… und alles drumherum. Wie extremistische Propaganda über Demütigungserzählungen die unbewältigte Scham in Menschen anspricht und instrumentalisiert. Was Scham mit uns macht. Und was wir dagegen tun können.
Ich möchte hier zwei Themen miteinander verknüpfen. Über eines davon wird öfter geschrieben und gesprochen, über das andere nicht. Es geht um einen der Mechanismen in extremistischer Propaganda – und um Scham.
Dazu spanne ich allerdings einen sehr weiten Bogen. Das ist der Komplexität geschuldet, mit der Scham die Welt überzieht.
Manche weiteren Themenbezüge reiße ich daher nur an, ohne sie weiter auszuführen. Einige optionale Zusatztexte habe ich in die blauen Kästchen gepackt (zum Aufklappen, rechterhand auf dem +).
#Essay & Very #LongRead. 12.550 Wörter.
tl;dr
Zusammenfassung
Scham ist ein uraltes und kulturenübergreifendes Gefühl, das jede/r kennt und hat, das aber niemand anschauen möchte. Oder gar darüber reden. Es ist, entgegen allen Redensarten und Erziehungsweisheiten, ein destruktives Gefühl, das keine positive Veränderung bringt.
Menschen haben ein Grundbedürfnis nach Liebe und Zugehörigkeit. Scham ist die Angst, der Liebe und Zugehörigkeit nicht würdig zu sein. Sie bezieht ihre Macht aus ihrer Unaussprechlichkeit. Scham korreliert stark mit Gewalt, Sucht, Aggression, Depression, Esstörungen und Mobbing.
Patriarchal geprägte Kulturen unterstützen die Tendenz zur Abwehr schwieriger Gefühle. Scham wird als schwieriges Gefühl abgewehrt und häufig über Wut ausagiert, oft auch über Gewalt. Das ist sowohl für die Psyche ungesund als auch für die Gesellschaft, wenn sie gewaltfrei und in Frieden leben möchten.
Extremistische Propaganda in Ost und West nutzt die Erzählung einer geschehenen Demütigung als Haken. Sie angelt in den Menschen nach alten, ungelösten Gefühlen von Demütigung (Scham und Wut), um “Entschädigung” dafür zu versprechen. Damit wird kein Gefühl bewältigt, sondern Gewaltbereitschaft erzeugt, die gegen beliebige, entmenschlichte Sündenböcke gelenkt werden soll.
Wir sind ein leichteres Ziel für Manipulation, je weniger wir über Scham wissen und darüber sprechen.
Mitgefühl ist der Endgegner von Scham. Sie entsteht in sozialen Situationen und wird in sozialen Situationen gelöst. Wir können umdenken und dazulernen, wenn wir uns nicht mehr dagegen wehren, dass Menschen menschliche Gefühle und Bedürfnisse haben.
❞All die Grausamkeiten und Brutalitäten, bis hin zum Genozid, beginnen mit der Demütigung eines einzigen Individuums.❞
Kofi Annan, ehem. UNO-Generalsekretär und Friedensnobelpreis-Träger
Ein schambesetztes Thema
Weil über Scham so wenig geschrieben
und gesprochen wird, beginne ich damit. Sighard Neckel schrieb bereits 1991 sein Buch “Status und Scham”. Brené Brown forscht und schreibt seit 2007 sehr viel, erzählerisch und allgemeinverständlich über Scham und Verletzlichkeit. 2009 kam das pädagogische Buch “Scham” (Hrsg. Alfred Schäfer und Christiane Thompson).
Witzigerweise ist Scham ein schambesetztes Thema, im privaten und im öffentlichen Diskurs: Alle kennen sie, alle haben sie, es gibt es hochinteressante Forschung dazu, die uns demnach alle angeht. Doch so gut wie niemand will darüber nachdenken oder gar reden. Wir wollen uns ja schon generell nur ungern verletzlich zeigen. Scham ist die ultimative Verletzlichkeit.
Wenn Scham im Diskurs vorkommt, dann wenn Menschen mehr Scham fordern, weil sie denken, das könnte manchen “schamlosen” Gestalten wohl nicht schaden.
Und könnten damit falscher nicht liegen.