Es ist verständlich, dass wir es im Kopf nicht aushalten, wenn Menschen anderen Menschen Gewalt antun. Dass wir Tatsachen abwehren. Überhaupt ist Akzeptanz eine der schwierigsten Übungen im menschlichen Geist. Aber…
Wenn wir nach Gründen suchen, den Gründen für Gewalt, dann sollten wir das tun, um die Welt zu begreifen und unsere Sicht auf sie gegebenenfalls der Realität anzupassen. Und nicht umgekehrt. Man hüte sich vor Abkürzungen mit egoistischen Straßennamen: Die Suche nach Gründen sollte nicht dazu dienen, dass wir uns selbst in falscher Sicherheit wiegen und dabei unsere Sicht nicht verändern müssen.
Gewalt ist nicht relativ
Wir kennen das: Relativierungen sind bei Gewalttaten allzu schnell zur Stelle:
“Ja, aber wenn sie vergewaltigt wurde, wird sie wohl zu freizügig gekleidet gewesen sein, oder sie war in der falschen Gegend mit den falschen Leuten unterwegs. Wäre sie daheimgeblieben, ja dann…”
Oder: “Ja, aber zum Streit gehören natürlich immer zwei! Wenn sie vom Ex ermordet wurde, wird sie auch was beigetragen haben, tjahaa!”
Sowas sagen Leute dann, transportieren damit ein “selber schuld” und kommen sich dabei sehr abgeklärt und objektiv vor.
Sie weisen dem Opfer eine Mitschuld zu, nötigenfalls erfinden sie diese auch kurzerhand, weil ihnen ja niemand das Gegenteil bewiesen hat. Den “kleinen” Abgrund, der sich jäh auftut bei dieser Mitschuld – dass nämlich auch dann niemals Gewalt gegen einen Menschen gerechtfertigt ist – den überspringen sie kraft ihres Anlaufs mit Leichtigkeit.
Wozu macht man das? Um zu verhindern, dass man seine eigenen naiven Anschauungen von der Welt korrigieren muss, dass man seine Illusionen aufgeben und sich innerlich bewegen und anpassen müsste. Wo man sich die Welt doch auch so erklären kann, “unvoreingenommen”, wie man dann ist, das ist sehr bequem: Man dreht einfach die Umstände, das Drumherum in seinem Kopf so lange, bis im eigenen Inneren alles wieder ruhig und sicher und überschaubar ist. Schnell zurück in die Komfortzone, von der aus es sich auch ohne Akzeptieren der Wirklichkeit so gemütlich urteilen lässt.
Akzeptanz bedeutet in diesem Zusammenhang nicht, etwas gutzuheißen oder auch nur zu verstehen. Es bedeutet nur, es überhaupt einmal zur Kenntnis zu nehmen, und zwar, bevor man es abschwächt und relativiert.
Verstecken vor der Wirklichkeit
Wir wollen das Geschehene so, wie es bereits geschehen ist, im Kopf nicht hinnehmen; wir wollen die Wirklichkeit anders haben als sie ist, und die Vergangenheit anders, als sie war. Und so entziehen wir uns mit solchen geistigen Abkürzungen der dringend nötigen Akzeptanz.
Das ist nachvollziehbar. Und es ist eine Falle, ein fataler Irrtum im menschlichen Geist. Auch wenn es paradox klingen mag, es gibt durchaus einen Grund für sinnlose Gewalt: Viele Leute haben einfach nur Scheiße im Hirn. Es gibt böse Menschen, die in der Ausübung körperlicher oder seelischer Gewalt die Lösung ihrer persönlichen oder politischen Probleme sehen. Es gibt verblendete Menschen, die in so tief einzementierten, anerzogenen, indoktrinierten Dogmas leben, dass sie an diese immer glauben werden. Die das “Andere”, das Fremde, das Böse im Außen (wieder) zu erkennen meinen, wo sie es viel einfacher loswerden können – und die dieses Loswerden auch anstreben, mit allen Mitteln.
Nicht jeder Mensch ist “im Grunde gut, nur vielleicht eben da und dort blabla”. Hier ist die Wahrheit, vor der allzu viele zurückschrecken: Es gibt böse Menschen. Es gibt gewalttätige, brutale Menschen. Es gibt Menschen, die sich selbst nicht spüren, und die daher alle anderen auch nicht spüren.
Wenn man diese Tatsache nicht akzeptieren will, wenn man sie mit Relativismus abwehrt, dann verbirgt man damit noch eine weitere beunruhigende Tatsache vor sich selbst: dass man jederzeit selbst einem solchen Menschen begegnen könnte. Dass man es dann genauso zu spät bemerken könnte wie das Opfer. Ja, dasselbe Opfer, dem man gerade noch eine Mitschuld an seiner Vergewaltigung oder Ermordung angedichtet hat. Bei dem man sich nicht eindeutig gegen die Gewalt positioniert hat.
Statt der schmerzhaften Kenntnisnahme ergeht sich das Hirn in Relativierungen, um sich selbst zu beruhigen, um die allgegenwärtig-weggedrängte Angst vor der eigenen Sterblichkeit erneut zurückzudrängen, umso mehr die vor einem gewaltsamen Tod. Um die vermeintliche Kontrolle über seine eigene körperliche Sicherheit zu behalten: “Das Opfer hat sich bestimmt nicht ganz richtig verhalten. Doch wenn ich nur alles richtig mache – dann bleibe ich am Leben”.
Ich… ich… ich.
Nein. Sinnlose Gewalt ist sinnlos! Gewalt macht keine Unterschiede wie: “Oh, du hast es richtig gemacht! Dann darfst du leben!” Solche Vorstellungen sind naive Realitätsflucht. Der zugrundeliegende Denkfehler, der erwähnte Abgrund, ist hier schon mehr als offensichtlich: Niemand hat das Recht, darüber zu entscheiden, ob du leben darfst oder nicht. Nicht auf Basis einer Bewertung deines Richtig-Seins, und auch nicht ob deiner Erscheinung, deiner Hautfarbe, deines Gesichtsausdrucks oder deines Verhaltens.
Du hast ein Recht auf Leben.
Und dieses Recht hatte das Opfer auch. Und es war auch ein Ich.
Und dennoch kann man sich vor Gewalt nicht durch Richtig-Sein verstecken oder schützen. Man kann sie noch nichtmal vorhersehen. Und es ist falsch und niederträchtig, einem anderen Menschen Gewalt anzutun.
Das ist die Ambivalenz, die für viele Köpfe offenbar zu kantig ist, um sie ohne relativierende Realitätsflucht auszuhalten: Es gibt gewalttätige Menschen. Die Opfer konnten sich nicht schützen. Und das hättest du auch nicht gekonnt. Und Gewalt ist falsch.
“Sinnlose Gewalt” ist ein Pleonasmus. Doppelt gemoppelt.
Denn es gibt keine sinnvolle Variante von Gewalt.
Gebadet im Narrativ
Antisemitische Erzählungen sind beinahe so alt wie das Judentum selbst. Gewalt gegen jüdische Menschen daher leider ebenfalls. Ein einzelner Mensch in seinem winzigen Fitzelchen von Zeitabschnitt, das von klein auf in diesen Narrativen eingeweicht wurde, ist davon völlig durchzogen. Da wird nichts mehr hinterfragt.
Wir hingegen, aus unserer Distanz, mit (zumindest weniger) indoktrinierender Einweichung, wir können das. Nein – es ist unsere verdammte Pflicht, zu entscheiden, dass wir Narrative distanziert betrachten und hinterfragen und uns nicht darin einweichen lassen. Und dass wir bei ihrer Weiterverbreitung keinen einzigen Finger im Spiel haben.
Wir müssen uns jedoch auch endlich bewusst werden und bleiben, dass diese Narrative nicht einfach nur alt sind und eben bestehen, sondern dass sie auch jeden Tag neu geschaffen werden. Weil die elenden Scheißer, die sie verbreiten, diese glitschigen kleinen Erzählungen immer wieder in neuem Gewand ausschwärmen lassen wollen, damit sie an irgendeiner Stelle doch noch in unser Denken hineinschlüpfen.
Zuzulassen, dass einzelne Gruppen zum Feindbild erhoben und eliminiert werden sollen, führt nur dazu, dass auch andere Gruppen zum Feindbild erhoben und eliminiert werden sollen.
Zu sonst nichts.
Apropos Gruppen: Spaltung?
Die westliche Gesellschaft mit ihren Freiheiten und ihrer Toleranz, mit ihren Frauenrechten, aber auch mit ihrer traditionell ausbeuterischen Ignoranz – sie ist anderen Gesellschaften ein echter Dorn im Auge. Dass diese feindlichen Kräfte das Informationszeitalter gnadenlos nutzen, um “die westliche Gesellschaft zu spalten“, ist mittlerweile fast zur Binsenweisheit geworden.
Doch was tun wir mit dieser Weisheit? So eine Spaltung – die klingt, als wären wir dann eben zweigeteilt. Na und? Das macht uns keine allzu großen Sorgen. Wir “im Westen”, wir sind doch wahnsinnig viele, und danach sind wir doch nur Viele dividiert durch zwei, das sind immer noch Viele – richtig?
Falsch. Ein weiterer großer Irrtum im menschlichen Geist. Die Spaltung der westlichen Gesellschaft zielt doch nicht auf eine einmalige Halbierung ab. Man sollte es besser Zersplitterung nennen. Damit würde ein weitaus realistischerer Deutungsrahmen in den Hirnen aufgerufen.
Wenn eine große Gruppe in der Frage A gegen B aufgespalten wird, dann bei X gegen Y, und bei Z gegen C, dann zersplittert sie dabei in Hälften, in Teile von Vierteln, Sechzehnteln und Fünfhundertzwölfteln.
In immer kleinere Gruppen.
Kleinere Gruppen, die einander auf Basis von Schwarzweiß-Fragen spinnefeind werden.
Kleinere Gruppen, die miteinander nicht mehr solidarisch sind.
Die Verblendung und Überheblichkeit der freien, individualisierten Gesellschaft, dass jedes Individuum sich in jeder weltpolitischen Frage positionieren kann, wie es ihm beliebt, unabhängig von seinem armseligen Informationsstand und jeder Ethik. Die Eitelkeit, dass es diese Positionierung zu etwas Besonderem macht, das es von den Vielen abheben wird. Von genau den Vielen, auf deren Solidarität es sich bisher einfach verlassen hat.
Die peinliche Tatsache, dass viele von uns diese Freiheit täglich unhinterfragt umsetzen, als wäre es unsere individuelle Pflicht, unsere arrogante Abgrenzung von X oder Y aus der Distanz geil abzufeiern. Und dabei das große Ganze völlig aus den Augen verlieren (oder, was wahrscheinlicher ist: es nie zuvor gesehen haben).
Das alles wird uns zum Strick gedreht.
Das ist das Ziel der “Spaltung” durch Feinde der westlichen Freiheit: Uns zu beweisen, dass unsere “Freiheit” falsch und wertlos ist. Und wenn wir sie so verstehen und ausreizen, in dummdreisten, aber umso lauteren Relativierungs-Reflexen, dann wird sie das auch.
Natürlich liegt das auch schon an der suggestiven Fragestellung “X oder Y?”, die uns von außen präsentiert wird.
In einer komplexen Welt mit einer komplexen Vergangenheit kann es keine einfachen Erklärungen für Konflikte geben. Diese Tatsache wird von den Fragestellern gleichzeitig ausgeblendet und ausgenützt. Auf dieses Glatteis lässt man sich führen, wenn man sich angesichts brutalster Gewalt komplett versteigt und sagt: “Ja, aber… Mitschuld!”
Nein. Die suggestiv und falsch in den Raum gestellte Frage verschleiert vielmehr, dass hier das Leben von jüdischen Zivilisten, von Menschen, Kindern, von Frauen und Männern und allem dazwischen, die gerade noch geatmet, gesprochen und geliebt haben – dass diese Leben gezielt und gewaltvoll gedemütigt, verletzt, ausgeblutet und vernichtet wurden, und dass diese Ermordungen obendrein instrumentalisiert werden. Um genau jene Schwarzweiß-Frage zu erzeugen, die der komplexen Wirklichkeit selbstverständlich nicht gerecht wird und niemals werden kann. Und sie uns dann hinzuschmeißen.
Dieses suggestive Frage-Stöckchen brav zu apportieren ist ein schlaftrunkener, verblendeter Antwortreflex. Statt sich gegen Terror und Gewalt aufzustellen.
Es führt uns in die Zersplitterung.
Kleinere Gruppen lassen sich viel leichter zum Feind erklären und eliminieren.
Nur damit das auch mal gesagt ist.
Bei den Zwistigkeiten nach unserer ach-so individuellen Positionierung erledigen diese kleineren Gruppen sich dann gegenseitig. Keine Einflüsterung von außen mehr nötig. Und mit etwas “Glück” auch gar keine weitere Gewalt.
Unsere Freiheit ist jedoch nicht wertlos. Sie gestattet es uns immer, uns provozierten Reflexen zu widersetzen.
Sie erlaubt es uns, zu sagen:
Gegen Gewalt.
Immer.
Punkt.
Wir sind Menschen. Das waren die Opfer auch.
Wir wollen auch morgen noch atmen, sprechen und lieben. Das wollten die Opfer auch.
Wir wollen Frieden.
Es ist das jüdische Jahr 5784. Das Jahr 2023 nach Christus. Das abertausendste Jahr menschlicher Zivilisationen.
Als solche sollten wir längst in der Lage sein, Konflikte reifer beizulegen als mit Gewalt. Lassen wir uns davon ernsthaft ablenken durch Schwarzweiß-Fragen, die Fundamentalisten, Terroristen, Hetzer und Spalter uns stellen?
Vor allem sollten wir inzwischen wissen, dass dies der Zivilisation wichtigstes Rückgrat ist: menschlich zu bleiben.