Gesundheitsvorherrschaft: Aspekte (1)

Dieser Artikel ist Teil 2 von 3 in der Serie "Gesundheitsvorherrschaft" ...

Hier erscheinen nun in losen Abständen weitere Gedanken zu meinem vorigen Blogeintrag, der Übersetzung des Essays von Dr. Maarten Steenhagen. Viele Aspekte der Krankenfeindlichkeit kommen im Essay nicht oder nicht explizit vor. Diese möchte ich hier nach und nach thematisieren.

Nach rechts geschwemmt?

In der Einleitung schrieb ich: “Wir sehen uns seit Pandemiebeginn zunehmend mit rechtsextremen Anschauungen konfrontiert.”
Gemeint: Mit den neoliberalen, neofeudalen bis rechtsrechten Vorstellungen von Stark und Schwach, von Hochwertig und Minderwertig, von Leistung und “Leistung”. Die, die uns weismachen wollen, Solidarität wäre, wenn die einen auf die anderen draufsteigen. Davon sind wir ja schon weitaus länger unterwandert als nur in den letzten Jahren.
(siehe auch mein Rant aus dem Mai 2020 und frühere Beleuchtungen des Leistungsgedankens)

Nicht nur rechte Trolle auf sozialen Medien konfrontieren uns damit, wenn sie uns ihren gefühlten Anspruch auf Rücksichtslosigkeit und Entsolidarisierung als “Freiheit” verkaufen wollen. Nicht nur aus der False Balance in zu vielen anderen Medien schwappt es uns die neue Kaltschnäuzigkeit frostig in unsere mentalen Systeme.

Sondern auch und immer wieder von Seiten unserer Regierung, die ihre Berater und Beraterinnen nie auf ihre Gesinnung abklopft, weil wertebefreiter Machterhalt sich gesinnungsmäßig gar nicht festlegen muss. Stattdessen scheint sie jede “gesundheitspolitische” Empfehlung gerne anzunehmen, die opportun ist, um ihre Wirtschaftsklientel zufriedenzustellen. Genausowenig überraschend ist dabei, dass die kapitalismusfreundlichsten Konzepte gleichzeitig mitunter die menschenfeindlichsten sind.

Während du dich also politisch unverrückbar links wähnst und auf Seiten von Toleranz, Mitgefühl, Gleichbehandlung und sozialer Güte, schwappen dir diese vereinfachten Inhalte durchs Hirn wie so’n Abwasser und nehmen dich und deine Haltung allmählich immer weiter mit nach rechts. “Normalisierung” tritt ein. Denn diesen menschenfeindlichen, wertefernen und rechtsextremen Anschauungen wohnt stets die verführerische Komponente inne, sehr simpel zu sein. 

Über Lernfähigkeit

“Wir müssen mit dem Virus leben lernen” ist einer dieser “simplen” Inhalte. Wiewohl es dieser Satz ordentlich in sich hat.

Zunächst wird ein solcher stehender Satz nicht einmal ansatzweise der Komplexität gerecht, die dieser Pandemiesituation nun mal eigen ist. Ja, es ist genau jene Komplexität, die die rechten Vereinfacher mit ihren Stehsätzen so gerne ausblenden möchten. Der lapidare Satz sagt sich aber eben so beschwingt-abgeklärt, dass er gern als veritables Killerargument genutzt wird, weil er ach-so-sehr nach einer realistischen, lebensnahen persönlichen Haltung klingt.

Er hat allerdings seine Tücken, weil er die vielen Aspekte dahinter eben gar nicht erst adressiert.
Stattdessen tut er so, als müsste man sich diskursfrei auf ihn einigen wollen, und man tut, als könnte er nur eins bedeuten.
Während der Satz in Wirklichkeit genauso alles Menschenmögliche an Schutzmaßnahmen und Rücksicht meinen kann (für alle Menschen, nicht nur gesunde), wie gar nichts.

Ich habe diesen Satz auch schon von Leuten gesagt bekommen, die sich für politisch links halten. Für Risikopersonen wie mich ein Schlag ins Gesicht, weil man uns damit meistens vermitteln will, wir sollen uns einfach “nicht so anscheißen” (wie die mit der stabileren Gesundheit uns das ja so plakativ vormachen) und uns “halt selber schützen” (wie die mit der stabileren Gesundheit uns das nicht plakativ vormachen können, weil sie wenig Erfahrung darin haben, wie das gehen soll). Und wir müssten uns für dieses “Selberschützen” dann noch anschauen lassen, als wären wir nicht ganz richtig im Kopf, weil wir unser menschliches Sein und Leben vor einem (weiteren) körperlichen Schaden bewahren wollen. Aus Vernunft und aus der Erfahrung, wie es ist, mit einem solchen zu leben (die denen mit der stabileren Gesundheit obendrein fehlt).

Was jemensch (womöglich gar Drosten oder so) ursprünglich vielleicht mal mit dem Satz gemeint haben könnte:
“Das Virus wird nicht mehr weggehen – also lasst uns einen Umgang damit finden, der die Gesellschaft als Ganzes am besten davor bewahrt.”
Könnte man so sehen. Lernen ist ja ein evolutionärer Vorteil, weil es oft zu besserer Anpassung an die veränderlichen Umweltbedingungen im Leben führt. Genau diese Implikation nützt der Satz aus, allerdings in jeder der mitschwingenden Bedeutungsvarianten. Also auch dann, wenn er für das genaue Gegenteil steht: die Wirklichkeit ausblenden und so tun, als wäre die Pandemie vorüber – auch dieses Verhalten soll uns mit dem Satz als “Lernen” verkauft werden.

[Man bemerke bitte wohlwollend, wie lässig ich eingestreut habe, dass darwinsche Evolution das (genetische) Überleben der Anpassungsfähigsten meint – nicht der Stärkeren.]

Was aber wirklich nach dem elenden Stehsatz als Implikation in der Luft liegt:
“… und wenn du das nicht lernen kannst/willst, oder deine Liebsten, dann sterbt halt.”

Oder auch:
“Wir müssen eben die Härte haben (Uga!*) und uns daran gewöhnen, dass niCHt aLLe überleben können!
Sondern nur die Supersten – die halt dann mit Gefäß-, Organ- oder Hirnschäden, aber das kümmert uns jetzt nicht mehr!.”

[*Mit “Uga!” pflege ich ich hierzublogge die Emotion zu bezeichnen, die absichtsvoll in jemandem ausgelöst werden soll, der sich endlich zu den StArKeN zählen darf.]

Wenn unsere Herrn Politiker einen solchen Satz daherfaseln, dann kann man nicht mit Sicherheit sagen, was sie wirklich meinen, wenn man nicht nachfragt. Macht aber trotzdem keiner. Man käme sich ja auch blöd vor. Das ist genauso, wie wenn sie sagen, “Leistung muss sich wieder lohnen!” und nicht dazusagen, dass damit aber nicht der Hackler aus Favoriten gemeint ist. Da fragt auch keiner: “Aha, wie meinen Sie das denn jetzt genau?”

Schwerer Fehler, man sollte ja viel mehr nachfragen.
Zum Beispiel:
¿ Finden Sie wirklich, dass man es Menschen noch schwerer machen sollte, denen es eh schon ausreichend gschissn geht?
¿ Dass man sie “aussortieren” müsste?
¿ Ihnen die alltäglichen Besorgungen weiter erschweren?
¿ Ihre Existenz ausblenden, damit die StArKeN endlich ihr Leben weiterleben können?

¿ Gelten Menschenrechte nicht für alle Menschen?
¿ Gibt es Menschenrechte nicht überhaupt nur deshalb, weil nicht alle ~gleich stark~ sind? Und das nicht nur in ihrer Konstitution, sondern auch und gerade bei ihren Möglichkeiten, auf ihre Bedürfnisse aufmerksam zu machen?

Wenn ihr diesen Fragenblock menschenfreundlich beantwortet hättet – dann sagt diesen Satz bitte nicht mehr. Zumindest nicht, ohne zu konkretisieren, was ihr damit genau meint; für euch und für andere.
Dankeschön! @->–>

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