Artikel

Gesundheitsvorherrschaft: Aspekte (2): Kinder

Hier ein weiterer Aspekt der Vorherrschaft der Gesunden, der selbsterklärten “Starken” und ihrer latenten Feindlichkeit gegenüber den angeblich Schwächeren: Kinder sind verletzbar.

Kinder können sich nicht wehren

In einer Begegnung zwischen zwei gleichberechtigten Menschen müssen 50% des Infektionsschutzes von jedem Beteiligten kommen. Niemand kann sich da ebenso gut ausschließlich “selber schützen”.
Doch Kinder können das am allerwenigsten. Sie sind völlig davon abhängig, was ihre Eltern, Großeltern und ihre Lehrer und Lehrerinnen denken und für richtig und wahr halten. Sie sind durch die Schulpflicht gezwungen, sich täglich mit vielen anderen Menschen in geschlossenen Räumen aufzuhalten. Und sie sind noch viel stärker dem familiären Druck und dem Gruppendruck ausgesetzt, als man das als Erwachsener ist, sofern man eine gewisse mentale Unabhängigkeit erreicht hat.

Der Staat müsste demnach besonderes Augenmerk auf den Schutz von Kindern legen.
Es macht mich fassungslos, dass das Gegenteil der Fall ist:
Die Absonderungspflicht für Infizierte aufzuheben, wie dies in Österreich ab 1. August 2022 vom Gesundheitsministerium verordnet wurde… Und jetzt der Plan, die Unterrichtenden, “wenn sie sich gesund fühlen” *, auch infiziert zum Unterricht zuzulassen (wenn diese das “für sich(!) verantworten können und wollen”, mit Maske natürlich) – Kinder mit einem Virus zu durchseuchen, der die Gefäße schädigen kann, die Organe, das Gehirn und Nervensystem und das Immunsystem, der für Folgeerkrankungen sorgt, und das alles mit noch unbekannten Folgen für die Zukunft der Menschheit – das ist das Unvorsichtigste und Verantwortungsloseste, was man diesem Land seit 1945 verordnet hat.

  • Wenn alle, die “sich gesund fühlen”, auch nicht ansteckend wären, hätten wir diese Pandemie wohl gar nicht. Das weiß unsere Regierung, oder?

Die Zitate im obigen Absatz stammen von Österreichs Wissenschafts-(!) und Bildungsminister Martin Polaschek. Als es um die Absage der Rektorenchefin Seidler ging, infizierte Vortragende auch an die Unis zu lassen, hat Polaschek diesen Beweggrund auch unumwunden in einer Pressekonferenz rausgehauen:
“Die Universitäten tun sich leichter, weil ja die Schulen auch die Funktion haben, dass ja die Kinder in der Schule sind, und damit die Eltern ja auch davon entlastet(!) sind, auf die Kinder zuhause schauen zu müssen.”
[Im Video-Link ab Minute 24:18]

Die Belastung eines angesteckten und erkrankten Kindes möchte der Herr Minister dann aber schon gern den Eltern überlassen, richtig? Die Belastung durch eine darauffolgende eigene Ansteckung der Eltern oder eines anderen Familienmitglieds sicherlich auch.

Auf die Journalisten-Frage, ob man sein Kind wenigstens problemlos daheimlassen kann, wenn man nicht will, dass es von Unterrichtenden angesteckt wird, meint Polaschek, er wolle, dass wir zu “einer Art Normalität” zurückfinden.

Es soll also künftig normal sein, dass eine infizierte Lehrkraft in der Klasse vor den Kindern steht? Und dass Eltern nichts weiter zum Schutz ihres Kindes und ihrer Familie tun können, als diese Situation als “eine Art Normalität” zu akzeptieren, weil unser Gesundheitsminister diese will?

Normal ist, dass man sich einer neuen Situation anpasst, um sie möglichst unbeschadet zu überstehen. An diese Anpassungen gewöhnt man sich dann, und zack – normal! Das ist “mit der Situation umgehen”.
Es ist normal, dass man das Wohl der Gemeinschaft über die eigene Bequemlichkeit stellt. Wenn das einzelnen Individuen nicht eingeht, hilft idealerweise eine verantwortungsvolle Regierung dabei, indem sie dazu Bestimmungen verordnet, in denen sie weitsichtige Vernunft und Vorsicht walten lässt. Auch und gerade für die, die zu wenig oder falsch informiert sind. Auch und gerade für Kinder!
Das ist die Normalität, die wir wirklich brauchen: Ein reifer und weitblickender Umgang mit einer veränderten Situation. Nicht irgendein Umgang, Hauptsache es wirkt so “normal” wie früher(tm).

Niemand braucht eine Scheinnormalität, in der alle sich hinter ihren Händen verstecken und “Du siehst mich nicht!” rufen. So tun, als wäre alles wie vor der Pandemie, obwohl es das nicht ist und wohl auch nie mehr wird – was soll das bringen? Diese Scheinwirklichkeit prallt dann heftig gegen die echte Wirklichkeit all jener Menschen, die ihre Kinder, sich selbst und/oder ihr übriges menschliches Umfeld schützen müssen und denen das einfach verwehrt wird. Diese Menschen haben bereits zu viele Belastungen, als dass sie die von den Bequemen abgelehnte Verantwortung noch mitschultern könnten.
Eine Scheinnormalität, in der Kinder und andere schutzbedürftige Menschen diesen Schutz vor einer Infektion einfach nicht wert sind? Auf so eine können wir gut verzichten.
Und das ist nicht nur mein persönlicher Wunsch. Ich erinnere daran, dass Kinder Rechte haben, etwa Recht auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit und darauf, dass ihr Wohl bei Entscheidungen vorrangige Berücksichtigung findet.

Die österreichische Bundsregierung sieht das anders

Wie schwimmend Gesundheitsminister Rauch sich durch das Interview in der ZIB2 mit Martin Thür zum Thema Aufhebung der Absonderungspflicht bewegte, ist schon geradezu legendär. (zur Transkription)
Wir erinnern uns, dass er diese Verordnung unter Verzicht auf die Stellungnahmen der Länderrunde unterschrieben hat. (Dennoch behauptete BM Polaschek in der Pressekonferenz am 9. August, es wären dem Aus für die Quarantäne, “dieser Entscheidung” “intensive Besprechungen vorausgegangen”.)
Mit der Begründung seitens Rauch, dass es bei den Jugendlichen “Kollateralschäden” durch die Schutzmaßnahmen geben würde (was sich dann überraschenderweise gar nicht so richtig belegen ließ), war hier der wohl auch nur vorläufige Gipfel des Zynismus erreicht: Die Kinder zum viralen Abschuss freigeben und dieses Vorgehen auch noch mit dem Kindeswohl rechtfertigen wollen.

Der Jurist und Antikorruptions-Volksbegehren-Mitinitiator Oliver Scheiber hat in seinem Gastkommentar im Falter die beklemmende Dysfunktionalität in unserer Regierung und deren Verwaltung treffend zusammengefasst.

Kinder sind doch gesund?

Menschen mit instabiler Gesundheit, mit Autoimmunerkrankungen, mit Chemo oder Bestrahlung wegen Krebs, mit Diabetes, mit Immunschwäche, übergewichtige, ältere oder uralte Menschen oder auch Menschen mit einer psychischen Erkrankung oder mit Behinderung – vulgo “Vulnerable” – werden also von krankenfeindlichen Arroganzlern als eh nicht so wichtig für die Gesellschaft und irgendwie minderwertig erachtet, und das wird immer offensichtlicher.
Dagegen fallen Kinder in Österreich offenbar überhaupt unter “komplett wurscht”. Dabei sind doch Kinder meist gesund – noch, zumindest.

Viele Kinder haben aber auch mit eingeschränkter Gesundheit zu kämpfen. Die Familien dieser Kinder führen so ein Schattendasein seit Beginn der Pandemie, dass sich mittlerweile für sie der Begriff “Schattenfamilien” etabliert hat; ebenso wie für Familien mit einem stärker gefährdeten erwachsenen Familienmitglied, wie Tante mit Immunsuppression, Papa mit Diabetes oder schwangere Mama. Diese Familien konnten das alltägliche Leben vor lauter “sich selber schützen” auch schon vor den Verordnungen der neuen Wurschtigkeit nur noch schwer bewerkstelligen. Von einer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ganz zu schweigen.

Und kleinere Kinder können dieses “sich selber schützen” einfach aufgrund ihres Alters nicht umsetzen; noch weniger als gesundheitlich beeinträchtigte, aber zumindest erwachsene Menschen, die risikobewusst agieren können.

Kinder sind verletzlich

Wann immer also von diesen ominösen “Vulnerablen” die Rede ist, empfehle ich hiermit, auch jedesmal die Kinder mitzudenken. Denn sie können sich nicht im Geringsten wehren gegen alles, was auf der Welt aus Gründen der Gier, des Egoismus und der dummdreisten Selbstüberschätzung über ihre Köpfe hinweg beschlossen und unbekümmert an ihnen durchgezogen wird.

Das Risiko für LongCovid besteht auch bei Kindern (11% laut Zwischenergebnis dieser Studie) und steigt wohl mit jeder Reinfektion. Wer glaubt, da würde einem nötigenfalls dann schon irgendwer irgendwie helfen, irrt. Die (wenigen) LongCovid-Ambulanzen sind so ausgebucht, dass man für einen Termin dort oft schon eine SARS-Cov-2-Infektion nachweisen können muss. Was man nicht kann, wenn man sich nicht mehr um einen PCR-Nachweis bemüht, weil jetzt eh alles wieder so normal und Omikron ja so mild wär. Nicht beirren lassen: Covid-19 ist lt. EpidemieG immer noch eine anzeigepflichtige Infektionskrankheit und muss daher gemeldet werden.
Wer das Leben mit einem LongCovid-Kind oder das (verpasste) Leben mit ME/CFS eher nicht ausprobieren sollte, sind ausgerechnet solche Leute, die finden, schon das Maskentragen wäre für Kinder eine “Strafe” oder “reine Schikane”.

Die ominösen “Vulnerablen”

Der Begriff “Vulnerable” für die unterschiedlichsten Menschen, die sich voraussichtlich nicht so gut gegen eine Infektion mit SARS-Cov-2 wehren können, ist ja auch ein Un-Wort. Es fasst diese Menschen, die Beeinträchtigungen ihres Lebens erleiden, Erkrankungen, Behandlungen, Schmerzen, Sorgen und Bedürfnisse haben, als gesichtslose, anonyme Masse unter einem lateinischen, massiv distanzierten Namen zusammen. Und wie wir aus politischen Framings wie “Flüchtlingswelle” wissen, wirkt sich das negativ auf das Mitgefühl für das Individuum aus. “The Unrelatables” oder “die Vernachlässigbaren” wäre für so eine Bedeutungsebene noch ehrlicher gewesen.
“Stärker gefährdete Menschen” wäre hingegen passender.

Menschen, die wiederholte Infektionen nicht unbeschadet überstehen werden, gilt jedoch mutmaßlich für alle:
Die Folgen der Infektionen akkumulieren sich. Die Risiken für neurologische Folgen nach einer Infektion bleiben über zwei Jahre lang erhöht (kognitive Defizite, Demenz, Psychotische Störungen, Epilepsie, Schlaganfälle); bei Kindern nur kürzer, aber ebenfalls signifikant. Das angeblich so “milde” Omikron macht dabei übrigens keine Ausnahmen.

Menschen mit erhöhtem Risiko sind da, sind Individuen mitten in der Gesellschaft, sind Kinder und Erwachsene. Und wir stemmen unser Leben genauso wie andere, gesündere Menschen, nur gegen weitaus mehr Widrigkeiten, mit mehr persönlichem, zeitlichem und finanziellem Aufwand, und das bei geringerem Energielevel, und seit der Pandemie mit noch mehr Vorsicht und Rückzug.
Viele von uns müssen genauso zur Schule, zur Uni, zur Arbeit, einkaufen und all die anderen Dinge machen, die jeder Mensch macht. Allerdings tun wir das mit dem Wissen ausgestattet, wie es ist, zB mit einer chronischen Erkrankung zu leben – und dabei oftmals ganz normal funktionieren zu müssen.
Wer davon keine Vorstellung hat, sollte sich auch keine realistische Einschätzung der Gefahr zutrauen.

Und dann gibt es ja noch andere Menschen mit erhöhtem Risiko – die wissen nichtmal was von ihrem Risiko.

Außerdem gibt es auch Lehrer und Lehrerinnen, die ein erhöhtes Risiko haben – was tun die, wenn von ihnen ihr Antanzen in einer Schule erwartet wird, wo infizierte Kollegenschaft und SuS rumrennen?

Vorsicht und Weitsicht

Solange unklar ist, wie die Folgeerscheinungen einer Infektion sicher verhindert werden können, müsste also jeder Mensch mit vernünftigem Geist hier größte Vorsicht walten lassen, wenn er sein Leben und seine Kinder liebt. Andere, sorglosere Haltungen dazu bestehen wohl mehr aus Verdrängung und falscher Sicherheit aus verharmlosenden “Alternativfakten” als aus ihrer gern vorgetäuschten, abgeklärten Rationalität.

Denkt doch daher einfach künftig auch euch selbst mit, wenn das Wort “Vulnerable” fällt – das erhöht die Empathie, und es wäre weitaus klüger als etwa krankenfeindlichen Bullshit rauszuhauen. Bullshit, der die Vorsichtigen heute noch als merkwürdig oder ängstlich hinstellen will, der euch aber schon morgen leid tun könnte. Vorsicht und Weitsicht sind nämlich überaus rationale Entscheidungsgrundlagen, mit “Angst” hat das wenig, mit “Panik” gar nichts zu tun, sondern mit vernünftiger Abwägung von möglichen Konsequenzen und (un)erwünschten Zukunftsszenarien.

Wir alle benötigen Schutz vor den Folgen dieses Virus – auch und vielleicht sogar besonders die, die ihn nicht zu brauchen glauben.

Trotz alledem soll das neue Schuljahr in Österreich in wenigen Tagen anscheinend ohne Schutzmaßnahmen beginnen.

Artikel

Gesundheitsvorherrschaft: Aspekte (1)

Hier erscheinen nun in losen Abständen weitere Gedanken zu meinem vorigen Blogeintrag, der Übersetzung des Essays von Dr. Maarten Steenhagen. Viele Aspekte der Krankenfeindlichkeit kommen im Essay nicht oder nicht explizit vor. Diese möchte ich hier nach und nach thematisieren.

Nach rechts geschwemmt?

In der Einleitung schrieb ich: “Wir sehen uns seit Pandemiebeginn zunehmend mit rechtsextremen Anschauungen konfrontiert.”
Gemeint: Mit den neoliberalen, neofeudalen bis rechtsrechten Vorstellungen von Stark und Schwach, von Hochwertig und Minderwertig, von Leistung und “Leistung”. Die, die uns weismachen wollen, Solidarität wäre, wenn die einen auf die anderen draufsteigen. Davon sind wir ja schon weitaus länger unterwandert als nur in den letzten Jahren.
(siehe auch mein Rant aus dem Mai 2020 und frühere Beleuchtungen des Leistungsgedankens)

Nicht nur rechte Trolle auf sozialen Medien konfrontieren uns damit, wenn sie uns ihren gefühlten Anspruch auf Rücksichtslosigkeit und Entsolidarisierung als “Freiheit” verkaufen wollen. Nicht nur aus der False Balance in zu vielen anderen Medien schwappt es uns die neue Kaltschnäuzigkeit frostig in unsere mentalen Systeme.

Sondern auch und immer wieder von Seiten unserer Regierung, die ihre Berater und Beraterinnen nie auf ihre Gesinnung abklopft, weil wertebefreiter Machterhalt sich gesinnungsmäßig gar nicht festlegen muss. Stattdessen scheint sie jede “gesundheitspolitische” Empfehlung gerne anzunehmen, die opportun ist, um ihre Wirtschaftsklientel zufriedenzustellen. Genausowenig überraschend ist dabei, dass die kapitalismusfreundlichsten Konzepte gleichzeitig mitunter die menschenfeindlichsten sind.

Während du dich also politisch unverrückbar links wähnst und auf Seiten von Toleranz, Mitgefühl, Gleichbehandlung und sozialer Güte, schwappen dir diese vereinfachten Inhalte durchs Hirn wie so’n Abwasser und nehmen dich und deine Haltung allmählich immer weiter mit nach rechts. “Normalisierung” tritt ein. Denn diesen menschenfeindlichen, wertefernen und rechtsextremen Anschauungen wohnt stets die verführerische Komponente inne, sehr simpel zu sein. 

Über Lernfähigkeit

“Wir müssen mit dem Virus leben lernen” ist einer dieser “simplen” Inhalte. Wiewohl es dieser Satz ordentlich in sich hat.

Zunächst wird ein solcher stehender Satz nicht einmal ansatzweise der Komplexität gerecht, die dieser Pandemiesituation nun mal eigen ist. Ja, es ist genau jene Komplexität, die die rechten Vereinfacher mit ihren Stehsätzen so gerne ausblenden möchten. Der lapidare Satz sagt sich aber eben so beschwingt-abgeklärt, dass er gern als veritables Killerargument genutzt wird, weil er ach-so-sehr nach einer realistischen, lebensnahen persönlichen Haltung klingt.

Er hat allerdings seine Tücken, weil er die vielen Aspekte dahinter eben gar nicht erst adressiert.
Stattdessen tut er so, als müsste man sich diskursfrei auf ihn einigen wollen, und man tut, als könnte er nur eins bedeuten.
Während der Satz in Wirklichkeit genauso alles Menschenmögliche an Schutzmaßnahmen und Rücksicht meinen kann (für alle Menschen, nicht nur gesunde), wie gar nichts.

Ich habe diesen Satz auch schon von Leuten gesagt bekommen, die sich für politisch links halten. Für Risikopersonen wie mich ein Schlag ins Gesicht, weil man uns damit meistens vermitteln will, wir sollen uns einfach “nicht so anscheißen” (wie die mit der stabileren Gesundheit uns das ja so plakativ vormachen) und uns “halt selber schützen” (wie die mit der stabileren Gesundheit uns das nicht plakativ vormachen können, weil sie wenig Erfahrung darin haben, wie das gehen soll). Und wir müssten uns für dieses “Selberschützen” dann noch anschauen lassen, als wären wir nicht ganz richtig im Kopf, weil wir unser menschliches Sein und Leben vor einem (weiteren) körperlichen Schaden bewahren wollen. Aus Vernunft und aus der Erfahrung, wie es ist, mit einem solchen zu leben (die denen mit der stabileren Gesundheit obendrein fehlt).

Was jemensch (womöglich gar Drosten oder so) ursprünglich vielleicht mal mit dem Satz gemeint haben könnte:
“Das Virus wird nicht mehr weggehen – also lasst uns einen Umgang damit finden, der die Gesellschaft als Ganzes am besten davor bewahrt.”
Könnte man so sehen. Lernen ist ja ein evolutionärer Vorteil, weil es oft zu besserer Anpassung an die veränderlichen Umweltbedingungen im Leben führt. Genau diese Implikation nützt der Satz aus, allerdings in jeder der mitschwingenden Bedeutungsvarianten. Also auch dann, wenn er für das genaue Gegenteil steht: die Wirklichkeit ausblenden und so tun, als wäre die Pandemie vorüber – auch dieses Verhalten soll uns mit dem Satz als “Lernen” verkauft werden.

[Man bemerke bitte wohlwollend, wie lässig ich eingestreut habe, dass darwinsche Evolution das (genetische) Überleben der Anpassungsfähigsten meint – nicht der Stärkeren.]

Was aber wirklich nach dem elenden Stehsatz als Implikation in der Luft liegt:
“… und wenn du das nicht lernen kannst/willst, oder deine Liebsten, dann sterbt halt.”

Oder auch:
“Wir müssen eben die Härte haben (Uga!*) und uns daran gewöhnen, dass niCHt aLLe überleben können!
Sondern nur die Supersten – die halt dann mit Gefäß-, Organ- oder Hirnschäden, aber das kümmert uns jetzt nicht mehr!.”

[*Mit “Uga!” pflege ich ich hierzublogge die Emotion zu bezeichnen, die absichtsvoll in jemandem ausgelöst werden soll, der sich endlich zu den StArKeN zählen darf.]

Wenn unsere Herrn Politiker einen solchen Satz daherfaseln, dann kann man nicht mit Sicherheit sagen, was sie wirklich meinen, wenn man nicht nachfragt. Macht aber trotzdem keiner. Man käme sich ja auch blöd vor. Das ist genauso, wie wenn sie sagen, “Leistung muss sich wieder lohnen!” und nicht dazusagen, dass damit aber nicht der Hackler aus Favoriten gemeint ist. Da fragt auch keiner: “Aha, wie meinen Sie das denn jetzt genau?”

Schwerer Fehler, man sollte ja viel mehr nachfragen.
Zum Beispiel:
¿ Finden Sie wirklich, dass man es Menschen noch schwerer machen sollte, denen es eh schon ausreichend gschissn geht?
¿ Dass man sie “aussortieren” müsste?
¿ Ihnen die alltäglichen Besorgungen weiter erschweren?
¿ Ihre Existenz ausblenden, damit die StArKeN endlich ihr Leben weiterleben können?

¿ Gelten Menschenrechte nicht für alle Menschen?
¿ Gibt es Menschenrechte nicht überhaupt nur deshalb, weil nicht alle ~gleich stark~ sind? Und das nicht nur in ihrer Konstitution, sondern auch und gerade bei ihren Möglichkeiten, auf ihre Bedürfnisse aufmerksam zu machen?

Wenn ihr diesen Fragenblock menschenfreundlich beantwortet hättet – dann sagt diesen Satz bitte nicht mehr. Zumindest nicht, ohne zu konkretisieren, was ihr damit genau meint; für euch und für andere.
Dankeschön! @->–>

Artikel

Die Vorherrschaft der Gesunden

Seit Beginn der Pandemie sehen wir uns zunehmend mit rechtsextremen Anschauungen konfrontiert. Ein Essay bringt eine klare Einordnung krankenfeindlicher Tendenzen: Gesundheitsvorherrschaft ist eine faschistoide Ideologie.

In den Jahren der Pandemie war es für Menschen aus der Risikogruppe, Menschen mit chronischen Krankheiten oder mit Behinderung und für deren Angehörige schon schwierig genug, ihr Leben wenigstens auf Sparflamme fortzuführen.
Ob und in welchem Ausmaß “die Gesunden” (oder die, die sich dafür halten) Schutzmaßnahmen mittragen und für sich als zumutbar empfinden, wird jedoch wesentlich davon bestimmt, welche geistige Haltung sie gegenüber Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen einnehmen. Die allzu lauten Verharmloser und Leugnerinnen schreien uns ihre Anschauung dazu regelmäßig in die Ohren und in unsere Gedankenwelt.

Dr. Maarten Steenhagen vom philosophischen Institut an der Universität Uppsala hat im Mai bei Medium ein eindringliches Essay in englischer Sprache veröffentlicht. Angesichts der sukzessiven und aktuellen Entwicklungen im Laufe der Pandemie sind Steenhagens klare Worte in diesem Essay eine wichtige Einordnung, wie ich finde.

Im Einvernehmen mit dem Autor (und sehr zu seiner Freude :) habe ich sein Essay daher hier auf Deutsch übersetzt.
(Hier verlinke ich seinen Original-Twitter-Thread zum Essay.)

tl;dr

Die Vorherrschaft der Gesunden ist eine krankenfeindliche, rechtsextreme und faschistoide Anschauung, die den vergänglichen Gesundheitsstatus der Menschen in eine absolute Eigenschaft umdeutet und daraus Privilegien- und Machtansprüche der “Gesunden” ableitet. Sie richtet sich gegen alle, die diesem trügerischen Gesundheitsideal nicht entsprechen, und schürt und legitimiert damit Abwertung und Aggression gegen diese Menschen.
Wir müssen den Erscheinungen dieser Ideologie entschlossen entgegentreten – in uns selbst und in anderen.

`°º¤ø,¸¸,ø¤º°`°º¤ø,¸¸,ø¤º°`°º¤ø,¸¸,ø¤º°`°º¤ø,¸¸,ø¤º°`

“Verabscheust du Faschismus?
Dann sei nicht krankenfeindlich!

(“Loathe fascism? Then don’t be a health supremacist”)

Die Vorherrschaft der Gesunden ist eine Ideologie. Vorherrschaftsdenken beginnt immer mit der gedachten Aufteilung der Welt in vermeintlich “hochwertige” und “minderwertige” Menschen. Gesundheitsvorherrschaft ist die Anschauung, dass jemand, der als gesund betrachtet wird, all denen übergeordnet wäre, deren Gesundheit in irgendeiner Weise eingeschränkt ist; jegliche Form von Krankheit oder mutmaßlicher gesundheitlicher Beeinträchtigung macht dich in dieser Anschauung aus Prinzip zu einem “minderwertigen” Menschen. Gesundheitsvorherrschaft ist der Glaube, den Gesunden würde das natürliche Privileg zustehen, gesellschaftlich die Vorherrschaft über die anderen auszuüben.

Dem Kern von Gesundheitsvorherrschaft und Krankenfeindlichkeit wohnt ein Trugbild inne: Dass es so etwas wie eine “natürlich-gesunde” Person gäbe, die niemals ernstlich krank oder behindert ist und das auch nicht werden kann. Ein Trugbild deshalb, weil das einfach nicht der Wahrheit entspricht. Die Gesundheit ist eine der unvorhersehbarsten Gegebenheiten an einem Menschen. Jede und jeden von uns trennt nur eine Infektion oder ein Unfall von einer Erkrankung oder Behinderung.

Mit der Aussage, dass alle Gesundheit fragil ist, soll hier nicht in Abrede gestellt werden, dass es beim Gesundheitszustand strukturelle Ungleichheiten gibt: Wenn du dir Nahrungsmittel nicht leisten kannst oder in einer Gegend mit starker Luftverschmutzung lebst, wird das deine Gesundheit beeinflussen. Strukturelle Ungleichheiten, die unterschiedliche Gesundheitszustände zur Folge haben, sind ein guter Grund, den Gesundheitszustand nicht zu einer Kategorie zu essentialisieren. Und doch ist es genau dieser Essentialismus, den die Gesundheitsvorherrschaft verlangt. Das ist der Grundpfeiler ihres Trugbildes. Und Krankenfeinde tun was sie können, um aktiv diese Fantasie aufrechtzuerhalten und auszuüben.

Der Kniff lautet, dass man sich die Gesundheit als etwas vorzustellen hätte, das Grundlegendes und Essentielles über eine Person verraten würde. Anstatt anzuerkennen, dass Gesundheit und Krankheit praktisch jedem widerfahren kann, bildet sich die Gesundheitsvorherrschaft gern ein, dass ein guter Gesundheitszustand eine angeborene, naturgegebene Eigenschaft mancher Menschen wäre (und anderer Menschen nicht). Der selbst-erklärte Gesundheitsstatus wird allmählich zu einem Teil der individuellen Identität. Diese Auffassung von Gesundheit als essentielle Eigenschaft einiger (und anderer nicht) bildet die Grundlage für eine Weltanschauung, in der eine bestimmte Gruppe – die selbsternannten “natürlich-Gesunden” – den anderen naturgegeben übergeordnet wäre.

Wie wurde die Krankenfeindlichkeit während der Pandemie angekurbelt?

Wie andere rassistische Ideologien hat auch Gesundheitsvorherrschaft eine lange und grausame Geschichte. In den letzten zwei Jahren konnten wir beobachten, dass die Gesundheitsvorherrschaft ins öffentliche Bewusstsein vordringt wie schon lange nicht mehr. Krankenfeindliche Ideologie ist zum Mainstream geworden und scheint selbst von solchen Leuten übernommen zu werden, die von sich sagen, sie würden rassistische Denkweisen ablehnen. Das ist eine gefährliche Entwicklung, die wir bekämpfen und umkehren müssen.

Die Krankenfeindlichkeit wurde von der Pandemie angekurbelt. Erinnern wir uns, von Pandemiebeginn an wurde die öffentliche Wahrnehmung von Covid-19 dahingehend geprägt, dass es zu einer Spaltung in “hochwertige” und “minderwertige” Menschen kam. Die Krankheit wurde uns als eine präsentiert, die nur für “die Vulnerablen” ein Problem darstellt – Menschen, die älter sind und ein schwächeres Immunsystem haben, oder solche mit “Grunderkrankungen” oder “Vorerkrankungen”.
Covid-19 wird zunehmend als eine Krankheit abgetan, die nur jene schädigen würde, die (in krankenfeindlichen Begriffen) bereits “vorgeschädigt” waren; als etwas, das richtiges Krankwerden nur bei denen auslösen würde, die bereits vorher irgendwie die Veranlagung zum Krankwerden gehabt hätten. “Wenn sie der Virus nicht erwischt hätte”, sagen Freunde plötzlich, “dann hätte sie eben etwas anderes erwischt”. Oder: “Ich mach mir keine Sorgen, meine Konstitution ist von Natur aus stark.”

Ich weiß nicht, wie dieses Narrativ so gängig werden konnte, und das sogar unter denen, die es besser wissen sollten – unter Leuten, die an anderen Fronten gegen Faschismus auftreten, gegen Diskriminierung und Exklusion, oder die angeblich für soziale Gerechtigkeit und Inklusion kämpfen. Doch es wurde dennoch gängig.

In Wahrheit war jede demographische Gruppe von SARS-CoV-2 betroffen (wenn auch nicht gleich stark). Während der Pandemie haben Ärztinnen und Ärzte immer wieder betont, dass jede und jeder gefährdet ist. Und dennoch wiederholen viele ständig die Mär, dass SARS-CoV-2 als solches ein “mildes” Virus wäre; dass Covid-19 eine “milde” Erkrankung wäre, mit dem ein “natürlich-gesunder Körper” ganz einfach fertigwerden sollte. Ein Krankenfeind mag sogar zugeben, dass manche Menschen von diesem Virus tatsächlich schwer krank werden. Aber die, die tatsächlich krank werden, müssen dann ja schon vorher irgendwie anders gewesen sein. Der typische essentialistische Kniff eben.

Das gesundheitsbezogene Vorherrschaftsdenken und seine Narrative sind mit jeder Welle der Pandemie ausgeprägter geworden. Mittlerweile ist die öffentliche Vorstellung von der Gesellschaft fast gänzlich in zwei Lager gespalten: die vermeintlich höherwertigen, “gesunden” Individuen auf der einen Seite, und die vermeintlich minderwertigen “Vulnerablen” auf der anderen. Je verbreiteter eine solche Spaltung und diese Art des Deutungsrahmens (Framings) der Pandemie wird, umso weniger Individuen in der Gesellschaft bleiben davon unberührt. Das erzeugt auf alle den Druck, die eine Frage zu beantworten:
Zu welcher Gruppe gehöre ich?

Wie zeigt sich Krankenfeindlichkeit?

Krankheitsfeindliche Anschauungen unterwandern das öffentliche Bewusstsein, auch wenn wir uns dessen nicht immer bewusst werden. Um das klar zu sagen, es gab sie auch schon vor der Pandemie. Ein offensichtliches Beispiel ist der weitverbreitete Alltags-Ableismus – die gesellschaftliche Diskriminierung behinderter Menschen, sodass Menschen ohne Behinderung bevorzugt behandelt werden – sowie ein Hang zu eugenischen Bemühungen (mehr dazu später).

Allerdings hat das gesundheitsbezogene Vorherrschaftsdenken während der Pandemie wohl einen großen Sprung nach vorn gemacht. In Ländern wie den USA, Großbritannien, den Niederlanden und Schweden ist es in den Strategien der Gesundheitsbehörden offenbar zur Norm geworden – und es stößt auf beängstigend wenig Widerstand.

Wenn man die Vorherrschaft der Gesunden in Aktion sehen will, wo immer es um die Haltungen zur Pandemie geht, dann kann es hilfreich sein, zwischen ihrer offenen Manifestation und ihren verborgenen Formen zu unterscheiden.

Offene Krankenfeindlichkeit ist schwer zu übersehen, da sie für gewöhnlich laut und markant ist. Sie ist selbstbewusst, auffallend und symbolträchtig, und sie vergesellschaftet sich typischerweise sichtbar mit anderen rechtsextremen Ideologien.
In diesem Zusammenhang war der Artikel von Emily Gorcenski weitblickend, als sie im Jahr 2017 über die “Unite The Right”-Rally [Kundgebung “Vereinigt die Rechten”] in Charlottesville (Virginia, USA) schrieb: Rechten Aktivisten und Aktivistinnen gelingt es immer besser, die Lautstärke ihrer Botschaft durch Zusammenschluss zu erhöhen. Im Sommer 2020 führte Wettermoderator und Impfgegner Piers Corbyn auf dem Trafalgar Square in London einen beachtlichen Protestaufmarsch der Maskengegner an. Mit dem Event legte man es darauf an, Aufmerksamkeit zu erregen. Der Soziologe Phil Burton-Cartledge beschreibt hier, wie dieser Protest eine ganze Riege an rechtsextremen Aktivisten anzog, von solchen aus den Reihen der “British Union of Fascists” über Klimawandel-Leugner bis hin zu Anhängern der QAnon-Verschwörungsmythen.
Ein ähnlicher Aufmarsch fand im April 2022 in Los Angeles (Kalifornien, USA) statt, wo Aktivisten und Aktivistinnen auf ihren Transparenten Impfungen als gefährlich bezeichneten und “medizinische Freiheit” von ihnen gefordert wurde. Was er dort sah, beschrieb der Journalist Eric Levai vom “Rolling Stone” als einen “geschickt präsentierten Spendenaufmarsch der Faschisten voll unheilvoller Warnsignale vor dem, was uns bevorsteht”.
Ein Jahr zuvor hatte in derselben Stadt die neofaschistische Gruppierung “Proud Boys” in gewaltvoller Weise versucht, Menschen zu “demaskieren”, eine wilde, öffentliche Offenbarung rassistischer Vorherrschaftsstimmung.

Das sind offene und symbolträchtige Zurschaustellungen von Krankenfeindlichkeit: Da protestieren sie und wenden sich rabiat gegen Maßnahmen zur Infektionskontrolle, die (in der vorherrschaftlichen Anschauung) die vermeintlich “höherwertigen”, “natürlich-gesunden” Menschen nicht bräuchten und die vermeintlich “Minderwertigen” nicht verdienen würden. (Es versteht sich von selbst, dass dies eine gefährliche und widerwärtige Doktrin ist. Ich beschreibe es hier nur, um besser erfassbar und erkennbar zu machen, was da passiert, damit man dem entgegentreten kann.)

Verborgende Krankenfeindlichkeit kann schwammiger sein und allerlei Formen annehmen. Etwa die Form institutionalisierter Diskriminierung, Exklusion, Verharmlosung und Mikro-Aggressionen. Denken Sie an gesundheitspolitische Amtsträger, die es uns als positiven und beruhigenden Aspekt präsentierten, dass offenbar “nur” diejenigen schwer erkranken oder sterben, die ohnehin Vorerkrankungen haben – als würde die Krankheit oder der Tod eines Menschen irgendwie weniger Rolle spielen, wenn er Diabetes hat?
Oder denken Sie an Aussagen wie “Wenn du bisher kein Covid hattest, hast du vermutlich keine Freunde” – was unterstellt, dass alle, die sich darum bemühen, eine Infektion mit einem SARS-Virus zu vermeiden, sozial Ausgestoßene wären.

Andere Beispiele von verborgener Krankenfeindlichkeit: Wenn ein Arbeitgeber seine Angestellten zwingt, ins Büro zu kommen, ohne Maßnahmen zum Schutz vor einer Infektion. Wenn eine Freiwilligengruppe sich weigert, den Zugang zu ihren monatlichen Treffen auch auf alternative Arten zu ermöglichen. Wenn ein Freundeskreis dich fallenlässt, weil du auf Masken oder auf Treffen im Freien bestehst und das “keinen Spaß mehr macht”.
Oder was ist mit der allgemeinen Stimmungsmache, die Pandemie wäre vorbei – und das den bekannten Tatsachen zum Trotz: die Übertragungsrate ist hoch, Long-Covid grassiert, die Impfwirkung lässt zweifellos mit der Zeit nach, und Behandlungen gegen Long-Covid sind derzeit immer noch nicht verfügbar. In den Beispielen wird stillschweigend, aber unmissverständlich eine gesundheitsherrschaftliche Grundstimmung transportiert: “Wenn du glaubst, dass du von deiner Natur her Covid nicht wirklich gewachsen bist, solltest du möglicherweise gar nicht hier sein.”

Die vielleicht am stärksten handlungsbetonte Form der alltäglichen Krankenfeindlichkeit während der Pandemie war der irrational heftige Widerstand gegen das Tragen von Masken in vielen europäischen Ländern. Diese augenscheinliche Ablehnung lässt mich immer noch fassungslos zurück. Masken sind eine einfache und grundlegend effektive Maßnahme, um andere zu schützen und die Verbreitung eines Virus einzudämmen, der über die Luft übertragen wird. Dass so viele die kleine Unbequemlichkeit, die ihnen das Maskentragen beschert, für so unendlich viel wichtiger halten als den Schutz, den es anderen bietet – obwohl sie genau wissen, dass manche diesen Schutz wirklich benötigen – daran ist erkennbar, dass sie diejenigen, die sich gegen Covid schützen wollen, als minderwertig ansehen.

Aber es geht noch weiter, keine Maske zu tragen ist ihnen nicht genug. Ihre Maskenverweigerung muss aktiv und sichtbar zelebriert werden. Menschen mit Maske müssen zur Rede gestellt und verhöhnt werden, Blicke müssen geworfen und Augen gerollt werden. Die Existenz von Menschen die, aus welchem Grund auch immer, das Covid-Risiko ernst nehmen, scheint den Maskenverweigernden unerträglich zu sein.

Ist die Vorherrschaft der Gesunden eine Form von Faschismus?

Gesundheitsvorherrschaft ist dem Grunde nach eine faschistische Doktrin. Genau genommen ist Faschismus eine bestimmte geschichtliche Strömung. Sie begann im frühen 20. Jahrhundert in Italien und floss später in den deutschen Nationalsozialismus ein. Es war die Strömung, die letztlich zum Holocaust führte, ein Massen-Gemetzel, das genau auf einer Linie mit dem faschistischen Weltbild liegt: gewalttätig intolerant gegenüber allen Menschen, die als “minderwertig” betrachtet werden.
Nach dem Zweiten Weltkrieg haben verschiedene neofaschistische Bewegungen versucht, diese Ideologien wiederzubeleben (oder vielmehr: sie am Leben zu erhalten). Die immer stärker sichtbar auftretenden rechten Bürgerwehren in den USA sind ein gutes Beispiel dafür, genau wie die British National Party in Großbritannien, und Voorpost und das Forum for Democracy in den Niederlanden (die letztgenannte Bewegung hat derzeit Mandate im niederländischen Parlament).

Den ideologischen Kern des Faschismus kann man allerdings von der Geschichte entkoppeln. Faschistische Strömungen drehen sich um die Vorstellung, dass eine Gruppe in der Gesellschaft das natürliche Recht dazu hätte, über die anderen zu herrschen. Diese “überlegene” Gruppe sollte nach Ansicht der Faschisten “rein” gehalten werden, frei von genetischer Verfälschung oder körperlicher Verunreinigung, auf dass die privilegierte Gruppe nicht geschwächt werde. Die Methoden der Ausgrenzung, Ungleichbehandlung, Eugenik und Gewalt werden zur Gänze mit dem guten Gedeihen der selbsternannten privilegierten Gruppe gerechtfertigt.
Es ist freilich etwas komplizierter als das, aber in dieser Charakterisierung erkennen wir, dass die meisten, wenn nicht alle rassistischen Ideologien zumindest diesen faschistischen Kern haben: Sie alle verfechten eine gesellschaftliche Anschauung, derzufolge eine Gruppe einen naturgegebenen Anspruch darauf hätte, über die anderen zu herrschen. Demnach ist die Ideologie jeder rassistischen Strömung, unabhängig von ihrer jeweiligen historischen Entwicklung, in ihrem Kern faschistisch.

Der faschistische Kern der Vorherrschaft der Gesunden ist die Vorstellung, dass diejenigen, die gesund sind, irgendwie die “besseren” Leute wären, und dass die Gesellschaft ihre Interessen und ihr Gedeihen schützen dürfte und müsste (und das vorrangig zu den Interessen und dem guten Gedeihen aller Mitglieder der Gesellschaft).
Man denke daran, dass dies ein falscher, essentialisierender Anspruch ist: Diejenigen, die zufällig gesund sind oder sich für gesund halten, werden als besser erachtet, angeborenerweise, von innen heraus, vielleicht sogar genetisch besser. Dieses essentialistische Denken über menschliche Eigenschaften – das wird Ihnen jede Psychologin bestätigen – übt auf unsere Gedankenwelt eine Anziehungskraft aus, die eine oberflächliche und kindische Basis hat.
(Man bemerke auch: es ist gar nicht gesagt, dass einzelne Leute, die krankenfeindliche Vorstellungen vertreten, selbst tatsächlich gesund sind. Was in dieser Weltanschauung zählt ist, dass man sich als gesund und stark darstellt und erscheint – jeder gesundheitsherrschaftlich denkende Mensch kann sehr wohl alle möglichen unerkannten oder uneingestandenen Gesundheitsprobleme haben.)

In dieser Hinsicht benutzt die krankenfeindliche Ideologie der Gesundheitsvorherrschaft dasselbe kognitive Schlupfloch wie die bekannteren Formen des Vorherrschaftsdenkens: Weiße Vorherrschaft und Männliche Vorherrschaft. Genau wie diese Ausprägungen rassistischen, vorherrschaftlichen Denkens verfolgt auch die Gesundheitsvorherrschaft die Vorstellung von der natürlichen Stärke und Vormacht eines bestimmten Typus Mensch – mit der Absicht, die Macht dieses Typus zu gewährleisten und zu erhalten. Während der Weiße Vorherrschaftsglaube der Vorstellung vom starken weißen Körper anhängt und der Männliche Vorherrschaftsglaube der Vorstellung von der biologischen Überlegenheit des Mannes, hängt die Gesundheitsvorherrschaft der Vorstellung von der Überlegenheit des “natürlich-gesunden” Körpers an.
Als notwendige Ableitung daraus bildet sie sich ein, alle, die eine Krankheit oder eine Behinderung haben, wären minderwertig. In dieser krankenfeindlichen Anschauung sollen nur diejenigen soziale Ansprüche und Privilegien genießen dürfen, die als gesund erachtet werden. Jeder und jede, auf die das nicht zutrifft, hat darin ein geringeres Anrecht auf Existenz; idealerweise sollten – laut dieser Gesinnung – kranke oder behinderte Menschen überhaupt nicht existieren.
Aktivistinnen und Aktivisten für Behindertenrechte warnen seit Jahrzehnten vor solchen Anschauungen. Auf mich wirken diese Anschauungen schlicht und ergreifend faschistisch.

Wie unterscheidet sich Krankenfeindlichkeit von Ableismus und Eugenik?

Krankenfeindlichkeit ist mit einer Erscheinung namens Ableismus nah verwandt. Ableismus ist eine Form der Diskriminierung, ein System aus Stereotypen, das den “voll funktionstüchtigen” Körper (“abled body”) als gesellschaftliche Norm betrachtet. Wie K. Cassidy es charakterisiert, ist Ableismus “der vorurteilsbehaftete Umgang mit behinderten Menschen unter der anmaßenden Behauptung, sie wären minderwertig”. Ableistische Verhaltensweisen und Taktiken schaden also dem Wohlergehen von Menschen mit Behinderung und machen es zunichte. Ableistische Sprachmuster unterstellen, dass Menschen mit Behinderung irgendwie weniger wert wären, oder sie ignorieren die individuellen Formen ihrer Kompetenz und Handlungsfähigkeit.
Cassidy und viele andere Autorinnen und Autoren haben darüber geschrieben, wie ableistisch die Reaktionen auf die Covid-19-Pandemie sind, und dass dadurch weitere ableistische Gesinnungen verstärkt wurden.

Man kann sich Ableismus als eine spezielle Form der gesundheitsherrschaftlichen Anschauung vorstellen. Die Vorherrschaft der Gesunden idealisiert einen natürlich-gesunden Körper, der Krankheit und Behinderung widersteht. Folglich ist das Bild, das er von der Gesellschaft malt, von Grund auf ableistisch, weil ein behinderter Mensch unweigerlich daran scheitern wird, diesen wahnhaften krankenfeindlichen Idealen gerecht zu werden.
Doch Gesundheitsvorherrschaft ist breiter angelegt als Ableismus, weil sie auch jede Person, die krank geworden ist oder deren Genesung länger auf sich warten lässt, als “minderwertig” einstuft; außerdem solche Menschen, die chronische oder genetisch bedingte Krankheiten haben, die die Betroffenen selbst nicht als Behinderung einordnen würden. Als “minderwertig” werden darin übrigens auch all jene betrachtet, die der gesundheitsherrschaftlichen Ideologie nicht anhängen.

Die Vorstellungen der Gesundheitsvorherrschaft erinnern auf schaurige Weise an das Eugenik-Projekt. Eugenik ist ein gesellschaftliches Konzept, das erbliche Eigenschaften in der Bevölkerung zu verstärken sucht, typischerweise durch gezielte Zucht, aber auch durch Zwangssterilisation oder gar Mord an bestimmten Bevölkerungsgruppen. Der rassistische Gedanke hinter der Eugenik ist offensichtlich, baut sie doch darauf auf, dass Menschen mit bestimmten Eigenschaften als besser erachtet werden als Menschen, denen diese Eigenschaften fehlen. Man sollte jedoch erkennen, dass Gesundheitsvorherrschaft und Eugenik zwei verschiedene Dinge sind. Ersteres ist eine Ideologie, letzteres ein Zuchtprogramm. Die Bestrebungen der Eugenik mögen eine beispielhafte Manifestation der Gesundheitsvorherrschaft sein, sie sind aber beileibe nicht ihre einzige Manifestation. Wie oben erwähnt, manifestiert sich Gesundheitsvorherrschaft als eine ganze Reihe gesellschaftlicher Anschauungen, samt Ableismus und anderen Formen der Privilegierung auf der Basis gesundheitsbezogener Aspekte. Würden wir ein gewisses Zuchtprogramm als das einzige betrachten, was Krankenfeindlichkeit anrichten kann, dann würden wir Gefahr laufen, andere zerstörerische Manifestationen dieses Vorherrschaftsdenkens zu übersehen.

Was können wir gegen Krankenfeindlichkeit tun?

Faschismus ist eine gewalttätige, immer zerstörerische und oft todbringende politische Doktrin, der man entgegentreten kann und muss. Gesundheitsvorherrschaft ist eine faschistische Ideologie, daher kann und muss man ihr Widerstand leisten. Ihr Erstarken wird uns allen schaden. Doch etwas gegen diese Form des Faschismus zu tun ist leichter gesagt als getan. Denn die krankenfeindliche Anschauung hat unseren Alltag und das gesellschaftliche Bewusstsein dermaßen durchdrungen, dass der Kampf dagegen für viele bedeuten wird, ihre Gewohnheiten zu ändern und ebenso ihre Erwartungen. Doch es ist höchste Zeit, dieser Tatsache ins Gesicht zu sehen.

In seinem Buch “Faschismus. Und wie man ihn stoppt” führt der Journalist Paul Mason aus, dass man den Kampf gegen Faschismus beginnen muss, indem man auf seine Ideologie und seine Mythen aufmerksam macht, indem man beschreibt, wie diese faschistischen Mythen funktionieren, und indem man deren Schleier lüftet. Mason schreibt, faschistische Bewegungen werden von der Überzeugung genährt, dass “eine Gruppe, die ihnen [ihren Mitgliedern] eigentlich untergeordnet sein sollte, im Begriff ist, Freiheit und Gleichheit zu erlangen” (S. 17). Das ist Bestandteil der faschistischen Mythologie, und es ist im Grunde diese Angst vor dem “Anderen”, die die Gewalt anstachelt.

Übertragen wir das zurück auf die Vorherrschaft der Gesunden. Für Krankenfeinde sind diejenigen im Begriff, Freiheit und Gleichheit zu erlangen, deren Körper, Gesundheitszustand und/oder Verhalten ihrem Ideal des “natürlich-gesunden Körpers” nicht entsprechen oder sich ihm nicht unterordnen, denen aber trotzdem das Leben ermöglicht wird (und obendrein ein gutes Leben), indem entsprechende Schutzmaßnahmen, (Gesundheits-)Einrichtungen und Unterstützungen zur Verfügung gestellt werden – in der Gesellschaft, am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft und im Freundeskreis. Die Befürchtung, dass vermeintlich “minderwertige” Menschen – alle, die die Vorstellung vom “natürlich-gesunden Körper” nicht erfüllen – ein gutes, gar ein verbessertes Leben haben könnten – diese Befürchtung ist es, die krankenfeindliche Gewalt schürt.

Dem Faschismus muss Einhalt geboten werden, wo immer er seine Fratze zeigt. Ebenso wie wir gegenüber weißem oder männlichem Vorherrschaftsdenken radikal intolerant sein sollten, müssen Antifaschisten ihre Kräfte bündeln, um gegen gesundheitsherrschaftliche Anschauungen und deren Ausbrüche aufzustehen.

Bist du gegen faschistisches, rassistisches Denken? Ich hoffe es. Dann schau dir doch an, ob du in den letzten paar Monaten, vielleicht unter dem Druck von sozialen Medien oder von Bekannten oder Familienmitgliedern, irgendwelche Aussagen getätigt oder ein Verhalten gezeigt hast, das womöglich gesundheitsherrschaftlichen Tendenzen aufweist. Mach dir erstmal klar, dass du in letzter Zeit bereits sehr eng von krankenfeindlichen Haltungen umgeben warst und bist. Nachdem diese Vorstellungen heutzutage so ziemlich überall sind, trifft das auf fast jeden Menschen zu.

Würdest du anschließend überprüfen, ob und wie du diese Vorstellungen derzeit womöglich propagierst? Sie stillschweigend nach außen zeigst? Kostet es dich nur ein Achselzucken, wenn jemand aus gesundheitlichen Gründen nicht an dem von dir organisierten Meeting teilnehmen kann? Hast du den Kontakt zu einem befreundeten Menschen abgebrochen, als er chronisch krank wurde? Bist du deshalb nicht mehr an seiner Seite? Winkst du ab, wenn gesellschaftliche Anpassungen zugunsten kranker oder behinderter Menschen gefordert werden? Würdest du eine Kollegin oder einen Kollegen zu einem Indoor-Treffen in “gemeinsamer Luft” drängen, obwohl sie gesagt haben, dass sie das lieber nicht möchten? Bleibst du maskenlos, auch wenn andere Menschen um dich herum Maske tragen?

Dann hör damit auf. Hör auf, auch wenn es unbequem ist. Und wenn du an anderen ein solches Verhalten wahrnimmst, dann mach ihnen klar, was sie da tun. Handle, um eine Veränderung dieser Verhaltensmuster zu bewirken. Wir müssen die verdeckten Formen der Krankenfeindlichkeit entlarven – als das faschistische Raunen, das sie sind.

Frei nach Gorcenski:
Gesundheitsvorherrschaft will nicht deine Aufmerksamkeit. Sie will deine Untätigkeit. Gib ihr nicht, was sie will.