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Resonanz

Ergänzend zum vorigen Artikel möchte ich hier ein Thema und einen Podcast empfehlen.

Zur Resonanz kommt es, wenn wir uns auf Fremdes, Irritierendes einlassen, auf all das, was sich außerhalb unserer kontrollierenden Reichweite befindet. (Hartmut Rosa)

In unserer “Welt in Reichweite”, in der alles auf Knopfdruck funktionieren muss, geliefert werden muss, alles immer prompter verfügbar gemacht wird und sein muss, entwickeln wir auch einen dazupassenden, recht aggressiven Anspruch auf Sofort, Gezielt und Wie-Gewünscht – und damit auch auf Geplant. Verfügbarmachung, die sich auf alle Lebensbereiche erstreckt. Wir verplanen uns damit auch selbst.

Wir sind weniger offen für das und erleben immer weniger von dem, was uns doch die Welt um uns in der lebendigsten Art spüren lässt: die spontanen Geschenke des Lebens, die wir nicht bestellt haben – und die sich auch nicht bestellen lassen: Eine Begegnung in der Natur. Ein freundlicher Blick. Oder auch eine überraschende Eingebung. Das, was passieren muss, damit die erwähnte Resonanz entsteht. Eine Resonanz in unseren tiefsten inneren Schichten, nach der sich wohl viele sehen, die Konsum aber nicht erzeugen kann. Seelen-Nahrung!

Dafür braucht man nicht nur die nötige Aufmerksamkeit und Geduld, und ein etwas demütigeres Mindset als für die mittlerweile entstandene, erpichte Attitüde “sofortige Verfügbarkeit”. Sondern auch offene Zeit, die nicht bereits durch Vorausgeplantes, Vorbestelltes belegt ist. Die Bereitschaft, Zeit und Welt auf sich zukommen und wirken zu lassen – und sich darauf einzulassen. Manche brauchen mittlerweile sogar jemanden, der sie dorthin mitnimmt, weil sie selbst gar keinen Zugang mehr haben.

Mit unserer Verfügbarmachung der Welt geht uns also unsere eigene Verfügbarkeit (ha!) für diesen Zustand, das Geschehen dieser Resonanz flöten.

Die sehr anregenden und weitreichenden Überlegungen dazu hat Alexandra Tabor in diesem Podcast wunderbar ausgebreitet:
“In trockenen Büchern – Unverfügbarkeit” – anhand des Essays “Unverfügbarkeit” von Hartmut Rosa.

Alexandra Tabor sagt in diesem Podcast:

… dass sich durch die neuen Möglichkeiten des Verfügbarmachens unsere Haltung, unsere Beziehung zur Welt stark verändert hat. Es macht einen Unterschied, ob ich alles, was nicht in den Plan oder ins gesellschaftlich erwünschte Schema passt, sofort beseitigen will, oder ob ich versuche, auf etwas, das sich querstellt, zu hören und zu antworten.

Um nun diesen roten Faden mit meinem vorigen Artikel zu verknüpfen:
Die beschriebene Attitüde, die Veränderung des Selbst durch die Anziehungskraft der allzu konsum- und planungsfreudigen Gegenwart, zieht uns nach außerhalb von uns selbst, und sie suggeriert obendrein durch ihre Verfügbarkeit wohl auch den leichteren Zugang. Leichteren Zugang als zu uns selbst.
Dazu passt auch der selbst-entfremdende Impuls, Gefühle wegzuschieben und sich nichtmal mehr auf das, was in uns selbst vorgeht, spontan einlassen zu können/wollen, selbst wenn uns das so viel weiter bringen könnte als der nächste “Jetzt bestellen”-Button.

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Auch politisch inkorrekt

Es war bemerkenswert, wie viele unwillige, ablehnende Reaktionen es auf Social Media auf die schriftliche Entschuldigung des Herrn Dönmez für seine sexistische Beleidigung der Frau Chebli gab. Seine Entschuldigung wurde zerrissen, mit Kritik an allen Sätzen und Halbsätzen, nicht nur an einem.

Viele kritisierten ja ein “falls sich jemand verletzt gefühlt hat” – das da übrigens gar nicht stand. So ein “falls” hätte besagt, er hätte sich nur in diesem Fall entschuldigt und ansonsten gar nicht; und obendrein, er würde es tatsächlich für denkbar halten, dass sich gar niemand verletzt gefühlt hat.

Ob man verinnerlichten Sexismus mit einem Moment der Schwäche entschuldigen kann, sei dahingestellt – der Moment der Schwäche besteht wohl eher darin, das, was man ohnehin denkt, nicht für sich behalten zu können, was am Licht auf die Sache und Person nicht wahnsinnig viel verbessert.

Zu Recht in Zweifel gezogen wird eine Entschuldigung aber, wenn ein Nachdenken und eine Entschuldigung nur aufgrund der öffentlichen Reaktion auf das eigene Verhalten erfolgte, und nicht etwa aufgrund persönlicher Reflektion und Bewertung dieses eigenen Verhaltens.
Aber im Verhältnis dazu, wie selten sich heutzutage öffentlich für irgendwelche vorangegangenen, unerträglichen Wortmeldungen überhaupt noch entschuldigt wird, war sie ja gar nicht soo schlecht.

Nur unter ehrlichen und fairen Verhältnissen ergibt eine ehrlich gemeinte Entschuldigung überhaupt Sinn. Sie wird immer unredlich sein, wenn das Setting es auch ist. Im politischen Zusammenhang geht es ja letztlich ohnehin weniger um Vergebung als darum, eventuell doch noch den eigenen Arsch zu retten und seine Position nicht zu verlieren.

Im Falle Dönmez ist das nur so halb gelungen, und das lag letztlich wohl weniger an der missglückten Entschuldigung als an der transportierten Haltung. Vielleicht wurde auch das angestrebte Ziel erreicht – NR bleiben, nur nicht mehr in der Fraktion? Man weiß es nicht. Seine an den Haaren herbeigezogenen Umdeutungsversuche sprechen aber eher dagegen.

Vor sexistischen Ansagen wird nicht nachgedacht, das ist charakteristisch, eben weil es sich nicht nur um einen oberflächlichen Witz handelt, der halt grad passt. Es ist eine so tief verwurzelte Weltsicht, dass die Betroffenen sie wohl innerlich für die Wahrheit halten, mit der man heutzutage höchstens aus sozialverträglichen Gründen hinterm Berg halten muss – nicht, weil sie als grundlegend falsch empfunden werden könnte. “Es kommt nix raus, was nicht auch drin ist”, rufen da allerlei Großmütter. Daher wohl auch die Kritik am “Moment der Schwäche”. Sexismus ist keine Schwäche, sondern ein Ausdruck eines völlig unreflektierten Glaubens an die Überlegenheit der eigenen Gruppe, auch als Chauvinismus bekannt.

Echte Gleichstellung und ehrlicher Respekt vor Mitgliedern einer anderen Gruppe bedeutet, dass Vorurteile und Abwertungen gar nicht erst gehegt oder zumindest innerlich aufs Nachdrücklichste und immer wieder herausgefordert, objektiviert und korrigiert werden – und nicht, dass sie nur nicht geäußert werden.
Oder, einfacher formuliert: Ein Sexist bleibt ein Sexist, auch wenn er sich noch so schön entschuldigt. Nur dass eben mit einer ehrlichen Entschuldigung – in Absicht und Formulierung – hier eben gar nicht erst zu rechnen war.

Wäre es für Frauen tatsächlich so einfach, dauerhaft an gute Jobs zu kommen, die dann auch über Blowjobs hinausgehen, hätten sie nicht jahrhundertelang für gleichwertige Bildung für Frauen gekämpft.

Geht mann allerdings ganz selbstverständlich davon aus, nur sexuelle Dienste am anderen Geschlecht würden Frauen gute Jobs verschaffen, dann deutet das in erster Linie wohl darauf hin, dass diese Schlussfolgerung aus selbst angewandter “Praxis” entstanden sein dürfte. Es liegt also doch nicht am Peter-Prinzip, dass manche Stellen fehlbesetzt sind, sondern eventuell daran, dass Angestellte anhand von, sagen wir mal, eher jobfremden “Skills” ausgewählt werden?
Naja, jeder in seinem beruflichen Umfeld, was ihm am wichtigsten erscheint; hat ja nicht jeder den wirtschaftlichen Erfolg als sein oberstes Ziel. Das ist natürlich in erster Linie ein Armutszeugnis für den Absender. Solche Bewerbungsszenarien allen anderen (Männern) ebenfalls zu unterstellen, ist aber auch eine Beleidigung für alle (Männer), deren Aufgabe es ist, Stellen zu besetzen; nicht nur für die gemeinten Frauen.

Daher ist es fraglich, ob irgendeine auch noch so form(ulierungs)vollendete Entschuldigung hier tatsächlich Ruf oder auch nur Glaubwürdigkeit hätten wiederherstellen oder auch nur teilweise reparieren können. Aber dass sich nicht mehr Männer von dieser Unterstellung beleidigt gefühlt haben – das wiederum zeigt die scheinheiligen “Werte” in dieser Kultur. Sie merken gar nicht, dass sie gerade pauschal als Blowjob-Vergewaltiger bezeichnet wurden, oder es ist ihnen einfach egal.

Für mich waren die vielen negativen Reaktionen auf die Entschuldigung insofern erfreulich, als sie mein Empfinden bestätigten: Entschuldigungen, die gar keine sind, sollten auch nicht als solche getarnt werden.

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Handgemenge

Ich wurde gestern gefragt, warum die “linke” Twitter-Bubble hierzulande sich intern derzeit so zerrauft, warum darin so viel Aggression und Streit herrscht. Ich habe erklärt, was ich für den Grund halte, und wurde daraufhin eindringlich gebeten, das zu bloggen. Also blogge ich es.

Es geht dabei nicht nur um Social Media, sondern um eine Gesellschaft. Twitter-Bubble kann hier stellvertretend für alle kleinen und größeren Gruppen stehen, schätze ich. Familien, Freundeskreise, Arbeitsgruppen, Vereine, vielleicht sogar Parteien… Die Wege sind dann vielleicht andere, das Prinzip bleibt vermutlich gleich.

Mich mit dem, was zu fremd ist und mich zornig macht, weiter abzugeben, kostet mich auf Dauer zu viel Zeit, Kraft und Nerven. -> Schotten dicht.
Die erste Auftrennung in Richtig und Falsch ist damit schonmal geglückt – wir verschließen unsere Bubble-Grenzen: Alles, was extrem rechts ist und hetzt oder provoziert, Grenzen verletzt, entwürdigend beleidigt und unverhältnismäßig attackiert, wird geblockt. Legitim, denn meine Bubble suche ich mir immer noch selber aus, auf Social Media ebenso wie im echten (Privat-)Leben.

Oft wird davor noch “diskutiert” bzw “zurückgeschlagen” – mit harten Bandagen, weil jeder weiß, dass mit ExtremRechts nur schwer zu diskutieren ist: Affekte wie Sorge und Angst werden da dreist zu politischen Argumenten aufgebläht, Menschenverachtung und Übergriffigkeit als freie Meinung kostümiert und die Aggression daraus unreflektiert auf gruppierte Ziele entladen. Man gewöhnt sich schnell an, darauf – wenn überhaupt – nur sehr harten Konter zu geben.

Völlig dicht ist die Bubble ja nie. Die Attacken gehen weiter, wenn auch aus anderer Richtung. Die zornige, aggressive oder oft auch hilflose Energie aus den übrigen Interaktionen brodelt in uns weiter – und wird entsprechend kommentiert. Sie wird damit ständig in die Bubble importiert und schließlich auf deren Mitglieder projiziert. Ausagiert wird all das innerhalb der weitgehend abgeschotteten Bubble. Grenzüberschreitungen und Methoden* aus dem Umgang mit ExtremRechts werden dabei mitunter 1:1 für Zwiste innerhalb der Bubble übernommen. Und der angewöhnte harte Konter lässt einen womöglich in der nächsten Diskussion mit einem Bekannten vergessen, wen man vor sich hat.
*Etwa “Anprangerungen” wie Nonmentions und Screenshots statt Tweets mit Link, auf die der Gemeinte auch reagieren könnte.

Kurz gesagt, “friendly fire” wird allzu unbedacht eröffnet, und Zack! Alles zersplittert. Und wie soll eine zersplitterte Gesellschaftsgruppe gemeinsamen Widerstand leisten?

Die linken Fraktionen fahren oft kein vehementes Programm, eines mit eigener Sprache und eigenen Werten, das sich Raum verschaffen würde, sondern liefern nur Kritik oder gar segmentweise Anbiederung an rechte Standpunkte – sie, die es doch besser wissen müssten und sowas beherrschen sollten! Daran stören wir uns!

Und wir schaffens im Kleinen genausowenig. Warum? Weil wir tagtäglich fremdes Gift von Außerhalb mit “nach Hause” bringen, einerseits die fremdinitiierte Aggression, andererseits die fremden Denkmuster, an denen wir unsere Kritik festmachen – und mit der wir diese Denkmuster weiter verstärken!

Denn auch die toxischen, fremden Inhalte werden in die Bubble importiert – in Form von Zitaten, “Einzelfällen”, “Entgleisungen”, Artikeln, Schlagzeilen und deren Interpretationen.
Wie im letzten Blog-Eintrag ausgeführt, beeinflusst das ständige Wiederholen von vorgefertigten Deutungsrahmen/Frames* sowohl die Ausprägungen unserer neuronalen Netze als auch in weiterer Folge unsere schiere Wahrnehmung der Wirklichkeit! Wir nehmen buchstäblich die Wirklichkeit gefiltert wahr, gefiltert nach Rahmen und etablierten Denkmustern. Welche sich etablieren, bestimmt die Wiederholung. Welche Filter wirken dürfen, bestimmt nicht das logische Nachdenken!

Jeder kennt die beinah sprichwörtliche Aufforderung, jetzt nicht an einen rosa Elefanten zu denken, und weiß, wie wenig sie funktioniert. Auch Frames werden auf diese Weise im Hirn aktiviert – durch ihre schlichte Erwähnung. Da hilft kein “nicht” und kein “kein” davor, eine Negierung – wie stark sie auch immer sein mag – ist nicht in der Lage, die Aktivierung eines Frames zu verhindern. Daraus folgt: Selbst wenn wir eine Aussage empört wiederholen, verstärken wir damit die erleichterte Aufnahme der kritisierten Kacke in die Gehirne aller! Durch unsere Wiederholung und damit Aktivierung des abgelehnten Denkmusters in unserem eigenen Gehirn und in dem der Leser findet das Muster ganz von selber seinen Weg in die Normalität.
* Willkürliche Zusammenhänge, sprachliche Umdeutungen, Herabwürdigungen, absichtlich auf weitverbreitete Assoziationsketten abzielende Begriffe, insgesamt: Denkmuster.

Und nein, dagegen ist niemand immun. Du nicht. Und ich auch nicht. Auch politische Experten nicht.
Es ist uns auch ein bisschen peinlich, dass man (mithilfe von simplem “Priming” zB) mit unseren Hirnen einfach so Sachen machen kann, ohne dass wir es wollen. Diese Mechanismen zu ignorieren und uns selbst eine freie Wahl der Denkmuster zu bescheinigen, ist weitaus leichter, als diesen Mechanismen ins Gesicht zu sehen. Das ist menschlich! Aber es muss uns zu allererst bewusst werden, dass jeder Pfad, der in unseren Gehirnen ausgeleuchtet und weiter ausgetreten wird – i.e.: unser Denken – extrem von außen beeinflusst ist, mit jedem Wort und jedem Satz, den wir hören und lesen. Und damit auch jeder Satz, den wir daraufhin ausspucken. Wenn wir das nicht (an)erkennen und unser Sprach- und Schreibverhalten danach drastisch verändern, fungieren wir als Multiplikatoren der anderen Seite, statt uns eindeutig zu positionieren. Und wir merken es noch nichtmal.
(Bitte lest dazu (nochmal) die ersten paar Kapitel von “Politisches Framing”! Bitte!)

Zur lösungsorientierten Überlegung trägt ein Gedanke wesentlich bei: Man erhält Antwort auf das, was man fragt. Im Vergleich zur Frage “Warum?” erhält man die besseren Antworten auf die Frage: “Was?”
Was kann da helfen? Was kann ich selber tun? Was können wir dann gemeinsam tun?

Ich werfe mal ein bisschen was in die Runde: Erstmal Bewusstmachung!
Reflexion – Hinterfragen des eigenen Empfindens und Handelns. Selbstkritik. Affektkontrolle.
Wo kommt das her? Welchem Denkmuster entspringt es? Ist es eines, das ich transportieren und verstärken will? Wie verleihe ich mir am besten Ausdruck? Und wie nicht?
Zeitlicher Idealpunkt dafür: Vor der Interaktion mit anderen. Vor dem Abschicken eines Tweets, einer Reply, eines Mails.
Input-Management: Wie viel meiner Zeit und Aufmerksamkeit widme ich fremden Denkmustern, die ich mir freiwillig oder unfreiwillig täglich reinziehe? Wo liegen meine Grenzen? Was funktioniert am besten als Ausgleich?

Und auch: Wieder öfter das verstärken, was Aufmerksamkeit verdient hat.
Es ist ein alter Hut: Es gibt keine “schlechte Publicity” – es gibt nur Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit oder eben keine Aufmerksamkeit. Freilich kann man nicht alles, was einem nicht passt, totschweigen. Aber auch nicht alles davon muss hervorgezerrt und kommentiert werden. Nicht, während wir immer noch zu wenig von dem dagegenstellen, was für uns tatsächlich von Wert ist.

Es liegt nicht daran, dass wir keine gute Streitkultur hätten. Es liegt daran, dass wir dem Wind, der uns zerzaust, ungeschützt ausgesetzt sind, ohne dass es uns überhaupt bewusst wird, und dass wir dagegen noch keine guten Strategien haben. Also tun wir weiter so, als wären wir unzerzausbar, während wir schon aussehen wie ein Mopp, mit dem man auch gut in die Ecken kommt. :)

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Ich kann dazu gern noch weiter differenzieren und ins Detail gehen. Denn auch wenn es so wirken mag – ich meine es nicht schwarz-weiß. Es wird aber vielleicht schwarz-weiß interpretiert, weil alles derzeit gern schwarz-weiß interpretiert wird.

Allerdings war ich gestern in diesem Gespräch, das sich noch am Parkplatz fortsetzte, schon erstaunt von dem Statement: “Ich hab das so noch nirgends gelesen! Das müssten alle hören, schreib das!”. Sogar eine anonyme Zuhörerin hat sich aus dem Dickicht immer näher an das Gespräch herangepirscht und uns schließlich nach dem konkreten Anlass und mich nach dem Blog-Link gefragt.

Meine Einträge neigen bekanntlich aber ohnehin zu überbordender Länge. :) Also schick ich’s einfach mal so raus und schaue, ob das vorhergesagte Interesse tatsächlich eintritt – und auf welche Komponente(n) es sich richtet. Bitte sehr gern in die Kommentare damit! Auch Twitter-Kommentar, Twitter-DM oder E-Mail (etosha ÄT weblog.co.at) geht natürlich. Merci! <3

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Der narzisstische Staat

In einer globalisierten Welt die Probleme, die alle Menschen betreffen, auch gemeinsam lösen – ja, das wärs. Das würde aber voraussetzen, dass das Entstehen eines vollen Bewusstseins über ein gemeinsames Problem überhaupt offiziell gestattet wird. Das ist nur so halb der Fall. Machenschaften sind ja auch nur so lange rentabel, wie es höchstens halb-offensichtlich bleibt, auf wessen Kosten hier gewirtschaftet wird.

Da ist es für den mülltrennensollenden Durchschnittswestler naheliegend, bei globalen Zusammenhängen von sich wegzuzeigen: “Das ist doch alles nicht auf meinem Mist gewachsen, bei irgendeiner Kolonialisierung war ich persönlich doch gar nicht dabei, und dass unser Lebensstil hier auf Kosten irgendwelcher Dritteweltländer geht, wusste ich ja nichtmal richtig. Ich hätte das auch nicht so entschieden, aber mich hat ja niemand gefragt.”
In einer benachbarten neuronalen Region ist vielleicht fehl-verankert, dass wir Anspruch auf unsere Demokratie hätten und andere Bestrebungen gar nicht möglich wären. Schemenhaft ist bewusst, dass unser Wohlstand einen Preis hatte, den wir nicht nur ganz allein berappt haben. Bei wem konkret man in der Schuld stünde, bleibt aber angenehm unklar.

Den (paar) Damen und Herren in Machtpositionen sind die globalen Zusammenhänge wohl weitaus konkreter präsent. Diese dürfen aber nicht vollständig an die globale Bewusstseinsoberfläche dringen, am besten nichtmal an die des einzelnen Machthabers. Sonst würden sofort toxische Mengen an Schuldgefühlen wirksam. Und wer wollte da schon hinschauen? Mitverdeckt bleibt dann bequemerweise auch, wie profitabel diese Zusammenhänge für den einzelnen jeweils tatsächlich waren und sind.

Erzwungenes Wegschauen, daraus entstehen umgedeutete und verdrehte Tatsachen, dass einem sehr täglich sehr blümerant wird. Auf Neudeutsch heißt das dann “Reframing” – das mehr oder weniger elegante unterm-Arsch-Wegziehen des kontextuellen Bezugsrahmens. Zur Vertuschung wahrer Absichten und Verwirrung des Gegenübers. Ein krankhaftes Symptom, für den politischen Alltag legitimiert von sogenannten Strategen. Wir erleben das regelmäßig in der Tagespolitik. Wann war da zuletzt irgendwer für irgendwas voll verantwortlich? Wann hat jemals jemand einen Fehler einfach zugegeben und sich ehrlich entschuldigt? Paradoxe Szenarien, in denen uns kontinentale Vernetzungen aufgetischt werden von Leuten, die jede echte Vernetzungsidee grundlegend ablehnen. Und die glauben, Solidarität wäre, wenn es gemeinsam gegen einen Schwächeren geht.
Einzelfälle ohne Aussagekraft, Einzelschicksale ohne gewollte Grausamkeit.

Der Knoten im Magen lässt sich da vor der nächsten Verdrehung gar nicht mehr richtig auflösen. In einer zwischenmenschlichen Beziehung würde jeder feinfühlige Mensch solche Strategien ablehnen, beim Namen nennen und sich zurückziehen, bevor er unter einem Mangel an Kompromissen auf der Strecke zu bleiben droht.

Für Machtpositionen hingegen braucht es einzelne Personen, die an ihre eigene Grandiosität glauben und ohnehin hobbymäßig Allmachtsphantasien spinnen. Die sich für exquisit und überlegen halten und das anhaltend von außen bestätigt bekommen müssen. Zu viele Fehlzündungen in der autonomen Selbstwertregulierung. Für das Bestehen und Gewinnen eines Wahlkampfes sind das ideale Voraussetzungen!

Wenn dann noch ein paar weitere narzisstische Persönlichkeitsmerkmale mitspielen in der nationalen oder globalen Beziehung, wird daraus eine, in der:

  • Partner abgewertet werden.
  • Brauchbare Strategie zur weiteren Selbstwerterhöhung. Zynismus und verbale Aggression sind an der Tagesordnung, eigens dafür erfundene Schlag-Worte werden einprägsam von allen wiederholt – ob empört oder fasziniert ist egal, Hauptsache wiederholt. Privilegierte Gruppen werden weiter erhöht, unterprivilegierte dorthin zurückgedrängt, wo sie seit jeher hingehören, an den Herd, in die Versenkung, ins Ausland. Zurückrudern in die Vergangenheit.

  • Anspruchsdenken herrscht.
  • Aus einem Lebensstil, der zur lieben Gewohnheit geworden ist, leiten wir einen künftigen Anspruch ab und verteidigen ihn, als hätten wir ihn uns eigenverantwortlich verdient, während wir gleichzeitig denken, was interessiert mich, woher die Möglichkeit dazu einst gekommen ist? (Wir bemerken, die Eigenverantwortung hat da nur ganz kurz vorbeigeschaut, so lange, wie es nötig war, den Anspruch zu berechtigen.)
    Ein Mädchen, das in der dritten Welt einen Kanister Wasser sehr weit und lange trägt, hat auch den ganzen Tag schwer gearbeitet, aber damit doch noch lange keinen Wohlstand verdient! Ich bin 40 Jahre ins Büro gegangen, he. Wir haben richtig gewirtschaftet, wir haben was aufgebaut, wir haben Gewinne und ein Pensionssystem. Der soziale Futternapf gehört daher unseren Leuten, wir wollen doch nicht deren Probleme importieren, bittschön.
    Anspruchsdenken dient der Gewissensberuhigung bei der Benachteiligung anderer.

  • Mitgefühl fehlt.
  • Was ich selbst nicht am eigenen Leib erfahren habe, ist mir auch nicht zugänglich, sorry. Und da mir meine eigenen Empfindungen generell nicht sehr nahe sind, ist das mit dem Mitgefühl so eine Sache. Wenn ihr euch die Miete nicht leisten könnt, kauft euch ein Haus. Wenn ihr bei 12 Stunden Arbeitszeit keinen Kinderbetreuungsplatz kriegt, nehmt den Privatkindergarten. Wenn ihr nicht enteignet und abgeschoben werden wollt, wenn ihr nicht ersaufen wollt – dann bleibt halt daheim! Wo ist das Problem? Sollen sie doch Kuchen essen!

  • Ausbeutung und Missbrauch an der Tagesordnung sind.
  • Anspruchsdenken und Mitleidlosigkeit führen direkt hierher. Wer für sich mehr fordert, als ihm zusteht, tut das immer auf Kosten anderer. Umso mehr, als er an seiner Macht weiterhin mit aller menschlichen Nötigkeit hängen muss. Macht ist geil, Mitgefühl beurlaubt, da könnte ich doch ein paar Menschen abschieben, die grad nicht damit rechnen, so als kleines Geburtstagsgeschenk an mich selbst. Alles Gute!
    Reaktionsheischendes Verhalten, das darauf abzielt, im Empfänger Emotion auszulösen, egal ob positiv oder negativ, die den Mangel an eigener Empfindung irgendwie kompensieren soll. Diese Reaktion dann den Reagierenden wahlweise als “zu empfindlich” vorwerfen, “zu weltfremd” oder “zu mitgefühlsbetont”, der “Gutmensch” als Schimpfwort, Menschlichkeit zur Psychose degradiert, als würden barmherzige Empfindungen und Denkvermögen einander von vornherein ausschließen. Und als würde deren nach Aufmerksamkeit lechzendes Verhalten jede einzelne Überschreitung aller Grenzen von Anstand, Redlichkeit und Gewaltfreiheit rechtfertigen. Sich aber gleichzeitig auf irgendwelche “Werte” berufen. Sich am Ende als das Opfer von Hetze wähnen, wenn nicht sogar alle Nonnen im Land diese Überschreitung schweigend hinnehmen.
    Wie doppelzüngig. Und da soll’s einem als anständigen Menschen nicht die Sicherungen durchhauen?

  • Verantwortung abgelehnt wird.
  • Das ergibt sich geradezu zwangsläufig aus allem anderen, sonst würde diese Strategie gar nicht funktionieren. Ein Dauer-Engagement in der geliebten Opferrolle, bis zur ersehnten, hochdotierten Pensionierung hinter einer sehr undurchsichtigen Gartenhecke.

    Es entsteht eine Beziehung, in der eine Seite peinlichst darauf bedacht ist, unangreifbar zu bleiben, gut dazustehen, die Verantwortung nicht übernehmen zu müssen, während sie selbst den größten persönlichen Nutzen daraus zieht – in der Personen-Politik genau wie in der nationalen und der internationalen, im kleinen wie im großen Kontext. Die anderen sind schuld! Abgrenzen. Die und wir. Wegschauen, negieren, auf vermeintlich naturgegebene Ansprüche pochen und alle Impulse unterdrücken, die sich gegen all das wehren, innen und außen. Durchziehen und durchgreifen, arrogante, unerbittliche Kaltblütigkeit hinter Scheuklappen. Dann demonstrieren da halt ein paar, na und? Man kann’s nicht jedem rechtmachen, gell, haha, Prost!

    Vorbildfunktion dürfte das theoretisch nicht haben, praktisch werden manche Anschauungen sogar unbesehen übernommen, schließlich scheinen sie zu Erfolg und Macht zu führen. Wer das ausbadet, sehen wir noch nicht. Empathischere Bürger leiden unter dem mitleidlosen Egoismus, wissen sich aber auch nicht zu helfen, funktioniert doch ihr von Rücksicht geprägter way of life auch nur in sehr engen Kreisen. Doch selbst wenn sie jeglichen kapitalistischen Lebensstil hingeben wollten für mehr Mitgefühl, bliebe solch Einzel-Aktionismus im globalnarzisstisch geführten Diskurs völlig ungesehen. Entscheidender ist doch, dass auch die Empathen bald irgendwie das Gefühl kriegen, es sei ja auch zu ihrem Besten. Man kämpfe ja auch und gerade für jene, die sich weniger wehren können, für unser aller Sicherheit, für “unsere” “Werte”!

    Und auf der anderen Mittelmeerseite der globalen Ungleichung, welches Gefühl entsteht da? “Die ganzen Jahre war ich dir als “Freund” gut genug, aber dann, als es mir scheiße ging, hast du mich nicht reingelassen!” Ist das die Beziehung, die wir weiterführen wollen? Welche Ressentiments, welcher Backfire wird uns daraus in Zukunft noch entgegenschlagen? Hat sich das jemand überlegt? Wichtig scheint vielmehr zu sein, was uns im Moment noch zum Vorteil gereicht. Auf den egoistischen Positionen so lange zu verharren, wie es irgend geht. Die Strategie strapazieren bis zu einem Zerreißpunkt, an dem dann alles den Bach runtergehen muss.
    Vorbeugen, vorausdenken, umsichtig taktieren, nachgeben – Fehlanzeige. Me, me, me – now, now, now.

    In der narzisstischen Scheinwelt wird eine geraubte Kindheit nachgeholt, frei von Schuld und Verantwortung. Da fehlen ein paar wesentliche Upgrades auf Erwachsener 1.0. Den Blick abgewendet von der eigenen Verletzlichkeit, an eine Rettung in der Zukunft glaubend, in der die Unbesiegbarkeit, ja, die Unsterblichkeit doch noch für uns alle wahr wird! Bis dahin führt der Weg über eingeschränkte Reflexion und fehlendes Mitgefühl zu panischer Angst vor dem Beweis des Gegenteils, vor einem “Aufgeblatteltwerden” und somit Einsturz des fragilen Trugbilds. Da hilft nur wegschauen, wegschauen, wegschauen. Das jeweilige Gegenüber in eine erfundene Wirklichkeit hüllen. Und ihm jedes bisschen Macht möglichst abknöpfen. Je weniger Macht du hast, umso weniger kannst du an meinem wackligen Gebilde rütteln.

    Doch kein Staat kann es sich wohl leisten, Verletzlichkeit dauerhaft und offen zu präsentieren. Und damit findet das Töpfchen sein Deckelchen. Staatsmänner und -innen beherrschen die Strategie der Wahl bereits. Toxische Menschlichkeit als globale, kurzsichtige Abwertungs-, Ausbeutungs-, Egoismus- und Kriegsseuche im Spiel um die finanziellen Vorteile auf der Welt. Die alles mit sich reißt. Für ein paar persönliche, punktuelle Jahrzehnte schamlosen Wohlstands. Des hamma uns verdient.

    Viel zu viele unreife Menschen in Machtpositionen gebären nationale Positionen. Im globalen Zusammenhang ist das fatal für alle. Nicht schuldig, nicht beschämt, nicht verantwortlich. Das ist unsere infantile globale Position.

    Wir sind nicht unverletzbar, nicht als einzelne Menschen, nicht als Familie, Dorf, Staat, Staatengemeinschaft. Wir können auch mit noch so viel Macht diese Verletzbarkeit nicht wegzaubern.
    Wir können sie nur akzeptieren und uns danach verhalten. Demut, Mitgefühl und Fairness würden auf solchem Boden vielleicht auf natürlichem Wege gedeihen. Dann ensteht Verantwortungsgefühl für unsere Geschichte, die Gegenwart und die Zukunft.

    Es ist wie in einer guten Beziehung: Wir lösen Probleme dann gemeinsam, wenn wir sie als gemeinsame Probleme begreifen und uns fragen, aus welchen Kompromissen eine mögliche Lösung bestehen kann. Wer von seiner Position keinen Millimeter abrücken will, auf eigene Unschuld beharrt oder darüber streitet, wer schuld ist oder wer angefangen hat, bleibt im Problem gefangen und wird mit ihm untergehen.

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    Sehet auch die Kolumne von Sybille Berg im Spiegel Online, Das sinkende Schiff.

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    Überwachung und Befürchtung

    privacy Man möchte offenbar den Massen gerne und leichtverständlich eine völlig willkürliche Verknüpfung in den Kopf setzen: zwischen Menschen, die sich mit Überwachung unwohl fühlen, und allerlei zwielichtigem Gsindl¹, das sich nicht anständig, i.e. gesetzeskonform, benehmen kann.

    Diese Art von Weismachung geschieht gern auch seitens der Presse. Das sieht dann so aus:

    Wirkt unfair – ist es auch.
    (Die Schlagzeile “Das Lieblingsbuch…” gibts in der Onlineversion des Artikels der WELT am Sonntag übrigens offenbar nicht.)

    Genau wie dieser Satz, der mir heute wieder unterkam: “Wer nichts zu verbergen hat, der hat auch nichts zu befürchten.”
    Mit dieser scheinbar logischen Herleitung blanken Unsinns versucht man seit Jahren, ÜberwachungskritikerInnen zum Schweigen zu bringen. Allein: Der Satz ist gequirlte Kacke.

    Er tut nur so, als würde er irgendeine Art von absoluter Wahrheit kundtun. In Wirklichkeit versucht er, sich selbst und sein Anliegen auf zweifelhafte Weise zu legitimieren:
    Zunächst unterstellt er, wir hätten gar kein Recht auf diese Art von Privatsphäre, und lenkt damit einigermaßen erfolgreich von der fragwürdigen Gesetzeskonformität staatlicher Überwachung ab.
    Dann lässt er anklingen, wer durch Überwachung irgendetwas (völlig Irrationales) befürchte, müsse ohnehin etwas zu verbergen haben, eventuell gar in kriminelle Handlungen verwickelt sein. Und damit wiederum wirft er ÜberwachungskritikerInnen² mit übrigen Verdächtigen in einen Topf. Was doch wiederum eine engere staatliche Überwachung umso nötiger macht – da sind wir uns doch alle einig – oder?

    Der Umkehrschluss des Satzes lautet: “Wer etwas zu verbergen hat, der hat etwas zu befürchten.”
    Wir alle haben jedoch durchaus etwas zu verbergen, das niemanden etwas angeht – und das dennoch nicht gegen das Gesetz ist: Wo wir hingehen, mit wem wir am Telefon reden oder uns treffen, was wir mit diesen Menschen besprechen, was wir kaufen/downloaden/ansehen/anhören, wem wir was mailen und wohin wir online surfen, wen wir lieben.
    ES. GEHT. NIEMANDEN. WAS. AN.
    Doch dieser Fall von Graustufe ist in der schwarzweißen Polemik dieses Satzes schon nicht mehr vorgesehen. Die Graustufe fällt schon unter verdächtig, und dafür werden Sanktionen angedroht.

    Man ist also entweder unbescholten, ergo muss einem doch jegliche Durchleuchtung uneingeschränkt recht sein – spätestens, wenn das Deckmäntelchen der Sicherheit darübergebreitet wird! Wer könnte da noch dagegen sein? So jemand macht sich doch verdächtig und ist letztlich mutmaßlich kriminell, und das ist auch schon der Beweis: seine Überwachung ist damit angemessen. Das erinnert mich in puncto Fairness ein wenig an die Hexen-“Gutachten” im Mittelalter: Werft sie ins Wasser! Ertrinkt sie, war sie keine. Ein Glück für sie, denn ertrinkt sie nicht, ist uns das Beweis genug – sie wird verbrannt.

    Ich möcht auch mal “Polemischer Umkehrschluss” spielen: Hat denn der Staat in Bezug auf seine Überwachungsambitionen nichts zu verbergen? Dann hat er ja von Überwachungsgegnern auch nichts zu befürchten! \o/ Da ist die Freude doch sicher groß! Ansonsten muss der Staat sich damit abfinden, dass ihm bei seinem Vordringen in unser Privatleben weiterhin ganz genau auf die Finger geschaut werden wird – und daran ist absolut nichts Verwerfliches oder Verdächtiges. Auch dann nicht, wenn Terror noch so schön jegliche Form von Privatsphärenverletzung zu rechtfertigen scheint.

    Ich muss das aber gar nicht weiter selbst ausführen, lieber möchte ich nochmal einen Heise-Artikel von Michael Lohmann verlinken. Wiewohl sehr lang für heutige Aufmerksamkeitsspannenverhältnisse und schon aus dem Jahr 2006, hat er nichts von seiner Strahlkraft eingebüßt. Wie schön, dass er immer noch online ist! Er zerrupft die obige Polemik so umfassend in ihre Bestandteile, dass am Ende nur ein WTF übrigbleibt.

    Aus dem verlinkten Artikel zitiert:

    Hat der Bürger ein Geheimnis, hat er ein Risiko, hat er kein Geheimnis, gibt es keine Gefahr. Hinweise auf mögliche Gefahren aufgrund staatlichen Verhaltens bekommen wir dagegen nicht. […] Problemfelder wie Machtmissbrauch sind in dieser Aussage ausgeblendet. Auch ist die Frage nach Rechtsgrundlagen und Kriterien des staatlichen Machteinsatzes kein Thema. Thema ist allein das Wohlverhalten des Bürgers. Der Bürger erscheint hier als Untertan des Staates. Wer die Kontrolleure kontrolliert, ist in der benannten Aussage irrelevant.

    Steigerungslogik: Der Verdacht erfordert Überwachung. Die Überwachung gebiert den Folgeverdacht, dass sich die Überwachten der Überwachung entziehen.

    Mit dem Satz „Wer nichts zu verbergen hat…“ wird die Beweislast umgekehrt. […] Der Verteidiger der Bürgerrechte muss beweisen, dass er zu Recht verteidigt, was doch eigentlich Status Quo und verfassungsmäßig verbrieft ist.

    Weil die Kontrolle unabdingbar und deren Verhinderung als Ausbremsen des Staates bei der Erfüllung seiner Aufgaben angesehen werden, wird der Widerstand gegen die Aushebelung der Bürgerrechte selbst unter Verdacht gestellt.

    Deshalb ist es eigentlich sinnvoll, jeden Protest vorsorglich unter Verdacht zu stellen. Ob diese Befürchtung dann berechtigt war, erweist allein der kontrollierende Zugriff des Staates.

    Der rhetorische Kniff besteht […] in der zwischen den Zeilen formulierten Drohung, dass der Protestierer als verdächtig angesehen werden könnte.

    ¹ Gsindl: (von “Gesinde”): im übertragenen Sinn auf Ösitanisch Missetäter, Kleinkriminelle.
    ² “ÜberwachungskritikerInnen” klingt so nach lauten, politischen AktivistInnen. Tatsächlich fallen unter diesen Begriff, der sodann mit Kriminellen in einen Topf geworfen wird, wohl aber auch gefühlt eher “unpolitische” Menschen, die sich angesichts neuer Überwachungstendenzen vielleicht nur etwas irritiert fragen: “Gab’s da nicht mal sowas wie ein Gesetz oder so, das dem Bürger irgendsoeine Art von Privatleben zusichert? Bin grad nicht sicher, müsst man mal googeln.”

    weltamsonntag-ueberwachung-20170827 Anhang: Screenshot der Schlagzeile für den Fall von Tweetschwund

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    Weltgeschehen und Regenbögen

    Bei der Fußball-EM in Frankreich schlagen sogenannte Fans einander die Zähne ein. In Wien demonstrieren die Rechten, die Linken stellen sich dagegen, die Polizei pfeffersprayt drauflos, und dann behauptet jeder, die anderen hätten angefangen. Eine britische Abgeordnete wird auf offener Straße ermordet. Journalistinnen und andere Frauen, die im Netz offen ihre Meinung kundtun, müssen sich gemeinsam wehren gegen die tägliche Flut an Hass, Gewaltdrohungen und Vergewaltigungswünschen. In Orlando schießt ein Mann auf die Besucher einer Schwulenbar, 49 Menschen sterben, 53 werden verletzt. Vieles davon ist offensichtlich politisch motiviert, dass es schon peinlich ist, wie störrisch die Vorfälle von offizieller Seite als “psychisches Problem eines Einzelnen” dargestellt werden. Oder Betroffenen geraten wird, dieses oder jenes Phänomen “einfach zu ignorieren”.

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    Versteh ich dich richtig?

    Ich lese mir jede Twitter-Reply, die ich schreibe, vor dem Senden jetzt eh schon sieben Mal durch. Ich versuche, sie mit den Augen des Empfängers zu lesen und stelle dann oft fest, oh, das könnte man eigentlich auch genau gegenteilig verstehen. Dann formulier ich die Reply oft mehr als einmal um. Missverständnisse entstehen trotzdem.

    Das sagte ein Twitter-Freund unlängst zu mir. Am Telefon, damit ich ihn nicht missverstehe.

    Dazu kam der Vortrag der Frau Brodnig beim NetzPAT, den man jetzt auch nachlesen kann – ich empfehle das, es war sehr interessant.
    Am Ende ihres Vortrages fragte sie, was man tun könnte, um das Diskussionsniveau im Netz zu heben. Meine persönlicher Beitrag zu einer Antwort steht am Ende dieses Artikels.

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    Die Sau im Dorf lassen

    Irgendwo im topaktuellen Internetgesetz steht geschrieben, dass du zu allem eine Meinung haben musst, und zwar sofocht – sonst kannst du diese ja nicht ebenso schnell der Öffentlichkeit kundtun. Manche Säue sind ja so schnell vorbeigetrieben, dass sich womöglich schon morgen oder in zwei Stunden keiner mehr für deine möglichst geschliffen formulierte Empörung interessiert!

    Dass man jedoch zur Meinungsbildung über Informationen verfügen sollte, die in ihrer Ausführlichkeit über den Informationsgehalt eines Tweets deutlich hinausgehen, wird in der Hektik gerne übersehen. Heute sind zwar alle Informationen nur einen Klick entfernt, aber wohin klickt man bloß, und man hat ja  auch gar keine Zeit!

    Ich persönlich leiste mir den Luxus, zu vielen Dingen keine Meinung zu haben.  Ich verstehe aber den Ärger und die Sorge des Herrn jawl, und ich spüre das auch. Die Konsequenzen, die so ein vorschnelles Urteilen für die involvierten Menschen haben kann, sind furchterregend und können ganze Leben zerstören. Das sollte man bedenken, bevor man sein Urteil online verkündet. 

    Im Zweifelsfall kann man auch vorher flugs einen prüfenden Blick vor die eigene Tür werfen, ob da nicht dringender Kehrbedarf besteht. Fegen entspannt, und man kann sich dabei geistig mit den Dingen befassen, von denen man sich sonst durch das Tagesgeschehen nur allzu bereitwillig ablenken lässt.

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    Aufs Stichwort! Projekt *.txt

    PICT8890 Der Dominik Leitner aus St.Pölten von Neonwilderness.net, der da auch als @dmnkltnr twittert, hatte da eine Idee: Gemeinsames Bloggen auf Zuruf eines Stichwortes.

    Sein Projekt heißt *.txt – für alle Nicht-Nerds: Das steht für eine Textdatei (.txt) mit einem Platzhalter für den Dateinamen (*) – so eine Kombination benutzt man für die Suche nach allen Textdateien auf einer Festplatte. Im übertragenen Sinn könnte es aber auch für die noch unbekannte, weil unbenannte Spielart einer schriftlichen Schöpfung stehen.

    Zum Ablauf des Projektes schreibt Dominink:

    Alle drei Wochen wird ein Wort “gezogen” und alle teilnehmenden Autorinnen und Autoren nutzen dann die 21 Tage, um einen Text zu veröffentlichen. Ob nun eine Geschichte, einen Brief, ein Gedicht, ein paar Zeilen. Zumindest irgendetwas. […]

    *.txt wird auf dieser Seite betreut (eine Übersichtsseite, alle drei Wochen ein Beitrag über die “Ziehung”), die Beiträge erscheinen dann aber auf deinem eigenen Blog, hier werden sie nur gesammelt und verlinkt.

    Tolle Idee, dachte ich, und fand vor allem den Dreiwochen-Rhythmus sehr gut gewählt – das schlägt nämlich meiner offenbar hormonell bedingten Wortfindungsstörung ein Schnippchen, chr chr – und schrieb ihm sogleich einen Kommentar zur Projektanmeldung, der dort prompt nicht erschien und stattdessen in den Tiefen des www einen unerhörten Abgang machte.

    Heute aber bemerkte ich dies und schaffte es doch noch, mich zu diesem Projekt anzumelden. Im Jahr 2015 wird hier also alle drei Wochen ein Text zu *.txt erscheinen. Das Projekt hat von mir hiermit eine eigene Kategorie bekommen, über einen Klick darauf wird man alle meine Beiträge dazu aufrufen können.

    Links zu den Beiträgen der anderen teilnehmenden Autoren findet man dann bei Neonwilderness.net.

    Ich bedanke mich schonmal bei Dominik für die freundliche Akzeptanz meiner Anmeldung, und natürlich auch dafür, dass du dir die viele Arbeit aufhalsen willst, die sicher damit verbunden sein wird. Und vielen Dank an Herrn Kofler, der mich mit seinem Retweet auf das Projekt aufmerksam gemacht hat. Ich freu mich drauf!