, was tun wir dann?

Und während ich mir sowas beklommen, aber meistens stumm überlege, reißen welche ständig weiter ihren Schlapfen auf. Sie merken nichtmal, dass sie auf dem Rücken anderer ihre Unfähigkeit austragen, die Realität zu akzeptieren. Statt die Augen aufzumachen und dankbar zu sein, dass sie sich dieser Corona-Wirklichkeit nicht tagtäglich in der ersten Reihe stellen müssen. Nein, da verbreiten sie ihre großspurigen Anschauungen auch noch in der Welt und fühlen sich dabei wohl sehr abgeklärt.

Bin sicher, die Intensivpfleger*innen und Ärzt*innen würden sehr gerne tauschen und auch lieber kRiTiScH dozierend auf ihrem Arsch sitzenbleiben.

Aber wer rettet dann unseren?

Artikel

Denken für Fortgeschrittene

Menschen sagen gern, sie würden über Hausverstand verfügen, der ihnen x oder y doch ganz klar sagt.
Sie halten das irrtümlich für logisch – und übersehen dabei, dass unser menschliches Denken voller Fallen und Missdeutungen ist.
Ein Nachtrag zu meinem Artikel über Kritisches Denken im Zuge der VeMy-Serie.

Unser Hirn ist daran gewöhnt, von jeweils einem Einzelereignis auf das große Ganze zu schließen, um zu lernen. Das ist nicht per se schlecht, riecht aber auch nach Verallgemeinerung und Vorurteil. Es hindert uns im weiteren Geschehen oft am genaueren Hinsehen, Bedenken und Differenzieren.
Und darauf basiert dann der “Hausverstand” und mitunter ein ganzes Weltbild, das nichtmal einen Tellerrand als Horizont hat.

Insbesondere unser “schnelles” Denken – also die erste Schätzung und Ansage, die unser Hirn zu einem Thema abgibt – ist derart fehleranfällig, dass man das von Rechts wegen eigentlich gar nicht als Denken bezeichnen dürfte. Und es findet unbewusst statt, es präsentiert nur die Ergebnisse.
(Es gibt für ganz besonders vertrottelte Fehlschüsse des Hirns, ganz abseits der Forschung, auch den wunderbaren Begriff “Sekundenschaf” :)

Selbst die Menschen, die sehr wohl um Denkfallen, um kognitive Verzerrungen wissen, müssen schwer trainieren, um sie auch tatsächlich zu reduzieren. Für die völlige Vermeidung von Denkfallen reicht das aber nicht, manchmal werden sie dadurch sogar noch verstärkt.

In der Wissenschaft gibt es nicht umsonst eine ganze Reihe standardmäßiger Maßnahmen, um Verzerrungseffekte auszuschließen:
Verum- und Placebo-Gruppe, Randomisierung, Doppelblindverfahren, Nichtdeterministische Experimente, Anonymisierung, Peer Review, Auswertung durch Unabhängige, etc.

Könnte man als Mensch tatsächlich lernen, davon völlig, dauerhaft und zuverlässig frei zu sein, dann würde es all diese Maßnahmen als dauerhafte Krücke gar nicht brauchen. Damit ist auch klar: Jemand, der von diesen Denkfallen nicht einmal etwas weiß, kann auch nicht ermessen, wie weit sein Hausverstand danebenliegen könnte.

Exponentielles Wachstum etwa kommt in unserem alltäglichen Geschehen eher selten vor im Vergleich zu linearen Vorgängen, und wird somit vom superduper Hausverstand massiv unterschätzt. Selbst bei längeren Überlegungen kommen Ungeübte mit Schätzungen nicht nahe an die Wirklichkeit, geschweige denn mit einem geistigen Schnellschuss. Ein nettes Video dazu). Vergleichsweise bekannt ist die uralte Geschichte mit den Reiskörnern auf dem Schachbrett (Für Ungeduldige: ab Minute 2:50).

Einige der beliebtesten Denkfallen
Wir halten am liebsten das für wahr, was unsere bisherige Anschauung bestätigt. Wenn wir recherchieren, dann geben wir jenen Inhalten den Vorzug, die uns genehm sind. Uneindeutige Information interpretieren wir als Bestätigung unserer Anschauung.
(Bestätigungsfehler, confirmation bias / myside bias; belief perseverence / Hartnäckige erste Hypothese)

Wir glauben zu diesem Zwecke praktischerweise auch gleich, dass Fakten, die unserer Überzeugung widersprechen, diese Überzeugung erst recht bestätigen würden.
(Backfire-Effekt)

Wir glauben auch so gut wie unbesehen das, was wir zu einem Thema als erstes gehört haben. Weil es zu diesem Zeitpunkt ja auch noch gar nichts zu besehen gibt (glauben wir). In weiterer Folge messen wir dieser ersten Information aber völlig willkürlich einen Wahrheitsgehalt zu, der weit höher liegt als der von nachfolgend erhaltener Information – wohl, damit es auch weiterhin nichts zu besehen gibt.
(Wahrheitseffekt – illusory truth effect)

In meiner Erfahrung ist das eine sehr starke Denkfalle – oder vielleicht auch nur die mir am stärksten bewusste: Ich spüre geradezu, wie trotzig sich mein Geist einer neuen Information widersetzt, die nicht zur ersten erhaltenen passt. Ich muss mich dann sehr streng daran erinnern, dass mein Hirn einfach nur grade quietscht: “Aber, aber… Die erste Information war anders!”
Manchmal mag es ja reiner Zufall sein, welche Information wir als erstes hören. Viel mehr noch dürfte es aber darauf beruhen, welche exklusive Quelle der Erstinformation wir vorab nach der “confirmation bias” für unser tägliches Update auserkoren haben. In Zeiten von Social Media ist der Effekt vielleicht durch die Zufälligkeit etwas abgeschwächt; andererseits ist innerhalb von “Bubbles” die Wahrscheinlichkeit für vorgefärbte Erstinformation immer noch hoch – oder sogar noch höher, für noch tendenziösere Anschauungen, die uns zumeist als Fakten präsentiert werden.

Damit nah verwandt: Wir finden, eine Zahl wäre “eh recht niedrig”, wenn uns zuerst eine höhere Zahl präsentiert wurde. Bei allen nachfolgenden Verhandlungen beziehen wir uns auf das Verhältnis zu diesem ersten Ankerpunkt.
(Ankerheuristik, anchoring bias)
Das tun wir hartnäckig, selbst dann, wenn die erste Zahl in einem völlig anderen Zusammenhang genannt wurde.
(Bahnung, Priming)

Wir neigen dazu, von unserer verfügbaren Erinnerung an einzelne Beobachtungen oder Zeitungsartikel pauschal auf die große Masse zu schließen.
(Verfügbarkeitsheuristik)
Unsere Erwartungen beeinflussen unsere Wahrnehmung und damit auch unsere Urteilskraft.
(Selektive Wahrnehmung; selective perception)

Wir glauben, wir wären besser dran, wenn wir nur ja nix verändern.
(Status-quo-Verzerrung)
Wir meinen, es wäre viel riskanter, etwas zu tun, als nichts zu tun.
(Unterlassungseffekt)
Und hinterher glauben wir, unsere Vorhersagen waren viel akurrater gewesen, als sie es tatsächlich waren.
(“nachha is ma immer gscheiter”, hindsight bias)

Wir sind extrem anfällig dafür, ein- und dieselbe Information komplett gegensätzlich zu interpretieren, je nachdem, in welcher Form sie uns präsentiert wird.
(Deutungsrahmen, Framing-Effekt)
Wir sind dabei sehr beeinflussbar über die Art und Weise der Argumentation, selbst wenn sie überdeutlich hinkt.

Wir bringen mehr Mitgefühl mit einer kleinen Gruppe von Individuen auf als mit einer großen Menge Leidender, die aber anonym bleiben.
(compassion fade)
Wir finden, andere müssten doch viel besser unsere inneren Vorgänge checken, als sie es tatsächlich können; und wir selbst würden umgekehrt wahnsinnig viel davon verstehen, was in anderen vorgeht.
(illusion of transparency (egocentric bias))

Wir glauben, bei anderen wäre ihr Verhalten in erster Linie eine Charakterfrage, während wir für unser eigenes Verhalten die äußeren Umstände als Erklärung bevorzugen.
(Attributionsfehler; fundamental attribution error, actor-observer bias)

“Das reimt sich sogar, und was sich reimt, ist wahr!”
(rhyme as reason effect)
Für wie beweiskräftig wir das halten, was unsere eigenen Emotionen uns einflüstern, muss ich hier vielleicht gar nicht mehr besonders betonen.

Dafür, dass wir Laien sind, halten wir uns für eh total gscheit; fatalerweise glauben Laien das, während Experten dazu neigen, ihr Wissen zu unterschätzen, weil sie um die wahre Komplexität des Themas wissen.
(Dunning-Kruger-Effekt)
Wir glauben, andere würden stärkere egozentrische kognitive Verzerrungen erleben als wir selbst.
(Naïve cynicism)
Und wir selbst wären von alledem unbeeinflusst.
(Verzerrungsblindheit, bias blindspot)

Dann glauben wir, wir hätten uns “umfassend informiert”, weil wir cirka zwei Kanälen folgen, die wir selbst nach allen obigen “Kriterien” ausgewählt haben.
(Vermessenheitsverzerrung)

Was wir wissen
All das ist nicht nur gleichzeitig vorhanden, sondern baut auch noch aufeinander auf. Das ist es, was sich hinter “Hausverstand” oft tatsächlich verbirgt.
Und wir glauben das alles auch noch “intuitiv” in seinem schlimmsten Sinn: ohne Rücksicht auf Evidenz und Logik, und ohne eingehendere intellektuelle Untersuchung. Halten uns dabei aber gern für ungemein objektiv.

Dass unsereins überhaupt einen sinnvollen Gedanken zuwege bringt, ist ein Wunder für sich.

Man darf dankbar sein, dass die Wissenschaft erkannt hat, wie sehr man vor diesen Biases / kognitiven Verzerrungen im Denkvermögen ständig auf der Hut sein muss. Sie hätte ja auch völlig verzerrt nur meinen können: “Wir wissen das jetzt eh, und damit is gut”. Dann wäre die Denkblase, innerhalb derer sich jede wissenschaftliche Fragestellung bildet und bewegt, noch weit anfälliger für ein Hinneigen zu vordefinierten Anschauungen und für falsche Bestätigung.

Wir Menschen haben keine Ahnung, was die Vögel einander erzählen. Wir kennen ca. 5% der Tiefseebewohner. Wir haben gecheckt, dass Pheromone eine Rolle spielen dürften, wenn staatenbildende Insekten miteinander kommunizieren – aber was die einander erzählen, um als winzigste Wesen riesige Aufgaben gemeinsam zu bewältigen – davon haben wir keinen Schimmer. Nein, wir dichten ihnen im Rahmen anthropozentrischer Denkfehler oftmals noch menschliche Eigenschaften an.

Dennoch nehmen wir oft den kurzen Weg des Denkens, finden uns eh ziemlich super dabei und halten uns unverdrossen für die “Krone der Schöpfung”.
Setzt man das in Beziehung zu unserem insgesamt oft vertrottelt wirkenden Herdenverhalten und zu unserer unausrottbaren Angewohnheit, unsere eigenen Lebensräume zu zerstören und die der anderen Lebewesen gleich mit – dann ist diese Vermessenheit geradezu lachhaft.

Ein wenig mehr Demut wäre wirklich angebracht. Man könnte beim eigenen Denkvermögen anfangen. Ganz unvoreingenommen :)

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Als Lektüre dazu empfehle ich:
“Schnelles Denken, langsames Denken” (“Thinking, fast and slow”) von Daniel Kahnemann, mit jeder Menge Erklärungen, Beispielen und teils sehr kreativen Studien zum Thema.
ஐ Eine kürzere Form hat Rafael Bucheggers “Irren mit Hausverstand”.

Man kann aber auch erstmal diverse Listen in der Wikipedia studieren:
Kognitive Verzerrung – Begriff
Liste kognitiver Verzerrungen
English: List of cognitive biases (Die englische Liste ist umfangreicher)
English: List of psychological effects (In der deutschen Wikipedia gibts nur einzelne Artikel zu einigen der Effekte)