7. EXKURS: WAS DAS PATRIARCHAT MIT DEN MÄNNERN MACHT
(Teil eines noch ausführlicheren Textes, den ich schon sehr lange in Arbeit habe. Ich versuche hier, zusammenzufassen bzw. nur einen Teilbereich davon zu beleuchten.)
Reden wär schön. Nicht nur, weil das Teilen von innersten Geheimnissen für die Nähe in einer Beziehung so wichtig ist. Nicht nur, weil diese Frau mit dem so andersartigen Gehirn sich das eben wünscht, weil sie dieses innere Bedürfnis nach vertrauensvollen Momenten und Intimität spürt – und sich beim Stillen dieses Bedürfnisses nicht auf die rein körperlich-sexuelle Ebene beschränken (lassen) will.
Sondern auch, damit der Mann den Kontakt zu seinen eigenen Empfindungen aufrechterhält oder wiedererlangt. Die eigenen Empfindungen und Bedürfnisse ungehindert wahrnehmen und auch entsprechend stillen (lassen) zu können bedeutet auch, selbst-entsprechend handeln zu können. Und davon hängt das seelische und körperliche Wohlbefinden entscheidend ab! Empfindungen und gestillte Bedürfnisse machen das Leben bunter und reicher und vollständiger, weil sie es überhaupt erst ermöglichen, in seinem eigenen besten Sinne zu handeln, tiefe Freundschaften zu führen und aus vollem Herzen zu lieben und geliebt zu werden. Doch dafür muss man erstmal wahrnehmen und akzeptieren können, dass man Bedürfnisse, also “schwache”, bedürftige Gefühle, überhaupt hat.
Alle Menschen kennen den Druck, den “die Gesellschaft” – dieses Konglomerat aus Autoritäten, Medien, Mitmenschen und einem selbst – auf jeden einzelnen von uns ausüben kann. Viele von uns wissen etwa, wie es sich anfühlt, einem weiblichen Rollenbild entsprechen zu müssen: brav sein, hübsch sein, Mund halten, alles hintanstellen, Mann finden, Kinder gebären.
Von der gesellschaftlich diktierten Männlichkeitsschablone hingegen werden viele Gefühle als generell unmännlich aus der Erlebenswelt ausgeklammert. Die männliche Gefühlsabwehr, also dass Männern der Zugang zu den eigenen Gefühlen in der Kindheit und Jugend erschwert und eingeschränkt wird, bis sie diese Aufgabe selbst übernehmen, weiterführen und weitergeben, ist ein mächtiger Mechanismus zur Identitätsentwicklung und Lebensbewältigung, der über Jahrzehnte ausgebildet wird. Das ist wohlgemerkt kein individuelles Defizit, sondern ein gesellschaftliches.
Doch wir alle nehmen an diesem System teil. Es ist Erziehung mit klassischen Methoden, die darin stattfindet: Solange man sich rollenkonform verhält, gibt es von außen Bestätigung und Anerkennung. Doch das Abweichen von einem Rollenbild wird geahndet, durch Ausgrenzung, Spott, Zwang, Gewalt. Der Weg des geringsten Widerstandes ist also scheinbar der leichteste, aber auch der mit dem höchsten “Fimo-Faktor” – also jener Weg, der einen Menschen am stärksten formen, verbiegen und verändern wird. Die Wahl dieses Weges sorgt dafür, dass alles stets beim alten bleibt: weil nie irgendwo irgendwer irgendwas dagegen sagt.
Strategien zur Gefühlsabwehr dienen dem Schutz vor der Überflutung durch Gefühle, und das ist im Prinzip eine sinnvolle Sache, wenn man es nicht übertreibt. Es gehört zum Erwachsenwerden dazu, reifere Verhaltensweisen zu erwerben, um sich emotional ein wenig im Griff zu haben. Es fehlen aber vor allem unter Männern alternative Strategien zur Gefühlsabwehr, dafür, wie vor allem mit schwierigen Gefühlen umzugehen wäre: Abhängigkeit (die emotionale Bedürftigkeit nach Zuwendung und Trost) oder Gefühle der Ohnmacht, Einsamkeit oder Angst.
Weil Männer stark sein sollen, so die patriarchale Grundmeinung, haben sie mit solch schwachen Gefühlen nichts zu schaffen. Eines der wenigen Gefühle, das Männern zugestanden wird, ist Wut. Gleichzeitig ist Wütendsein etwas, das bei Frauen nur ungern gesehen wird; es erzeugt oft Unmut, weil es eine der letzten Männer-Gefühlsdomänen ist. Die Unterscheidungen werden also sehr genau vorgenommen.
Schwache Gefühle aber gelten als unmännlich und werden seit jeher kurzerhand zur Gänze dem anderen Geschlecht zugeschrieben. Dieses gewinnt damit auch gleich das Attribut “schwach” hinzu, was ja praktischerweise auch zur geringeren Körperstärke passt – ergo schon seine Richtigkeit haben wird. Stark ist gut und daher erstrebenswert, schwach ist schlecht – die Gefühle sind also minderwertig, und deren neue Allein-Besitzerinnen ebenso. So funktioniert, vereinfacht erklärt, die Entstehung und Status-Bewertung von Rollenbildern.
Ein Mann hat so zu sein: stark, unabhängig, aktiv, rational, konkurrenzfähig, potent, ungerührt, ein echter Kämpfer, Held und Sieger, Ernährer und Beschützer. Darauf konzentrieren sich Männer, um Männer zu bleiben. Und darauf, dass diese Eigenschaften auch bemerkt und anerkannt werden.
Und viele dieser Eigenschaften werden auch anerkannt und geschätzt – im positivsten Sinn. Die Sicherheit einer schwangeren Frau oder einer jungen Mutter bei ihrem Partner, sein Schutz, seine Liebe, seine Fähigkeit, für seine Familie zu sorgen und für sie einzustehen – all das ist für das Überleben unserer Art zwar mittlerweile nicht mehr zwingend nötig, aber es macht das Leben leichter und schöner. Und welche Frau hat noch nicht erlebt, dass ein Mann ihr etwa mit rationalem Denken seine Unterstützung und Beruhigung bietet, wenn in einer Notsituation Angst, Panik und Katastrophendenken ihr Hirn übernommen haben?
In dem Maß, in dem der Frau heute gestattet wird, in der globalen Männerwelt mitzuspielen, werden auch ihr diese guten Qualitäten zusehends abverlangt. Das Wertesystem insgesamt bleibt davon unberührt.
Auch Frauen kennen also den Druck von außen, Emotionen möglichst effektiv auszublenden. Und die Minderung des Status, der damit einhergeht, wenn wir dennoch etwas zeigen, das als Schwäche gilt. Weicheier werden gemobbt, auch unter Mädchen, unter Frauen. Es ist beileibe nicht (mehr) so, dass wir als ältere Kinder oder erwachsene Frauen jederzeit und jedermann unsere tiefsten Gefühle offenbaren würden und uns damit bewusst der Verletzlichkeit aussetzen, die dabei preisgegeben wird. Wir kennen die Aufforderungen, sich nicht gehenzulassen, sich zusammenzureißen und durchzusetzen, unseren Mann(!) zu stehen – und bei Seelenleid “einfach nicht daran zu denken”.
Für Männer ist dieses Diktat die gefühlt größere Bedrohung, weil das Überleben einer gesamten Identität auf dem Spiel steht (oder zumindest zu stehen scheint).
Doch männliche Vorbilder, die jungen männlichen Menschen emotionale Präsenz und Zugänglichkeit vorleben würden – einfach das pralle Leben mit allen seinen geistigen und gefühlsmäßigen Facetten ohne Einschränkungen – diese Vorbilder fehlen sehr oft. Solche Vorbilder also, die erstens anwesend sind und zweitens nachahmenswert erscheinen.
Damit muss ein Teil der männlichen Identitätsfindung während der Kindheit und Jugend über das Konzept “Nicht-Frau” erfolgen: Ich bin ein männliches Wesen, also sollte ich mich nicht verhalten wie das weibliche Wesen in meinem Umfeld. Das ist so natürlich wie fatal, denn im schlechtesten Fall geht das, bei allen guten Absichten der weiblichen Bezugspersonen, so aus: Je “gefühlvoller” das weibliche Vorbild, desto 180° die Identität des heranwachsenden Mannes. Je “ungerührter” das weibliche Vorbild, umso größer die Verwirrung. So oder so, ein Schuss ins Knie.
Ein weiterer Teil der männlichen Identitätsfindung erfolgt, wenn das männliche Umfeld gar nichts Brauchbares hergibt, über meist sehr stereotype Vorbilder aus Film und TV. Es ist irritierend für eine Frau, wenn eigenartig eingelernt wirkende Sätze an sie gerichtet werden – künstlich-coole, distanzierte Sprüche, bei denen man sich dann buchstäblich vorkommt wie im falschen Film, denn oft sind diese Sätze auch verletzend, herabwürdigend oder sonstwie geprägt von dem Statusunterschied zwischen Mann und Frau.
Gefühlsabwehr geht freilich auch mit dem Unwillen oder Unvermögen einher, sich und seine Gefühle mitzuteilen. Aber auch das Zuhören wird davon beeinträchtigt, weil auch fremde Gefühle abgewehrt werden müssen. Vielleicht ist das der Grund, warum oft nicht die ganze Botschaft ankommt, wenn eine Frau ihrem Mann ihre Vorstellungen mitteilt: Nur die Ratio ist bei ihm auf Empfang, die emotionalen Anteile der Botschaft hingegen erzeugen nur wenig Resonanz. Der Frau wird dann vorgeworfen, sie wäre irrational, unrealistisch oder von Romantisierung verwirrt. Menschen mit Gefühlskontakt spüren aber womöglich viel mehr davon, wenn sie jemanden lieben. Vielleicht haben sie einfach ganzheitlichere Ideen davon, was man dann tut, sagt und gibt?
Auch Mitgefühl – wie das Wort schon sagt – ist nur schwer aufzubringen, wenn man keinen Kontakt zu seinen eigenen Gefühlen hat. Insgesamt kann man auf diese Weise weder seinen Mitmenschen noch sich selbst sonderlich nahekommen.
Die Motivationen für männliches Handeln (und Reden) stützen sich indessen oft auf äußere Faktoren – generelle Handlungsorientierung, Selbstdarstellung, Bestätigung, Wettbewerb und Konkurrenzdenken, Statusgerangel und Machtkämpfe, Distanzierung; das alles sind externalisierende Strategien. Diese am Außen orientierten Verhaltensweisen haben natürlich beileibe nicht nur negative Aspekte. Auf die Balance kommt es an. Und nicht nur Männer verhalten sich so.
Der Schwerpunkt in all dem äußeren Treiben liegt häufig auf der Abwehr der inneren Welt. Damit entfernt sich der Mensch wiederum weiter von seinem inneren Bezug und liefert sich und seinen (Selbst)wert letztlich zu einem großen Teil externen Maßstäben aus. Und auch seine Verantwortung dafür. Als Nebeneffekt müssen traditionellerweise andere Menschen für ihn ein großes Maß der Spiegelungs- und Bestätigungsarbeit übernehmen, die er auf diese Weise nach außen delegiert. Von Frauen wird erwartet, dass sie sehr große Mann-Spiegelbilder zurückwerfen. Gefühlsabwehr führt paradoxerweise zu abhängigen Verhaltensweisen – also genau zu dem, was mit der Gefühlsabwehr ursprünglich vermieden werden sollte – weil die wahre innere Souveränität und erhoffte Unabhängigkeit sich durch Außen-Orientierung nicht richtig entwickeln können.
Es gilt für Männer in diesem System, die Kontrolle zu erlangen und zu behalten. Wer das will, kann nicht riskieren, von unkontrollierbaren Gefühlen heimgesucht zu werden. Also Gefühle kontrollierbar machen, Gefahren kontrollierbar machen, Grund und Boden kontrollieren, die Frau, die Familie, die Stadt, das Land, die Welt! Kontrolle über die wichtigsten politischen, wirtschaftlichen, medialen und religiösen Ämter, mehr Glaubwürdigkeit, Redezeit und Aufmerksamkeit, höherer Verdienst, Dominieren der Inhalte von Filmen und Theaterstücken, mehr Sicherheit vor Gewalt – all das sind gesellschaftliche Privilegien, die Männer genießen.
Doch “kontrollierbare Gefühle”? Das ist beinahe so paradox wie “lebende Leichen”. Gefühle sind spontan und bedienen sich an Instinkten, Bedürfnissen, frühesten Kindheitserlebnissen. Sie sind per se eine unkontrollierbare Macht. Am Versuch, sie zu kontrollieren – im Sinne von “nur bestimmte Mengen zu bestimmten Zeitpunkten wahrzunehmen” – muss man zwangsläufig scheitern. Man behält den Kontakt zu ihnen und lernt, mit ihnen umzugehen, oder man macht aus ihnen eben lebende Leichen.
Ich reiße das Thema Kontrolle hier bewusst nur ganz kurz an. Aber achtet doch mal darauf, wie viele Aussagen, Vorgänge, Ereignisse mit Kontrolle und der Sucht nach Kontrolle zu tun haben, in der äußeren Welt und auch in der inneren. Und wie wenig wir, im Gegensatz zu unseren dahingehenden Illusionen, tatsächlich zu kontrollieren in der Lage sind.
Man könnte sagen, die ganze Armada der Gefühlsabwehr und Außenorientierung ist eine einzige Beschäftigungstherapie, die von der Innenschau abhalten soll. Dann sind irgendwann die unliebsamen Gefühle endlich so weit unter den doppelten Boden gerutscht, dass beim nächsten Öffnen des Deckels die Kiste leer ist. Sozusagen.
Die Gefühlsabwehr bringt persönliche Nachteile mit sich, daher wird darüber auch im 21. Jahrhundert nur sehr wenig gesprochen – und wenn, dann nur hinter den schweigepflichtigen Türen der Psychotherapeuten und -therapeutinnen oder in einschlägiger Literatur. Wer mit Gefühlsabwehr beschäftigt ist, wird auf gewissen Ebenen nie erwachsen genug, um einen anderen Weg als Ausweichen zu probieren. Die gefühlsstrategische Entwicklung wird bei Männern von frühester Möglichkeit an gehemmt. Allerlei Strategien aus der Kindheit werden unbesehen mitgenommen, während Bedürfnisse immer weniger zum Zug kommen.
Das Vermeiden von Gefühlen ist nur ein Hinauszögern, denn es ist eine Strategie ohne befriedigendes Gefühlsergebnis. Das geht nicht ewig gut. Im Leben vieler Männer stellt sich, ausgelöst durch äußere Ereignisse oder auch “einfach so”, irgendwann eine tiefe Unzufriedenheit ein, eine Leere, ein Gefühl der Verlorenheit. Schlafstörungen, Potenzprobleme, Angst, Depression, Midlife Crisis. Die Versuche, all dem beizukommen, beinhalten oft Alkohol, Drogen, Isolation. Von den Menschen, die ihr Leben durch Selbstmord beenden, sind drei Viertel Männer.
Wir Frauen hingegen fühlen uns mitunter betrogen um die gefühlt in Aussicht gestellte, echte Partnerschaft mit einem Mann, die dann doch keine wahre Begegnung, tiefes Vertrauen und Intimität aufkommen lässt. Wir empfinden es als frustrierend und langweilig, nur solche Gespräche zu führen, in denen eigene Befindlichkeiten gewohnheitsmäßig vom männlichen Partner ausgeklammert werden; in denen er sich auf sachbezogene, äußere Aspekte konzentriert, ohne persönlich irgendeinen Bezug darauf zu nehmen. Es ärgert uns, wenn das in weiterer Folge auch von uns erwartet wird, denn es beschneidet auf einer ganz privaten Ebene unseren eigenen Gefühlsreichtum und Spielraum.
Natürlich ist es eine wertvolle Fähigkeit, eine Diskussion sachlich führen zu können, solange sich unterdrückte Gefühle nicht als passive Aggression oder Sarkasmus ihre Bahn brechen müssen, nur weil es keine Option ist, Angst oder Bedürftigkeit oder auch Zorn zu empfinden und auszudrücken. Das trifft selbstverständlich nicht nur auf Männer zu – Menschen einer ganzen Gesellschaft dürfen sich unter der strengen Maßgabe von Unverwundbarkeit und unendlicher persönlicher Stärke und Perfektion kaum je so zeigen, wie sie wirklich sind.
Es gibt auch Frust, wenn man im Gespräch zur stetigen Anerkennung und Bestätigung des gegenübersitzenden Egos genötigt wird. Natürlich hat jeder Mensch das Bedürfnis, bestätigt und anerkannt zu werden, und auch Frauen suchen Bestätigung im Außen. Auch hier ist das Maß das Maß aller Dinge. Ich persönlich reagiere empfindlich auf eine übermäßige Forderung nach Bestätigung, egal ob durch Mann oder Frau, und ich kann dann sehr bockig werden. Wenn ich hingegen jemanden liebe oder bewundere, kommt meine Anerkennung von ganz allein.
Selbst wenn ein Mann im Gespräch sein Bestes gibt und etwas tiefer in seine Gefühlswelt vordringt, um tatsächlich etwas zu offenbaren, wählt er mitunter ausweichende Formulierungen oder fernab gelegene Gefühlsbereiche. Das frustriert Frauen ebenfalls und veranlasst sie zu entsprechenden Reaktionen. Manche Frauen wissen auch gar nicht, wie sie auf männliche Gefühlsäußerungen reagieren sollen, weil sie darin keine Übung haben und unreflektiert das patriarchale Muster fortsetzen. Sie geben dem Mann zu verstehen, seine Gefühlsduselei wäre unmännlich. Der Mann hat dann den Eindruck, eins draufzukriegen, wenn er sich doch mal offenbart.
Trost, Solidarität und Erleichterung findet man in solchen Gesprächen eher nicht – weder der weibliche Gesprächspartner noch der männliche. Der Vorwurf, dass intime Gespräche nichts bringen würden, liegt dann nahe. Aber damit beide Seiten einen persönlichen Gewinn daraus ziehen können, kommt es eben nicht nur darauf an, dass man miteinander spricht, sondern auch, worüber.
Ja, Männer missachten immer wieder die Gefühle von Frauen – aber wohl nicht mehr, als sie ihre eigenen missachten. Frauen jedoch können die Nuss nicht knacken. Denn wir werden in unseren Fähigkeiten und Tendenzen wohl in erster Linie als Nicht-Mann wahrgenommen, und weniger als Auch-Mensch, der nachahmenswürdige Verhaltensweisen in seinem Repertoire hat: “Natürlich kann sie Gefühle zeigen, sie ist ja auch eine Frau. Für mich als Mann ist das aber kein gültiger Maßstab.”
Männer können andere Männer knacken – Männer, die ihr vollständiges Innenleben wiedergefunden oder nie ganz verloren haben, können das. Männer, die darum wissen, dass vielen anderen Männern mit zunehmendem Alter ein wesentlicher Anteil ihres Seins fehlt. Männer, die den Weg des geringsten Widerstandes verlassen und den Wind nicht fürchten, der ihnen dann unvermeidlich entgegenpfeift. Männliche Therapeuten. Männliche Berater. Aber auch ganz normale Männer, die Zugang zu ihren Gefühlen haben und daher doch nicht unter “normal” fallen.
Sie sind es, die Vorbilder sein können. Sie können zeigen, dass männliche Solidarität sich nicht gegen Frauen richten muss, um hilfreich zu sein. Und sie können alle abgeschotteten Männer auf die Kräfte von außen hinweisen, die das Gefühlsleben von Männern beschränken und einengen. Und auf die Kräfte im Innen, die diese Aufgabe so gewissenhaft fortführen, als wäre es ihre eigene, geniale Erfindung.
Das sollten diese Männer tun – stattdessen segnen Männer wie Gungor all die blinden Flecken der männlichen Innenwelt einfach als typisch männlich ab, und Gefühlskontakt und Redenwollen als typisch weiblich. Solche Männer implizieren, dass sie die schwachen Gefühle “in den Griff bekommen haben” und nicht “so armselig ihren Emotionen ausgeliefert sind” wie Frauen. Sie liefern damit eine Voraussetzung dafür, weiterhin auf Frauen und ihre Redebereitschaft herabzuschauen, während sie weiterhin das Privileg genießen, trotzige Kindheitsstrategien der Marke “Ich bin eben so” anzuwenden, statt sich Alternativen ehrlich zu erarbeiten, mit denen alle gut umgehen können.
Ein Mann in der Öffentlichkeit, der diesen Status Quo weiter bestätigt, gutheißt und ihn als unveränderbar darstellt, verheizt damit eine Chance für alle Männer unter seinem Einfluss. Die Chance dieser Männer nämlich, sich selbst und ihrem Innersten wiederzubegegnen, ihr Erlebensspektrum wieder zu erweitern auf all das, was das Menschsein ausmacht. Schade um das schöne Potential!
In einer Gesellschaft, die in ihren Werten patriarchale Strukturen und Rollenbilder aufweist, haben Privilegien also ihren Preis. Und das hat nichts mit “verdienen” zu tun. Denn der nicht-privilegierte Teil einer Gesellschaft zahlt einen hohen Preis, ohne je dafür “belohnt” zu werden.
Wer ein Weichei ist, verliert massiv an Status. Das gilt zwar sowohl für Männer als auch für Frauen, aber Männer fallen von weiter oben eben weitaus tiefer. Ganz ehrlich, ich würde trotzdem nicht tauschen wollen.
Die gelernten Mechanismen schaffen blinde Flecken und Widerstand im Bewusstsein. Das System, in dem man großgeworden ist, kann gar nicht ohne weiteres in seinem vollen Umfang wahrgenommen werden. Wäre Feminismus so lächerlich, wie manche uns gerne glauben lassen würden, dann würde man ihn einfach ignorieren. Ja, er enthält natürlich die Aufforderung: Seht bitte mal her, was euer doofes Spiel um Macht und Kontrolle im Leben von uns Frauen anrichtet. Doch er liefert auch eine wichtige Außensicht auf die Männer im Patriarchat!
Etwas wird gerne übersehen: Wenn FeministInnen gegen patriarchale Maßstäbe und Ungerechtigkeit ankämpfen, dann geht es dabei auch um Männerrechte – um den Kampf gegen eine künstliche Männlichkeit, die massiv anstrengend ist und krank macht. Es geht um das Recht des Mannes auf ein erfülltes und vollständiges Leben, in dem ihm nicht ständig der Verlust seiner männlichen Identität droht. Feminismus richtet sich gegen ein hierarchisches Gesellschaftssystem, das letztlich alle Menschen verbiegt und unfrei macht.
Inwieweit nimmt jeder einzelne von uns daran teil, dieses System fortzusetzen? Womit können wir es formen? Wollen wir was verändern?
Jeglichem Widerstand auszuweichen führt jedenfalls offensichtlich nur in weitere Unfreiheit, für alle.
Ein volles Gefühlsspektrum zu haben versetzt uns in die Lage, uns selbst in unserem Dasein zu platzieren. Es lässt uns wissen, wo wir stehen, was gut für uns ist, von welchen Menschen wir uns fernhalten sollten, in welche Richtung es weitergehen soll – kurz: was wir wollen! Es lässt uns den Menschen näher sein, die wir lieben. Es lässt uns spüren, dass das Leben zu kurz ist, um vorgefertigten Idealen hinterherzuhecheln, die immer nur ein Stück von unserer Nase entfernt zu baumeln scheinen und letztlich niemanden richtig glücklich machen. Es lässt uns eine neue Mitte finden, von der aus wir das Leben in allen seinen Aspekten auskosten können, und zwar deutlich mehr als nur für ein paar seltene Augenblicke des Glücks. Es lässt uns mitfühlender sein. Menschlicher sein! Denn Gefühle sind menschliche Empfindungen – nicht weibliche.
Ich persönlich würde mich mit meinem Partner durch Jahrzehnte der Gefühlsabwehr graben – wenn er sie aufgeben wollte. Ich würde mich lieber gemeinsam mit ihm mit echten sensiblen seelischen Inhalten auseinandersetzen, auch wenn sie schwierig sind, als allein mit den scharfen Kanten, die aus seiner verhärteten Fassade jählings als unvermutete Empfindlichkeiten hervorschießen. Wenn ich die inneren Zusammenhänge, Gefühle und Vergangenheiten nicht kennen darf, denen sie entspringen, bleiben diese Empfindlichkeiten zusammenhanglos und unbegreiflich. Daraus allein kann man einen Menschen nicht kennenlernen, und echtes Verständnis kann so gar nicht entstehen.
Dazu muss aber der Mann auch sich selbst verstehen wollen. Ich würde mit-entdecken, mit-fühlen und heilen helfen – all das würde ich tun. Was ich aber nie wieder tun werde, ist mich hinzusetzen und brav auf gar nichts zu warten vor einem legitimiert-unveränderlichen Schild, auf dem steht: “Ich darf leider nicht hinein”.
A ship in harbor is safe, but that is not what ships are built for.
(Ein Schiff im Hafen liegt sicher, doch dafür werden Schiffe nicht gebaut.)
(John A. Shedd, 1859-1928)
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ENDE TEIL 2, FORTSETZUNG FOLGT.
genau das.
meine schwester bekam während ihrer ausbildung gesagt, „nur dem sprechenden menschen kann geholfen werden“. (lustigerweise war das ein handwerksbetrieb und alles kerle außer ihr. den grundsatz hatten die herren also sehr wohl verstanden.)