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Propaganda und Scham

… und alles drumherum. Wie extremistische Propaganda über Demütigungserzählungen die unbewältigte Scham in Menschen anspricht und instrumentalisiert. Was Scham mit uns macht. Und was wir dagegen tun können.

Ich möchte hier zwei Themen miteinander verknüpfen. Über eines davon wird öfter geschrieben und gesprochen, über das andere nicht. Es geht um einen der Mechanismen in extremistischer Propaganda – und um Scham.
Dazu spanne ich allerdings einen sehr weiten Bogen. Das ist der Komplexität geschuldet, mit der Scham die Welt überzieht.
Manche weiteren Themenbezüge reiße ich daher nur an, ohne sie weiter auszuführen. Einige optionale Zusatztexte habe ich in die blauen Kästchen gepackt (zum Aufklappen, rechterhand auf dem +).

#Essay & Very #LongRead. 12.550 Wörter.

tl;dr

Zusammenfassung

Scham ist ein uraltes und kulturenübergreifendes Gefühl, das jede/r kennt und hat, das aber niemand anschauen möchte. Oder gar darüber reden. Es ist, entgegen allen Redensarten und Erziehungsweisheiten, ein destruktives Gefühl, das keine positive Veränderung bringt.

Menschen haben ein Grundbedürfnis nach Liebe und Zugehörigkeit. Scham ist die Angst, der Liebe und Zugehörigkeit nicht würdig zu sein. Sie bezieht ihre Macht aus ihrer Unaussprechlichkeit. Scham korreliert stark mit Gewalt, Sucht, Aggression, Depression, Esstörungen und Mobbing.

Patriarchal geprägte Kulturen unterstützen die Tendenz zur Abwehr schwieriger Gefühle. Scham wird als schwieriges Gefühl abgewehrt und häufig über Wut ausagiert, oft auch über Gewalt. Das ist sowohl für die Psyche ungesund als auch für die Gesellschaft, wenn sie gewaltfrei und in Frieden leben möchten.

Extremistische Propaganda in Ost und West nutzt die Erzählung einer geschehenen Demütigung als Haken. Sie angelt in den Menschen nach alten, ungelösten Gefühlen von Demütigung (Scham und Wut), um “Entschädigung” dafür zu versprechen. Damit wird kein Gefühl bewältigt, sondern Gewaltbereitschaft erzeugt, die gegen beliebige, entmenschlichte Sündenböcke gelenkt werden soll.

Wir sind ein leichteres Ziel für Manipulation, je weniger wir über Scham wissen und darüber sprechen.

Mitgefühl ist der Endgegner von Scham. Sie entsteht in sozialen Situationen und wird in sozialen Situationen gelöst. Wir können umdenken und dazulernen, wenn wir uns nicht mehr dagegen wehren, dass Menschen menschliche Gefühle und Bedürfnisse haben.

❞All die Grausamkeiten und Brutalitäten, bis hin zum Genozid, beginnen mit der Demütigung eines einzigen Individuums.❞

Kofi Annan, ehem. UNO-Generalsekretär und Friedensnobelpreis-Träger

Ein schambesetztes Thema

Weil über Scham so wenig geschrieben

und gesprochen wird, beginne ich damit. Sighard Neckel schrieb bereits 1991 sein Buch “Status und Scham”.  Brené Brown forscht und schreibt seit 2007 sehr viel, erzählerisch und allgemeinverständlich über Scham und Verletzlichkeit. 2009 kam das pädagogische Buch “Scham” (Hrsg. Alfred Schäfer und Christiane Thompson).

Witzigerweise ist Scham ein schambesetztes Thema, im privaten und im öffentlichen Diskurs: Alle kennen sie, alle haben sie, es gibt es hochinteressante Forschung dazu, die uns demnach alle angeht. Doch so gut wie niemand will darüber nachdenken oder gar reden. Wir wollen uns ja schon generell nur ungern verletzlich zeigen. Scham ist die ultimative Verletzlichkeit.

Wenn Scham im Diskurs vorkommt, dann wenn Menschen mehr Scham fordern, weil sie denken, das könnte manchen “schamlosen” Gestalten wohl nicht schaden.
Und könnten damit falscher nicht liegen.

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Gedanken zu Demokratie und Verfügbarkeit

Die Demokratie hat einen Schwachpunkt: Sie ist kompromissbereit.
Sie ist daher prinzipiell von beliebiger Seite beeinflussbar und bewegbar. Zumindest ein wenig. An dieser Stelle können allerlei Hebel angesetzt werden – auch undemokratische.

Etosha liest vor :) Artikel anhören:

      Gedanken zu Demokratie und Verfügbarkeit - von Etoshas Pfanne

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Diese Plastizität ist aber gleichzeitig ihre größte Stärke. Nur mit demokratischen Kompromissen können die Bedürfnisse vieler verschiedener Menschen ausreichend befriedigt werden. Statt nur die Bedürfnisse einer Mehrheit. Oder die Gier der Mächtigsten.

Um diese Stärke auch ausspielen zu können, braucht die Demokratie allerdings ein Volk aus Menschen, die diesen Widerspruch, diese Ambiguität auch aushalten. Und die die Zeit aushalten, bis sich die Rädchen der Institutionen an die richtige Stelle drehen.

Geben und Nehmen und der Anspruch auf Verfügbarkeit

Demokratie liefert Kompromisse. Sie fordert dafür von den Menschen Geduld, Toleranz und Vertrauen.

Und ich meine beileibe nicht, man möge sich in eine passive Haltung begeben und einfach nur geduldig vertrauen und alles tolerieren. Natürlich kann man sich für seine Ziele starkmachen! Aber die Ansprüche sollten daran bemessen sein, wie groß die eigene Bereitschaft ist, die nötigen Qualitäten zu entwickeln und sich einzusetzen.

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Konflikt ja aber

Noch eine Forderung nach einem Schulfach für wichtige Fähigkeiten – ich weiß schon, die braucht niemand. Aber hey: Wir lernen nicht, wie man Konflikte löst!

Wir lernen nicht, wie man Konflikte löst. Weder innere noch äußere. Wir schaffen es oft nicht einmal im Kleinen, den Frieden und die Gemeinschaft zu behüten:
Uns um unsere eigenen Gefühle zu kümmern, sodass wir sie nicht unbesehen an anderen auslassen.
Uns für unsere zwischenmenschlichen Beziehungen zuständig zu fühlen und dort den Raum frei zu halten von Altlasten, Unausgesprochenem, Leid und Ressentiment.
Authentisch zu kommunizieren, unsere Grenzen an der richtigen Stelle zu setzen und diese umgekehrt auch zu respektieren.
Wir schaffen es nicht, einander so anzunehmen, wie wir sind, und trotzdem besser werden zu wollen.

Wir können nicht unter einem Dach leben, ohne dass der Respekt voreinander verloren geht.
Und als Frau in diesem Land dürfen sich manche noch nichtmal von jemandem trennen, ohne dafür ermordet zu werden.

Und dann sehen wir uns einem weltpolitischen Konflikt gegenüber und wundern uns, warum bloß kein Frieden auf der Welt herrschen kann?

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Balance

Ich habe das Folgende für einen Freund geschrieben, mit dem ich in schriftlichem Kontakt bin über Beziehungen, Gedankenwelten, Gefühlsbewältigung und Rollenverhalten.
Der Text ist spontan aus einem Gefühl heraus entstanden, dass manches Missverständnis in seinem Leben eventuell mit dieser Thematik zu tun haben könnte.

Ich hab oft das Gefühl, dass so mancher Mann (nennen wir ihn Typ-C11) das, was er an seiner Frau so mag, als naturgegeben empfindet:
Sie ist einfach so, und dabei spendet sie zB jede Menge Energie und Aufmerksamkeit und Anerkennung und Lebensfreude. Und deshalb fühlt er sich bei ihr wohl. Sie ist nährend, bunte Farben und Sonnenschein.

Tjanun.
Frauen* sind aber oft auch deshalb so, weil wir zu völlig anderen “Qualitäten” erzogen wurden als Typ-C11:
(Vor allem!) auf andere Rücksicht nehmen,
sie geduldig aushalten, auch wenn sie nerven,
nachgeben (weil: klüger!),
die eigenen Bedürfnisse zurückstellen zugunsten anderer,
nachfragen und Interesse zeigen,
andere ausreden lassen,
Fehler zugeben, um Verzeihung bitten
(Liste unvollständig ;)
Kurz: Es den anderen so bequem wie möglich machen.

Freilich auch bis hin zu selbstschädigenden Verhaltensweisen, nur damit die anderen auch wirklich kein Äutzerl Bequemlichkeit einbüßen:
Sich über die Erschöpfungsgrenze hinweg aufreiben mit nützlichen Tätigkeiten, sich keine Kritik mehr trauen, eigene Bedürfnisse gar nicht mehr wahrnehmen, sich auch entschuldigen, wenn man gar nichts falsch gemacht hat, die Schuld bei sich suchen, wenn man scheiße behandelt wird, etc.

Jedes Stück Authentizität, jede freimütig geäußerte Ansage, jede geäußerte Wut einer Frau ist freilich auch ein kleiner Sieg gegen diese zugeteilte Rolle. Aber wir schwenken auch wieder zurück und sind lieb und liebenswert. Als Frau spüre ich jedenfalls, dass diese Art von Sozialverhalten zumeist sehr gut funktioniert – auch und vor allem unter Frauen. Wenn man auf Menschen kommt, mit denen dabei die Balance stimmt, dann funktioniert das.

Es ist eine tiefgreifende Konditionierung, und vielleicht entspricht sie auch der weiblichen Wesensart tatsächlich mehr als ständiger Konkurrenzkampf und das Ansammeln von Statussymbolen. (Vielleicht entspräche es auch der männlichen mehr – also einfach der menschlichen Wesensart – so man Männer zu solchen Idealen erziehen würde? Kann ich nicht sagen, wär möglich, ich räume der Natur (was immer…) auch durchaus ihren Platz ein – solange Menschen aber nicht völlig “natürlich” und unbeeinflusst aufwachsen – was immer das konkret überhaupt bedeuten würde – wird sich das nicht final klären lassen.)

Aber es bleibt eine Konditionierung -> die eigenen Bedürfnisse gehen davon nicht weg, sie möchte selbst auch be-rücksicht-igt werden und dass bei ihr nachgefragt wird, sie will Anerkennung bekommen, etc. Besonders, wenn sie dasselbe von sich aus gibt, möchte sie das auch bekommen, ohne darum bitten zu müssen.
(Was wäre eine Aufmerksamkeit oder Anerkennung auch wert, um die man erst bitten musste? Man musste sie, die Frau, ja auch nicht darum bitten!)

Wie gesagt, Typ-C11 glaubt eventuell, sie würde diese Qualitäten(?) einfach freimütig und bedingungslos(!) geben, das wäre aufwandsfrei, eh kostenlos und quasi alles inklusive – und irgendwann glaubt er vielleicht sogar, dass ihm das alles auch zustehen würde – sonst würde er es ja nicht kriegen!

Und übersieht dabei das allmählich anwachsende Ungleichgewicht.

Frau* hingegen hat mitunter bald das Gefühl, dass von ihm nicht viel zurückkommt. Das ist jetzt nicht allein als “sein Fehler” gemeint – siehe oben, nicht alles an diesem Verhalten ist gesund und das Ideal – aber sie hat da Qualitäten, die offenbar von ihm geschätzt werden und auch konsumiert werden, ohne dass er je auf die Idee käme, das als eine besondere Form von Zuwendung zu begreifen. Eine, die nicht jeder von ihr kriegt, und die für sie auch spürbare(!) Kosten bedeutet. Sich zurückzunehmen zB bleibt immer spürbar. Nährend sein kostet uns etwas.

Typ-C-11 kommt leider auch nicht auf die Idee, dass man sowas (oder ähnliches) auch mal zurückgeben könnte. Auch nicht durch die simple Tatsache, dass es doch so angenehm ist, es zu empfangen! Vielleicht, weil er es irrtümlich für eine natürliche Ordnung der Dinge hält?

Aber dass sie es zulässt, dass er öfter in den Vordergrund rückt (als sie/als andere), heißt nicht, dass ihm das auch ständig zustünde.
Es ist ein Vorschuss! Wir betreiben “do ut des” – und erwarten quasi in unserer herzseitigen Balance-Abteilung den Eingang eines Ausgleichs. Eines Ausgleichs auf der Beziehungsebene – keine Geschenke oder Mitbringsel.

Was Typ-C11 daher eventuell für natürliche Liebenswürdigkeit hält, ist tatsächlich ihre jahrelange (und tägliche) Arbeit daran, ein aufmerksamer, halbwegs selbstloser, verständnisvoller, verträglicher und toleranter – und vielleicht zufällig weiblicher – Mensch zu sein. Auch schlicht deshalb, weil dadurch die Chancen steigen, kein einsamer Mensch zu werden.

Es wäre unfair, “do ut des” zu einem “Aufrechnen” umzudeuten. Wer gibt, möchte auch was bekommen, außer es handelt sich um Jesus. Forschungen an Empathie und Altruismus bestätigen das. Man tut es um der anderen willen, aber auch um seiner selbst willen – auf dass einem selbst auch so geschehe.
Die goldene Regel, andere so zu behandeln, wie man selbst behandelt werden möchte, befolgt man schlicht für funktionierende soziale Beziehungen, wie man sie eben gelernt hat und spüren möchte – Beziehungen, in denen im Idealfall für alle gleichermaßen gesorgt ist.
Auch indem man auf manches verzichtet, und beim nächsten Mal eben jemand anderer dasselbe tut.

Mit manchen Menschen fühlt man sich allerdings irgendwann ausgebeutet, weil man gefühlt nur gibt und kaum was zurückkriegt. Oder die “falschen” Dinge = oft käufliche, glitzernde, florale, essbare oder sonstige “Freikaufungen”. Leider nicht zusätzlich zur ebenso benötigten zB echten Aufmerksamkeit, sondern stattdessen. Oder es kommen fünf Zurückweisungen auf eine Aufmerksamkeit, statt umgekehrt.

Mit anderen Menschen funktioniert diese Balance ganz natürlich, ohne dass beide dabei overgiving werden und sich gegenseitig überbieten müssten. Vielleicht mit Menschen, die es ähnlich gelernt haben.
Man bietet an, was man hat, um das Leben des anderen schöner zu machen – freut sich, wenn’s klappt, und tut es auch in der Gewissheit, dass das irgendwann mit Gleichem beantwortet werden wird. In guten Beziehungen ist das auch an keine bestimmte zeitliche Frist geknüpft, sobald einmal das Vertrauen da ist, dass es prinzipiell funktioniert.

Vielleicht stimmt auch das oft: Wir geben das, was wir uns wünschen.

Take what resonates and leave the rest.
* Bitte keine Kommentare a la “Nicht alle Frauen / nicht alle Männer”, “Ich bin doch nicht kOnDiTiONiErT!” oder “Die Rollen können aber auch andersrum gelagert sein”. Ja, ist alles klar. Ich formuliere, wie ich es empfinde und schon oft empfunden habe – das sind keine Ausschließlichkeiten, sondern meine persönliche Betrachtung.

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An jedem verdammten Tag

Die Bedeutung, die ein Mensch für dich hat, zeigst du diesem Menschen am besten auch – so oft wie nur möglich, und ganz real, in der echten Wirklichkeit.

Nicht mit einem “ich hätte”. Nicht mit leeren Worten, sondern mit vollen Taten.
Mit Sorge und Zuwendung, mit Bereitschaft zu Entgegenkommen, und auch zu Einsicht und Besserung.

Nicht wie beim Unterschied zwischen Einkaufszettel und Kassenbon: Theoretisch, ja, da bedeutet er mir so viel, dieser Mensch.
Aber mein Verhalten fällt dann doch ganz anders aus.

Während du die Aufmerksamkeit, die Zeit, die Geduld und die Priorität nimmst, die dieser Mensch dir gibt, hast du nämlich sonst nichts, womit du diese Kostbarkeiten zurückgeben würdest. Du spürst diese Bedeutung vielleicht, irgendwo in dir, aber dieser Mensch, der dir doch so viel bedeutet – der spürt davon nicht das Geringste.
Aus leeren Worten entsteht Leere im Herzen. Des anderen.

Und das Ende vom Lied?
Klingt womöglich wie “Always on my mind”, das vielleicht gschissenste “Liebeslied” aller Zeiten:

Vielleicht hab ich dich nicht so gut behandelt, wie ich sollte.
Vielleicht hab ich dich nicht festgehalten in all den einsamen Stunden.
Vielleicht hab ich dir nie gesagt, wie glücklich ich bin, dass du mein bist.
Für die kleinen Dinge, die ich hätte tun und sagen sollen, hab ich mir einfach nie die Zeit genommen.
Aber ich hatte dich eh immer im Hinterkopf.

Wer hat davon irgendwas?

Wenn ich dir das Gefühl gegeben habe, du kämst an zweiter Stelle, dann tuts mir leid, ich war so blind.
Aber ich hatte dich immer im Hinterkopf.

Soll ein leichter Schlag auf ebendiesen nicht das Denkvermögen steigern?

Saaaag mir, dass deine süße Liebe nicht gestorben ist…

Doch, das ist sie, die süße Liebe!
Verreckt am Warten und Hoffen, am Bitten und Zurückgewiesenwerden.
Gemeuchelt von Ignoranz und Kälte, von arroganter Geringschätzung und distanziertem Stolz.
Gedemütigt von verletzenden Argumenten bei der Rechtfertigung verletzenden Verhaltens.
Erstickt von ausgebliebenen Entschuldigungen und strafendem Schweigen.

Daran zugrunde gegangen, dass es immer irgendwas gab, das gerade wichtiger war als sie.

Liebe ist ein Geschenk, das irgendwann versiegt, wenn man es nur geizig für sich behält.

Und obwohl es schon immer so war, dass das Leben nicht endlos ist, gilt noch mehr in dieser Zeit:
Es könnte an jedem verdammten Tag vorbei sein. Schon morgen.
Mit dir.
Oder mit dem bedeutungsvollen Menschen.

Und was tust du dann? Einen Song schreiben?

Die Bedeutung, die ein Mensch für dich hat, zeigst du diesem Menschen am besten auch – so oft wie nur möglich, und ganz real, in der echten Wirklichkeit.
An jedem verdammten Tag.

[kommentare ausgeschaltet]

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Corona – neun .. Eure Erzählung ist Bullshit

Dieser Artikel ist Teil 9 von 18 in der Serie "Corona" ...

Infolge technischer Zores und persönlicher Unsicherheit landeten die folgenden Absätze aus den letzten Wochen nur in meiner persönlichen Schublade.
Daher, hier nun, bittesehr: lang und breit, und ein bisserl grantig.

Es fuckt mich an, dass viele Leute so sorglos sind wie Anfang März. Dass sich kaum mehr jemand mehr drum schert, was aus den anderen wird.
Warum ist Abstandhalten nun wieder nur Sache derer, die Abstand wollen? Abstand wär doch auch für normale Zeiten kein Fehler. Dabei könnte man lernen, dass die eigene Planroute nicht das einzige auf der Welt ist, was zählt.

Von dem vielen Bullshit, den Fake-News und dem Verschwörungsgeschwurbel, die da draußen unterwegs sind, ganz zu schweigen. Corona-Demos, meine Fresse. Na genau: “Demonstrier ma gengan Virus, des bringt sicher was.” Ein paar glauben sich auch in einer von langer Hand geplanten Diktatur wiedergefunden zu haben – wundern sich aber nicht, dass sie das laut sagen können und gleichzeitig immer noch am Leben und frei sein. So selbstverständlich ist ihnen die Demokratie und ihre Redefreiheit, dass sie sie gar nicht mehr bemerken.

Andere sind einfach nicht mehr willens, sich irgendeiner “unsichtbaren” Gefahr zu beugen, weil: es is jo nix passiert. Wir haben Sonnencreme benutzt, viele haben dann tatsächlich keinen Sonnenbrand gekriegt – und von denen ist sich gefühlt die Hälfte jetzt sicher, dass die Sonne so gefährlich gar nicht sein kann, weil wir ja keinen Sonnenbrand gekriegt haben; und dass daher die Sonnencreme gar nicht nötig gewesen sein kann.
(Dank für diese schöne Metapher gebührt René Wilke, dem Oberbürgermeister von Frankfurt/Oder. Hier die Rede, aus der sie stammt, zum Nachhören.)
Man nennt das Vorsorge- oder Präventionsparadox: Die Maßnahmen scheinen im Nachhinein ihre eigene Unnötigkeit zu beweisen, weil sie gewirkt haben.

Es ist genug passiert, tausende Menschen sind gestorben – was brauchen wir noch zur Befriedigung unserer Geilheit auf Katastrophe und Eskalation? Videos auf Youtube in großer Zahl, die in ihrer medialen Allgegenwart am Nabel des Geschehens das alles auch beweisen? Mindestens drei Tote in unserem engsten Umfeld, von denen jeder einzelne durch die Straßen getragen wird? Was??

Verdanken tun wir diese Spaltung und die Alternativrouten beim Denken auch der Angstmache des Hl. Sebastian Ende März. Und dem Kontrast zum jetzt bemerkenswert ungerührten Umgang mit den “Lockerungen”. Das ist wie bei “Peter und der Wolf”: “Das gar Schröckliche, vor dem er so gewarnt hat – dass wir bald jeder jemanden kennen werden, der an Corona gestorben ist – das ist gar nicht eingetreten! Er muss gelogen haben. [Das hat mir Angst gemacht, und jetzt bin ich sauer und will nicht mehr brav sein.] Und ein bisserl enttäuscht bin ich auch von der ausgebliebenen Katastrophe. ” Und dann?

Es fuckt mich schon an, wenn Politiker kaum über das Ende ihrer aktuellen Legislaturperiode hinausdenken wollen. Das verhindert jede zukunftswirksame, weitsichtige Politik. Wenn aber einer nichtmal eine Woche oder zwei vorausdenken will, was seine Strategie in weiterer Folge anrichtet, sondern nur eine Art der Verkündung kennt, nur eine Art zu erreichen, was er will, nämlich Manipulation – da setzts bei mir aus. Können rechte Populisten einfach nix anderes, oder was ist da?

Manipulation heißt, man zieht gar nicht erst in Betracht, dass man mit Offenheit auch etwas erreichen könnte. Mit Transparenz und Information, die deutlich sichtbar aus einer umfassenden Informiertheit entspringt, deren Quellen auch genannt werden. Einzuräumen, dass man verschiedene Dinge einfach noch nicht sicher weiß; aber wir wissen A, B und C und müssen daher davon ausgehen, dass wir diese Maßnahmen unbedingt brauchen.
Es kamen ständig Bilder aus Italien, da musste man keine zusätzlichen Schreckensszenarien malen.

Aber all das beinhaltet freilich eine gewisse Komplexität – und alles, was der Verkünder nicht in drei Punkten darstellen kann, ist im Glaube der Vereinfacher dem Volk nicht vermittelbar.
Wir werden also für deppert gehalten, für unvernünftige, denkunfähige Emotionsbündel aus Fleisch, die man am besten bei der Angst packt – und zwar nur dort.

Apropos Bullshit: Mich fuckt an, dass die neoliberale Erzählung von den (superen) Starken und den (verachtenswerten) Schwachen sich schon dermaßen in allerlei Hirne eingebrannt hat. Diese Erzählung hält dem Kontakt zu den eigenen Gefühlen ein Verbotsschild hin, weil sie ein toxisch-männliches Ideal transportiert und am Leben erhält, das da lautet: “Bloß keine Gefühle spüren. Jeder Kontakt mit ihnen macht schwach. Aber wir müssen stark bleiben!”

Die Erzählung besteht weiterhin darauf, dass “emotional” nichts Gutes bedeuten würde und stets beinhalten würde, dass das Denken dann abgeschaltet wäre. Als wären eigene Gefühle etwas, dem man Widerstand leisten müsste. Dem ist nicht so, im Gegenteil – wer keinen Kontakt zu seinen Gefühlen hat, ist ein leichteres Opfer seiner Gefühle. Weil er sie nicht kennt und nicht wiedererkennt, obwohl sie zu ihm gehören.
Und daher auch gar nicht merkt, wenn er manipulativ dort gepackt wird. Oder wenn er sie ausagiert und dabei immer noch fest dran glaubt, er wäre so wunderbar rational.

Mich fuckt auch an, dass die Medien aufgrund der reinen Dringlichkeit und der offenbar fehlenden Vernetzung alles dermaßen unhinterfragt transportiert haben. Da hab ich schon vor drei Wochen dagegen angeschrieben, dass da gerade Angst und spaltende Feindbilder ins Volk eingearbeitet werden, die uns eventuell noch auf den Kopf fallen werden. (Und fühlte mich damit so allein auf weiter Flur. Die eine oder andere Redaktion hat eventuell eine Rechtsabteilung. Ich nicht.)

Aber ich sags gern nochmal: Wenn man Menschen beigebracht hat, die ~anderen als ~GeFäHrDeR~ wahrzunehmen, wie will man sie danach noch dazu bringen, genau diese anderen zu schützen? Die Geschichte geht einfach vorn und hinten nicht auf.

Mit der Angstmache hat man nicht nur dem Volk ein Dummheitszeugnis ausgestellt: “Sie verstehens ja sonst nicht und tun dann nicht, was wir ihnen sagen”. Sondern mit Sicherheit auch viele Leute den Geschichtenerzähler:inneN in die Arme getrieben, die eine andere, freundlichere, aber leider frei erfundene Wirklichkeit verkünden.
“Na Hauptsache, jetzt sind sie wieder unbekümmert, die Schäfchen – irgendwer wird die Aufgabe schon übernommen haben.”  Und wenn die nächste Welle kommt, was tun wir dann? Wieder “Der Wolf ist da!” schreien? “Diesmal aber echt!”?

Nun gehen wir langsam zu Lockerungen über, und was passiert als erstes? Es wird keine Maske mehr getragen und kein Abstand mehr gehalten. Ausgerechnet das, was anscheinend wirklich den meisten Sinn gegen die Ausbreitung von Covid-19 hätte. Is aber wuascht! Warum? “Die anderen sind sowieso nur ~GeFäHrDeR~! Was kann ich dafür, dass die alle krank sein könnten – vermutlich sind sie halt schwach. Und dass sie sich angesteckt haben, auch selber schuld. ICH bin SICHER nicht krank, weil ICH STARK! Uga! Uga!”

Im Supermarkt tragen diese Leute die Maske wohl auch nur, weil sie ohne nicht reindürfen. Aber meinen Abstand muss ich mir schon selber schaffen, und zwar ich allein. Das ist mit viel Defensive und Wartezeiten verbunden. Wer schneller ist oder einfach seine Route eisern geht, der gewinnt (= der Stärkere! Und vermutlich noch stolz drauf), und der ist vorher im Gang, an der Reihe, am Regal, an der Kassa. Von Rücksicht oder Verteilung der Last keine Spur mehr.

Wer wird dennoch am meisten Abstand halten? Das Menschlein aus der Risikogruppe. “Solls eben in Kauf nehmen, dass es später drankommt, schließlich gehts ja um SEINE Gesundheit”? Ja, ist schon klar. Ist dann halt scheiße.

Die Erzählung von Stark und Schwach hat auch dafür gesorgt, dass es – nach dem initialen, aber kurzen Alle-im-selben-Boot-Überschwang im März – vielen jetzt legitim erscheint, zur Diskussion überzugehen, welches Leben lebenswert sein könnte und welches vorzeitig beendbar scheint. Den Schwachen loszuwerden. Und ihn bis dahin zu zwingen, den Anteil der Verantwortung, den sie selbst nach kurzer Zeit schon nicht mehr tragen wollen, gleich mitzuübernehmen. Denn nichts anderes ist ein “Wenn er Abstand haben will, dann soll er eben welchen halten. Mir is wuascht.” Irgendwas stimmt da nicht an der Verteilung, oder?

Dabei liegt auf der Hand: Rücksicht ist keine Einbahnstraße. Fairness ist etwas, das Gesunden genauso zusteht wie Kranken, Alten genauso wie Jungen.

Der Teil der erwähnten Erzählung vom “Einzahlen in das System” und von den “Leistungsträgern” (und, unausgesprochen, den anderen, den Owezahrern, den Kranken und Schwachen, den ~Unwilligen~) ist ein neoliberales Horrormärchen, das das Denken auf Schwarz und Weiß zusammenstaucht. Es soll eine Gerechtigkeit vortäuschen, in der jeder vorgeblich das kriegt, was er “verdient”.

Und es soll das dummstolze Herabschauen auf die langsameren Leistungshamster einfacher machen, ein Feelgood generieren, während uns die Erzähler unterm Arsch den Sozialstaat wegtragen. Ein Märchen, das uns Fairness (und womöglich gar Solidarität selbst?) als einen Tauschhandel verkaufen wollte, bei dem nur leistungsstarke “Einzahler” mitspielen und profitieren dürfen und alle anderen auf der Strecke bleiben – und das auch noch zurecht.

(Hier einer meiner früheren Artikel über die Auswüchse des Leistungsgedankens.)

Das ist kompletter Unsinn, gerade wenns um Solidarität geht. Solidarität ist, wenn die Stärkeren für die Schwächeren sorgen, und alle das ihnen Mögliche geben, damit alle gut leben können. Es ist Egoismus, wenn die Stärkeren auf die draufsteigen, die eh schon am Boden liegen, weil sie so schneller nach oben kommen – diese begehrte Richtung im dazuerfundenen gesellschaftlichen Raum, die Leistungsbeweis und Erfolg verheißen soll.
Aber nicht gleich als Covid-Engerl auf ein Wolkerl, so weit nach oben dann auch wieder nicht, gell?

Die vielen Menschen, die vom toxischen Starksein Depressionen oder Burn-Out kriegen – deren Flug “nach oben” ist freilich vorbei. Der Stempel “schwach” wird ihnen aufgedrückt, sie werden von der Gesellschaft aussortiert und unsichtbar gemacht. Es fällt unter den Tisch, dass diese vermeintliche “Schwäche” mitunter von genau diesem Starksein-Müssen erzeugt wird. Wobei Gefühle weggedrückt werden und schwachen Momenten oder Phasen keinerlei Platz mehr im Leben eingeräumt werden. Weil das positive Selbstbild mit einer munteren Leistungsfähigkeit steht und fällt.
Es fällt auch unter den Tisch, dass unterdrückte Energien sich immer ihren Weg bahnen, auf die eine oder andere Weise.

Das neoliberale Stark-Schwach-Märchen geht in dieser teils paradoxen Situation einfach nicht mehr so richtig auf. Und alle purzeln jetzt wild durcheinander und kennen sich nicht aus. Vielleicht weil offenbar wird, wie sehr die Erzählung einfach nicht mehr zur Wirklichkeit passen will, oder – schlimmer – zu extrem unethischen Folgerungen führt. Die Erzählung sortiert Menschen direkt aus, die wir kennen – und das war vor Corona auch schon so, aber doch nicht so klar sichtbar. Menschen, die doch gerade noch einen Job hatten. Die doch gerade noch eine Firma hatten. Denens doch gerade noch so gut ging. Da muss man schon viel geistige Energie aufwenden, um das wieder auszublenden und die ~Schwachen weiterhin für verzichtbar zu halten. Wenns plötzlich nicht nur irgendwelche imaginierten ScHwÄcHlinGe betrifft, sondern Menschen, die man persönlich kennt.

Es sind eben nicht alle zu gleichen Leistungen befähigt, mit gleicher Gesundheit beschenkt, mit gleichen Bildungschancen geboren – und das ist auch keine reine Frage des Willens und des Schmiedens von eigenem Glück. Eher schwer entrinnbare Ausgangssituationen in Stark und Schwach einzuteilen, statt sie als gegebene Ungerechtigkeit zu benennen und dagegen anzugehen, ist typisch für diese durch und durch zynische Erzählung.
Wer aus seiner finanziell sicheren und körperlich gesunden oder privatärztlich betreuten Position immer noch glaubt, dass doch jeder alles erreichen kann, wenn er nur will; dass sie gesund bleiben kann, wenn sie nur will – dass wir “stärker sind als das Virus”, wie man in den USA verkündet hat, nur damit die Leute die Wirtschaft nicht am Virus verrecken lassen – der hat echt ein paar schimmlige Flecken auf seiner Landkarte der Privilegien.

Kompromisse sind immer leichter umsetzbar für die, die mehr haben, als für die, die von ihrem wenigen noch was abgeben sollen. Das weiß jede in ihrem Bauchgefühl.

Mich fuckt an, dass der traditionelle Hass der Konservativen auf die Sozialdemokratie jeden noch so kleinen Seitenhieb nutzt, der sich bietet. Mit der Verkündung, ab 1. Mai dürfe wieder gearbeitet werden, als hätte es die Arbeiterbewegung nie gegeben. Mit den neuen Verordnungen erst spätabends vor dem Feiertag rausrücken, damit am 1. Mai ja nicht gefeiert werden kann, wenn schon nicht gearbeitet wird.

Diese Gehässigkeit entspringt einem Elitedenken, das diejenigen zum Feind erklärt hat, die seinerzeit für ihre schwere Hackn auch was vom Kuchen abhaben wollten – und dafür, dass sie das wollten und auch weiterhin wollen, werden sie von den Neofeudalen auch heute noch gehasst. Ein ererbter, gefühlter Anspruch auf Geburtsrechte, Hegemonie, Hierarchien und “gottgegebene” Verhältnisse, die legitimieren sollen, dass es wohl “von Natur aus” wertvollere und weniger wertvolle Menschen geben würde. Welche, denen nix gehört, und welche, denen alles gehört – einschließlich die, die nix haben. Aus Ressourcen, die ursprünglich niemandem gehörten, bis jemand sie qua I-Bims-der-Herzog beansprucht hat, und sie von gnadenlos ausgebeuteten Arbeitskräften nutzbar und profitabel machen ließ – und dann vererbte. Das ist die Attitüde, die bemäntelt in der Erzählung steckt, es wäre für ~jeden ~alles erreichbar. Sie wissen, dass es nicht stimmt, und sie wissen es zu verhindern.

Der Hass lebt aber dennoch weiter, aus einem wohl unerkannten Gefühl heraus, dass einem was von diesem ~naturgegebenen Anspruch weggenommen werden soll. Er bildet offenbar die stärkere “Tradition” als jede christliche Freigiebigkeit, Nächstenliebe oder Bereitschaft, das Vorhandene zu teilen. Natürlich auch nicht mit jenen, die tatsächlich “etwas erreichen wollen”. Auf die wird vorzugsweise “runter”getreten, damit sie einem nix streitig machen. Klassenkampf at its best. Naturgegeben ist hier maximal die Anspruchshaltung.

Mir ist zu viel Scheinheiligkeit und Gier und Ignoranz für fremde Lebenswirklichkeiten auf der Welt, in einem Maß, das ich kaum mehr aushalten kann, und zu wenig Lebenlassen, zu wenig Echtheit und Fairness (und vieles mehr).

Und dann sitzen da Leute in einer Regierung, die ernsthaft die Abschaffung der Schaumweinsteuer für ein geeignetes Instrument halten, um der Gastronomie den Arsch zu retten. Da herrscht eine Volksfremdheit und eine freche Selbstverständlichkeit an elitären Marshmallow-Bubbles, die ich unpackbar zynisch finde. Das muss man sich mal trauen bei 550k Arbeitslosen Mitte Mai, die sich in diesem Moment überlegen, was sie dieses Monat noch an Lebensmitteln kaufen können und wie sie sich auch noch darauf konzentrieren sollen, Abstand einzuhalten. “Rettet die Gastro! Gehet hin und saufet Sekt!”

Die Risikogruppe wartet Mitte Mai immer noch auf das angebliche Schreiben für ihr Recht auf Home-Office oder Dienstfreistellung, das sie danach freilich noch vom Arzt begründen lassen müsste, während sie seit 1. Mai (oder so, zwinki-zwonki) wieder arbeiten geht. So kümmert man sich um die “Schwachen”, na danke.

Derweil präsentiert uns der Kanzler seine Jupiter-Attitüde im Kleinwalsertal und macht dort den potentiellen Superspreader in der “neuen Normalität”. Und erklärt uns hinterher ganz errötet, die aNdErEn hätten Abstand halten müssen. Was für ein Vorbild!
Je heftiger dort rumgewedelt wird, umso mehr gibts für gewöhnlich da, wovon abgelenkt werden soll.

Indessen wird ein Wirtschaftspaket von 38 Milliarden (Euro, net Lire) irgendwo entschnürt, von dem man nur von einem Bruchteil erfährt oder errechnen kann, was damit konkret passiert und wer darüber entscheidet.

Zu den Kriterien des Härtefallfonds will ich mich nicht auch noch ausgiebig auslassen, nur soviel scheint klar: Verzichtbar sind für die Großkonzern-Politik die kleinen Unternehmen, noch dazu die, die im Vorjahr einen Verlust hatten (aber schon bitte nur diese eine Einkunftsquelle) – tragen eh nix bei, können weg.

Eine gewisse “Reinigungskraft” würde die Krise auf die Wirtschaft ausüben, hat uns der Nationalbank-Chef Holzmann erklärt. Allerdings sagte er auch: “Die Aufgabe der Regierungen besteht ja genau darin, das [Pleiten und Jobverluste] zu verhindern, indem sie Liquidität und Einkommensersatz sicherstellen.” Aber freilich nur bei denen, die “sowieso überlebt hätten”. Na gut, dass das nur ein bisserl paradox ist. (Aber passt so gut zu den gesundheitlich ~schwachen Leuten, die sowieso nicht überlebt hätten.)

Wer nicht schon am Hungertuch nagt, kriegt irgendwelche € 59,20. Die anderen ein paar Peanuts mehr. Und damit sollen dann Insolvenzen vermieden werden?
Dabei wird uns in den Nachrichten die Anzahl der bereits bearbeiteten Anträge bekanntgegeben – ganz im Geiste des Beamtenstolzes: Wieviele hab ich abgearbeitet? – statt der Summe bislang ausgezahlter Gelder, als zusätzliche Angabe zum Selber-Dividieren. Hallo Transparenz?

Das Kurzarbeits-Budget ist separat von diesen Milliarden, iirc. Die paar Millionen Familienhilfe sowieso. Maximal 6k€ gibts pro Nase aus dem Härtefallfonds. Bei von mir aus 400.000 EPU und Gesellschaftern von KGs uä (von denen kaum jede:r einzelne die Kriterien erfüllt haben dürfte) ergibt das zweieinhalb Milliarden, aber sollens fünf Milliarden sein, bin da nicht kleinlich.

Und wo ist der Rest? Wo konkret kann wer konkret den beantragen, und wie? Mit drahtloser Liebe zu jemandem, der wen kennt? Wer kriegt die “restlichen” 32 Milliarden? Ist ja nicht so, als hätten die Herren mit den Masken hinter den Plexischeiben das Geld aus ihren privaten (haha) Taschen in dieses Paket eingezahlt! Wer die großen Tortenstücke abgreift, können wir uns dort ausrechnen, wo das nicht übers BMF geht, sondern man dafür eine eigens gegründete Gesellschaft braucht (Cofag). Hallo Transparenz?

Andere Schwäche-Story: Wenn die Grünen in der Koalition plötzlich bei Themen umfallen, die sie vorher, vor der Koalition oder auch nur vor ein paar Tagen, noch vehement vertraten (Vermögensteuer, oder auch das Recht für Schwule, Blut zu spenden), dann sind die Grünen offenbar “jetzt auch nicht mehr wählbar”.

Niemand erzählt uns, wie es konkret dazu gekommen ist, und es fragt auch niemand danach. Es wird einfach angenommen, analog zur neoliberalen Erzählung, sie hätten eh gekonnt, wenn sie es nur genug gewollt hätten – aber sie wollten sich einfach nicht durchsetzen. Zu schwach halt. Niemand erzählt uns, wie es kommt, dass eine Partei nach der anderen in einer sogenannten “Partnerschaft” verheizt und entseelt wird und immer so “schmutzig” dasteht, dass man ihr danach per beliebigem Narrativ ihre Wähler abkaufen kann. Und freilich als der Stärkere aus der Story hervorgeht.
Da werden Dinge hinter verschlossenen Türen ausgeschnapst, die mit ein bisschen Fantasie alles beinhalten könnten, und keiner weiß es.
Um unser Geld. Hallo, Transparenz?

Detto bei den Maßnahmen zur Pandemie – in anderen Ländern stehen Experten und Expertinnen vor den Mikrofonen. Oder eine Naturwissenschaftlerin in einem hohen staatlichen Amt. Bei uns wird von oben herab regiert, als wären wir noch im Kaiserreich, und uns hinterher reingedrückt, wie super der Saubermann das alles gecheckt hat, während hinter dem Vorhang reihenweise die Betriebe verrecken.

Man kann mit den Maßnahmen grundsätzlich (weitgehend) einverstanden sein und trotzdem die Art der Verkündung und die verschlossenen Türen scheiße finden.
Und die der öffentlichen Wahrnehmung verkaufte Idealverteilung von staatlichen Hilfen in Zweifel ziehen.
Nehmt das, ihr Freunde und -innen der zwei Schubladen! Wenn’s nach mir ginge, gäbs in einer Demokratie überhaupt keine Verhandlungen hinter verschlossenen Türen. Angesichts der unverhohlenen Lobby-Bedienung und der Korruptionsvorwürfe, die wie Schwammerln aus dem Sumpf schießen, bekommt es einen geradezu absurden Touch, wenn die Regierung sich bemüht, an unsere Daten heranzukommen, uns zu überwachen und zu erfahren, was wir tun, wo wir sind, mit wem wir reden. Nach dem Motto “Wer nichts zu verbergen hat…” Es müsste umgekehrt sein – die Regierung gehört überwacht. Oder hat sie etwa was zu verbergen?

Aber vielleicht sind ja der Vernünftigen wirklich zu wenige in diesem Land. Derer, die Zusammenhänge und Maßnahmen besser annehmen, wenn man sie ihnen begründet und die Grundlagen dieser Maßnahmen offenlegt, und auch die Daten und Zahlen für vernünftige Studien. Vielleicht sind die eine Minderheit, okay.
Vielleicht ist es dann auch wirklich so, dass man alle anderen nur mit Emotionen regieren kann. (So wie man sie ja auch zum Kreuzerlmachen bringt.)

Dazu muss man allerdings erstmal alle in einen Topf werfen – Aufschrift: “Deppen”. Die Vernünftigen könnten das schonmal übelnehmen. Sich also weiterhin drauf zu verlassen, dass die vereinzelten Vernünftigen sowieso weiterhin vernünftig agieren werden, weil sie ja vernünftig sind, ist danach schonmal gewagt, wenn die jetzt übelgelaunt sind.

Wer nach dieser Logik aber ausgerechnet die verbleibenden mutmaßlich unvernünftigen Menschen gezielt in einen Zustand der Angst versetzt, um ihr Verhalten kurzfristig zu beeinflussen, der muss schon echt wo angrennt sein – oder aber über Wissen darüber verfügen, wie diese Angst-Menschen in weiterer Folge auf bestimmte Situationen reagieren werden, und wie sie wieder einzubremsen wären. Und zwar, bevor er diese Mittel einsetzt, deren spätere Konsequenzen er anderenfalls gar nicht abschätzen kann.
Ist ein bisschen wie mit genmanipuliertem Saatgut, nur schiacher und mit mehr Schreierei.

Klar wenden die derart Manipulierten sich dann lieber jemandem zu, der die unbearbeiteten Gefühle beruhigt, wenn seine Geschichte lautet, das mit diesem Virus wär alles total übertrieben. Und das brauchen gerade die Menschen, die ihre Angst und Verunsicherung NICHT spüren! Ebensowenig wie ihr Gefühl von Kontrollverlust. Auch ersponnene, falsche Sicherheit ist (bei mangelndem oder fehlendem Nachspüren) eine Art Sicherheit.
Selbst eine große Verschwörung zur Unterjochung des Volkes (oder wozu auch immer) gibt Kontrolle zurück, auch wenns ein ähnlich bedrohliches Szenario zu sein scheint – es ist eines, gegen das man kämpfen kann! Auf die Straße gehen! Empört sein! Was tun. Versus nix tun und dabei auch noch mit seinen Gefühlen konfrontiert sein.

Wer Kontakt zu den eigenen Gefühlen hat, die Angst und die Verunsicherung in sich spürt, findet das Gefühl zwar auch nicht grad toll, stellt aber zumindest fest: Oh, ich spür da was. Ich fühl mich unsicher und hab Angst. Das ist vermutlich okay so und auch der Situation angemessen. Was will mir das sagen? Was kann ich damit am besten machen? Ich werd mich erstmal umfassend informieren und danach nach bestem Wissen mich und meine Lieben schützen. Vielleicht fallen mir auch ein paar Self-Care-Maßnahmen ein, die mein inneres Gefühl etwas stabilisieren.
(Dazu vielleicht beim nächsten Mal mehr.)

Sofern man natürlich überhaupt zulässt zu spüren und auch zu akzeptieren, was man spürt; dass man Angst hat. Klar ist das nicht angenehm. Aber hat man sich mal angewöhnt, Angst und “schlechte” Gefühle jedesmal wegzuschieben – weil Angst einfach “nicht geht” für “starke” Menschen – dann ist man gezwungen, das Ungespürte auszuagieren. Und das ist auch nicht angenehm, besonders wenn man es nichtmal merkt. Nicht angenehm für das Umfeld, und nicht für einen selbst.

Dann sucht man andere Wege: Hektische Betriebsamkeit. Arbeitswut. Jede Minute der “geschenkten Zeit” anderweitig sinnvoll nutzen, sofern man denn geschenkte Zeit hat. Wohnung umbauen. Aussortieren. Shoppen. Damit man ja nicht zum Nachdenken kommt, das sich womöglich in ein Nachspüren verwandeln könnte. Aggressiv werden.
Oder eben jemandem glauben, der eine sicherheitsträchtigere Erzählung anbietet. Und damit alles aufs Spiel setzen, was wir mit Disziplin und Solidarität bisher erreicht haben.

Will sagen: Die Angstmache war komplett kontraproduktiv. Angst und Verunsicherung kommen schon von ganz alleine, wir sind nämlich Menschen und keine PK-Maschinen. Da musste der Kanzler wirklich nicht auch noch zusätzlich eins draufsetzen, damit alle möglichst schnell zu ihrem gschissensten Daseinsgefühl finden… in dem die stumpfsinnige Erzählung von Stark und Schwach samt ihrer toxischen Gefühlsabwehr plötzlich keinerlei Trost, Strategie oder Perspektive mehr bietet.

Klug und vorausschauend wäre: Sicherheit vermitteln, Bewusstsein schaffen durch Transparenz und Aufklärung – zur vernünftigen Einschätzung der Gefahr. Der Demokratie auch unter Zeitdruck zumindest ein wenig Raum lassen für Diskurs und Mitsprache und Nachfragen. Für große Fragen der Verteilungsgerechtigkeit. Der Gesetzgebung. Vielleicht auch ein bisserl an die Seelen der Menschen denken.
Und dann Maßnahmen so setzen und lockern, dass viele Menschen sie auch beim nächsten Mal noch mittragen, weil sie sich nicht schon beim letzten Mal verarscht gefühlt haben von Intransparenz, Zynismus bei der Almosenverteilung, Selbstverliebtheit und Jupiter-Gehabe vor den Rindviechern des Volkes.

Die neoliberale Erzählung hat viele Facetten, die uns als Menschen schaden:
Stark oder schwach.
Wir oder die anderen.
Oben oder unten.
Leistungsfähig und lebenswert oder unwillig und unnütz.
Einzelkämpfer oder Luschen.
Männer oder Frauen.
Sauber oder schmutzig.

Sie schwächt die Menschen und nützt nur denen, die längst schon genug haben. Alle anderen werden gegen sich selber ausgespielt. Dazu angetrieben, ihre Gefühle zu unterdrücken und sich anzustrengen für ein Möhrchen, das immer knapp vor ihrer Nase baumeln wird, während der Rest sich die Milliarden aufteilt. Die Schere, die die Gesellschaft jetzt schon massiv beeinträchtigt, wird davon immer größer. Und wenn’s hart auf hart kommt, sind die “Kleinen” und “Schwachen” verzichtbar, das sehen wir jetzt sehr deutlich. “Leistung muss sich wieder lohnen” heißt eigentlich: “Nichtleistung darf sich nicht mehr lohnen” und soll den Hass auf die schüren, die vermeintlich auf der faulen Haut liegen, aber tatsächlich vielleicht einfach nicht mehr stark sein können oder das nie konnten.

Während die, die einen hübschen Starterbonus geerbt haben, weiterhin voll Stolz erzählen, sie hätten sich alles selbst erarbeitet, und auch fest daran glauben. Und daran, dass auch anderen deshalb keine Hilfe zustehen würde.

Das muss aufhören. Wir müssen wach werden und unsere Vielfalt wieder schätzen, unsere angeblichen “Schwächen” anerkennen und akzeptieren lernen, solange noch etwas davon übrig ist. Den Wert jedes Menschen anerkennen, ganz unabhängig von dem, was er leisten kann. Unsere Kaufkraft und Stimmkraft dorthin zurückbringen, wo sie diese Vielfalt stützen, und nicht ein paar wenige Konzerne und Großkopferte damit weiterfüttern, bis wir uns selbst in ihrem Sinne abgeschafft haben.

Und das, bevor alles privatisiert ist und Sozialstaat und Solidarität mit einer letzten uneleganten Drehung im Abfluss verschwinden.

Artikel

Corona – sechs .. Bash the bash

Dieser Artikel ist Teil 6 von 18 in der Serie "Corona" ...

Was mir unheimlich gegen den Strich geht – und nicht erst seit heute – ist dieses allgegenwärtige Bashing von allem, was andere machen und du selbst nicht. Was andere haben und du selbst nicht. Was andere leben und du selbst nicht.

(Und ja, mir ist die Ironie des Bashing-Bashens durchaus bewusst, aber das hier muss jetzt endlich mal raus.)

Haus oder Wohnung?
Die während der Ausgangsbeschränkungen in Wohnungen festsaßen, waren es denen neidig, die Haus und Garten besitzen, weil “die können wenigstens raus”. Die mit Haus und Garten konnten nicht nachvollziehen, warum die in der Stadt “unbedingt raus müssen”, oder warum sie um die Schließung der Bundesgärten so ein Theater machen, weil zuhausebleiben für sie ja auch nicht so schlimm ist.

Vieles bleibt in der Phantasie- und Gedankenlosigkeit leider unsichtbar:

* Dass manche in ihrer Wohnung vielleicht ohne Grünblick wohnen oder nordseitig und den ganzen Tag nicht einen einzigen Sonnenstrahl abbekommen. Dass sie keinen Balkon haben, geschweige denn einen privaten Garten oder Feldwege zum Spazierengehen. Dass sie auf öffentlichen Raum und öffentliches Grün angewiesen sind und auch auf die Ruhe dort, weil in vielen Wohnhäusern die Nachbarn ständiger akustischer Teil des eigenen Lebens sind. Dass sie nicht deshalb in der Stadt wohnen, weil sie Grün nicht mögen würden, sondern weil es aus zig Gründen eben die passende Entscheidung war.

* Dass die mit dem Haus oft ein Leben lang sparen und jeden verdienten Euro in die Anschaffung und Erhaltung dieses Hauses und Gartens gesteckt haben, und auch jede freie Minute ins Selbermachen von Dingen, dass manche ein Haus haben, aber keinen Garten – das kann sich wiederum die Wohnungsfraktion in der Stadt nicht vorstellen. Für sie ist das alles eh nur ererbt und in den Schoß gefallen und erhält sich selbst – obwohl sie genau wissen, dass Wohnen niemals gratis ist, sobald man seine Kindheit mal hinter sich hat. Und wenn was nicht in Ordnung ist, sagt man es doch einfach dem Vermieter oder ruft Wiener Wohnen an, und fertig.

Ein Haus ist niemals fertig und bedarf einer Menge Instandhaltung, ständig. Es ist nicht nur viel mehr Fläche sauberzuhalten. Da ist die Dachrinne zu reparieren, sonst wird die Fassade nass und das Wasser spritzt zum Nachbarn rüber. Die Dachschindeln haben Schlupfwinkel, und Siebenschläfer rupfen dann Löcher in die Glaswolle, machen es sich dort bequem und kacken den ganzen Dachboden voll. Der Schnee muss weggeschaufelt werden. Der Sockel ist brüchig und Wasser dringt ins Gemäuer ein, Instabilität und Schimmel drohen. Im Keller sind Mäuse, in der Garage ein Heizkörper undicht. Ein Fenster hat sich ausgehängt. Eine Außenjalousie klemmt. Der Kanalabfluss muss von Blättern befreit werden, bevor es regnet, weil sonst die Garage unter Wasser steht. Ein Wespennest ist direkt vorm Fenster. Der Fußboden am Gang löst sich langsam auf.

Und während man das alles noch nicht erledigt hat, wuchert im ach-so-beneidenswerten Garten alles wie wild, wenn man da nicht sehr viel Arbeit reinsteckt und den Abfall, der dabei in großen Mengen entsteht, regelmäßig entsorgen fährt. Und der Frühling wartet nicht, bis man für das alles mal Zeit hat. Wenn man Gemüse im Garten will oder gar braucht, muss man Gemüse ziehen, Gemüse umpflanzen, Schädlinge bekämpfen, unerwünschte Triebe entfernen, Gemüse an Stangen binden.
Für das alles braucht man Material. Man hat viel im Haus, aber nicht alles, auch aus Kosten- und Platzgründen.

* Manche wohnen gar in einer Wohnung am Land! Die haben auch keinen eigenen Garten und keinen Balkon, zahlen aber genausoviel Miete wie in der Stadt. Dafür haben sie eben einen Spazierweg vor dem Haus, aber keinen Billa. Sie sind auf ein Auto angewiesen und stecken auch da viel Geld rein, um mobil und damit arbeits- und lebensfähig zu bleiben.

Stadt oder Land?
Pendler sind in der Stadt nicht willkommen, allein der ganze Verkehr, sollen doch am Land bleiben (wo es weniger Arbeitsplätze gibt), weil sie hätten ja nicht da hinziehen müssen (wo sie vielleicht schon aufgewachsen sind).

Die stadtflüchtigen Wochenendspazierer sind am Land nicht willkommen, weil da könnt ja jeder kommen und einfach das Grün genießen (das wir für uns gepachtet haben), weil sie hätten ja nicht da hinziehen müssen (wo sie vielleicht schon aufgewachsen sind).

Am Land zu wohnen und wohnen zu bleiben erfordert viel Verzicht und viel Aufwand, den man in der Stadt nicht hat.
In der Stadt zu wohnen erfordert viel Verzicht auf Ruhe und Raum und Grün, den man am Land nicht in Kauf nehmen muss.
Ja, wir könnten alle unsere Situation “halt einfach ändern”, aber sie hat eben auch ihre Gründe. Oder hat deine Situation vielleicht keine?

Kinder oder keine Kinder?
Die, die keine Kinder haben, bashen die, die jetzt mit ihren Kindern 24/7 zurande kommen müssen, seit die Schulen geschlossen sind – weil warum haben sie dann überhaupt Kinder, wenn sie keine Zeit mit ihnen verbringen wollen?
Die, die Kinder haben, bashen die ohne Kinder, weil die ja keine Ahnung haben, was Stress überhaupt bedeutet, und sie ja alle Zukunft der Welt wuppen, während die anderen sich ein schönes Leben machen.

Dass andere vielleicht auch gern Kinder gehabt hätten, aber keine bekommen konnten oder verloren haben; dass sich kein*e geeignete*r Partner*in gefunden hat; dass Krankheit ihnen eine Zukunft mit Kindern verwehrt hat – geschenkt.
Dass nicht alle ihr Wunschkind bekommen haben – sowohl in puncto Anzahl als auch Persönlichkeit, dass Alleinerziehende keine*n Partner*in haben und alles allein schultern müssen – geschenkt.

Selbstständig oder Angestellt?
Dasselbe mit der Arbeitssituation.
Die von daheim arbeiten können, haben keine Vorstellung davon, dass es Arbeiten gibt, die man vor Ort erledigen muss.
Die angestellt sind, haben keine Vorstellung von Unternehmerrisiko oder fehlender Arbeitslosenversicherung. Von der Zeit und der Mühe und der Verantwortung, die Unternehmer in ihre Firma stecken, auch um die Arbeitsplätze genau der Angestellten zu erhalten, die genau diesen Unternehmern jeden Euro neiden, der aus staatlicher wirtschaftlicher Hilfe kommt.
Die Unternehmer haben keine Ahnung mehr, wie es ist, in einer Hierarchie nicht ganz oben zu stehen und sich ausgebeutet zu fühlen, ohne was mitzureden zu haben – obwohl das für viele überhaupt erst der Grund war, sich selbstständig zu machen.

Einfache Hackler glauben, die Unternehmer hättens alle so gut, wären reich und würden vom Finanzamt alles zurückkriegen, was sie ausgeben – weil sie ja “alles absetzen” könnten. Das ist Unsinn. Aber man weiß es eben nicht besser und erzählt einander lieber weiterhin unwahre Geschichten, die in die vorhandene Kerbe schlagen und die Kluft so ständig vertiefen.
“Die anderen habens besser als ich.”

* Dass Unternehmer mitunter Material brauchen, um ihre Aufträge fertigzustellen und überhaupt eine Rechnung legen zu dürfen, mit deren hoffentlicher Bezahlung sie die nächste Kühlschrankfüllung finanzieren, kommt in anderen Lebenssituationen einfach nicht vor, also ist es jenseits aller Vorstellbarkeit.

*Dass man privat vielleicht seit Wochen in einer Baustelle sitzt, seit die Geschäfte schließen mussten, und nichtmal fließendes Wasser hat, oder es durch ein Fenster reinzieht, das nicht mehr fertig eingeschäumt werden konnte, dass ganze Räume nicht benutzbar sind, dass eine halb-umgebaute Küche ohne Herd nicht gerade für Behaglichkeit sorgt während einer Ausgangssperre. Jenseits aller Vorstellbarkeit.

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Und das alles nur, weil man selber eh so bequem zu Hause sitzt und derzeit ja nichts tun muss, wenn man nicht will? Wo man dabei doch so viel Zeit zum ~Nachdenken~ hat?

Gesehen werden
Armutsbetroffene werden nicht gesehen. Wogegen sie zu kämpfen haben, wie schwer es ist, der Armutsfalle wieder zu entkommen, weil man vieles verliert, was für andere ganz selbstverständlich ist. Die Unwissenheit über den Verlust dieser Annehmlichkeiten machts, dass Nichtbetroffene sich nicht vorstellen können, dass gedachte Hilfestellungen aus der eigenen Situation wie Überziehungsrahmen (etc. etc.) einfach nicht dafür sorgen können, dass man “wieder auf die Beine kommen” müsste, weil sie nicht mehr da sind! Könnt ihr euch nicht vorstellen.

Verführerische selektive Wahrnehmung
Aber andere Realitäten werden genausowenig gesehen.
Es wird niemand mehr wirklich gesehen.
Die Nachteile und Schwierigkeiten jeder*s einzelnen werden unter den Teppich gekehrt. Es wird selektiv gesehen, welche Annehmlichkeiten sie oder er hat – und seien sie erfunden, s.o. – und dann wird auf sie eingedroschen – aus Neid auf etwas, das in dieser Form oft gar nicht existiert oder nicht ausschließlich. Und wenn’s eine Armutsbetroffene ist, dann unterstellt man ihr einfach, sie hätte doch ein feines Leben in der sozialen Hängematte und ohne Arbeit. Die Hausbewohner hätten ein feines Leben mit Haus und Garten, was reines Vergnügen bedeutet. Die Wohnungsmenschen hätten ein feines Leben in der üppigen Infrastruktur.

Das beginnt ja schon da, wo die Lebensrealität einer Frau einem Mann nie richtig zugänglich wird, außer er verkleidet sich als eine und lebt ein paar Wochen so. Weil er nie dabei ist, wenn eine Frau allein der übrigen Welt begegnet. Weil seine pure Anwesenheit diese Begegnung verändert. Kann alles nicht sein, weil nicht existiert, was er nicht wahrnimmt? Aber wir sind ja so aufgeklärt!

Man muss anderen auch glauben, was sie erleben.
Oder es sich einfach vorstellen können. Dann muss man auch nicht alles selbst erlebt haben, um Verständnis aufzubringen. Sofern man das eigene hochdramatische Mimimi mal kurz beiseite lässt.

Gerade auf Social Media steht eben nicht die gesamte Lebenssituation in jedem Posting, sondern nur ein Ausschnitt aus dem jeweiligen Denken, das daraus entspringt und darauf gründet! Man darf also dennoch davon ausgehen, dass es diese Lebenssituation gibt, und dass man sie nicht allumfassend kennt, manchmal sogar einfach gar nicht. Es gibt also keinerlei Beurteilungsgrundlage.

Was man einzig beurteilen kann, ist ob jemand seine fehlende Beurteilungsgrundlage wahrnimmt oder nicht.

Und heute früh sehe ich, jetzt wollt ihr die Leute für deppert hinstellen – sie gar “besachwaltern lassen” (srsly?) – die sich heute am ersten Tag der Öffnung bei den Baumärkten anstellen.
Ihr dürft ruhig auch mal davon ausgehen, dass man sich das eher nicht geben wird, wenn man nicht muss.

Was dieses Bashing wirklich aussagt ist:
“Ich hab nicht die geringste Ahnung von der Realität anderer Menschen, und sie interessiert mich auch nicht.” Wie viele von den Schlechtmachern und FürDeppertErklärern wohl die eigenen Annehmlichkeiten schlicht nicht zu schätzen wissen und/oder unter den Tisch fallen lassen, damit sie nicht so ignorant wirken, wie sie eventuell sind?

Bequemer ist: Schuld am eigenen Nichthaben und Nichtsein sind natürlich die anderen, die haben und sind. Man kann einfach irgendwas ~glauben~, was sich grad anbietet. Und wenn diese anderen dann Dinge tun, die man selbst nicht täte, oder wenns ihnen womöglich dreckig geht – dann aber, auf sie mit Häme! “Das habt ihr jetzt von eurem Anderssein, ihr Deppen. Wärt ihr doch so gscheit wie ich, dann hättet ihr euch das erspart.”
Wenn sie schon offen zeigen oder sagen, dass es ihnen dreckig geht, und sie sich damit auch verletzbar machen? Wirklich?

Othering
Es gibt dafür einen Begriff – man nennt es Othering. Das “Andersmachen” von allem Menschlichen, was von der eigenen Wirklichkeit abweicht. Das erklärte Endziel von Othering ist übrigens, feindliche Lager zu schaffen, die “Einen” (die Guten natürlich!) über “die Anderen” zu erhöhen, was ein wenig künstlichen Selbstwert stiften soll – und letztlich alle Empathie zu töten. Denn wer anders ist, kann nicht dazugehören und muss daher ausgeschlossen und letztlich auch ausgerottet werden.
Und das geht nur ohne Empathie und mit deutlicher Erhöhung der Einen gegen die Anderen.
Und das wollt ihr wirklich mitspielen? Es beginnt im Kleinen und wird dort etabliert, jeden Tag.

Phantasielosigkeit und Gedankenlosigkeit, Ungerührtheit, Ignoranz, Unkenntnis – und Unkenntnis über diese Unkenntnis. Keine gute Kombination. Aufwachen!

Vielfalt!
Wenn alle so wären wie du, nur damit du sie besser verstehen kannst, dann würden alle DEINEN Job wollen, und du würdest keinen mehr kriegen. Alle würden DEINE Wohnung wollen und die Miete wäre doppelt so hoch. Alle würden das kaufen wollen, was DU kaufen willst, und es wäre teurer oder nicht mehr erhältlich. Alles andere, was die Welt jetzt noch bunt und lebendig macht, würde im Desinteresse eingehen und verschwinden.

Wenn keiner mehr am Land leben würde, müssten alle in die Stadt ziehen. Es wäre voller, lauter, die Mieten wären noch höher, die Öffis wären überlastet, der Verkehr unerträglich. Verbindungen nach draußen gäbe es nicht mehr – wozu Infrastruktur, wenn da keiner mehr wohnt?

Wären alle Angestellte und Arbeiter, gäbs niemanden mehr, der das Risiko eines Unternehmertums auf sich nähme, und damit keine Arbeitsplätze mehr, für niemanden. Wären alle Unternehmer, könnte niemand die Sicherheit eines Arbeitsplatzes samt der zugehörigen festen Zeiten und arbeitsrechtlichen Absicherungen genießen. Nun, das Verständnis würde eventuell steigen. Die Konkurrenz aber auch!

Augen auf
Lasst euch doch nicht vom täglichen Othering der populistischen Extremisten und den wiederkäuenden Medien diese hirnrissige Schwarzweißsicht der Welt aufdrängen und einimpfen, in der alles schwarz sein muss, was nicht weiß ist – wo ihr doch genau und besser wisst, wie bunt die Welt ist!
Lasst euch doch nicht ständig gegeneinander aufbringen! Wofür denn? Mit welchem Ziel? Eine Einheitlichkeit, die niemandem was bringen würde und für niemanden wünschenswert ist? Alles, was an euch selbst bunt und anders ist, würde dem zum Opfer fallen.

Es gibt auch noch andere Denkweisen, freundlich changierendes Buntstufen-Gewaber.
Verständnis entsteht, wenn man sich für die Lebensrealitäten anderer interessiert, ohne sie vorzuverurteilen, nur weil man auf das erste “Hä?” reinfällt, das die fremdenängstliche Ecke des Urwaldgehirns ausspuckt.
Idealerweise beruht das Interesse auf Gegenseitigkeit. Jemand muss damit anfangen. Du kannst kein Verständnis erwarten, wenn du selbst keines aufbringst. Wir sind nicht im Kindergarten.

Wenn du also nächstens Aversionen verspüren solltest gegenüber irgendjemandem mit einer anderen Lebensrealität als du – versuch es als Zeichen dafür zu sehen, dass du zu wenig darüber wissen könntest. Statt dafür, dass die anderen fix deppert sein müssen, weil du es nicht nachvollziehen kannst.

Du willst was Besonderes sein? Dann lass die anderen auch besonders und anders sein, und akzeptier sie, so wie du akzeptiert werden willst. Es gibt immer eine zweite Seite – oder meistens sogar noch mehr.
Innehalten. Nachfragen. Informieren. Interesse!
Solange du diese Seiten nicht entdeckt hast – weitersuchen. Dann erst schimpfen oder schadenfroh jubilieren.
Falls es dann noch angebracht scheint.

Artikel

Resonanz

Ergänzend zum vorigen Artikel möchte ich hier ein Thema und einen Podcast empfehlen.

Zur Resonanz kommt es, wenn wir uns auf Fremdes, Irritierendes einlassen, auf all das, was sich außerhalb unserer kontrollierenden Reichweite befindet. Resonanz erfordert den Mut zur Verletzbarkeit. (Hartmut Rosa)

In unserer “Welt in Reichweite”, in der alles auf Knopfdruck funktionieren muss, geliefert werden muss, alles immer prompter verfügbar gemacht wird und sein muss, entwickeln wir auch einen dazupassenden, recht aggressiven Anspruch auf Sofort, Gezielt und Wie-Gewünscht – und damit auch auf Geplant. Verfügbarmachung, die sich auf alle Lebensbereiche erstreckt. Wir verplanen uns damit auch selbst.

Wir sind weniger offen für das und erleben immer weniger von dem, was uns doch die Welt um uns in der lebendigsten Art spüren lässt: die spontanen Geschenke des Lebens, die wir nicht bestellt haben – und die sich auch nicht bestellen lassen: Eine Begegnung in der Natur. Ein freundlicher Blick. Oder auch eine überraschende Eingebung. Das, was passieren muss, damit die erwähnte Resonanz entsteht. Eine Resonanz in unseren tiefsten inneren Schichten, nach der sich wohl viele sehen, die Konsum aber nicht erzeugen kann. Seelen-Nahrung!

Dafür braucht man nicht nur die nötige Aufmerksamkeit und Geduld, und ein etwas demütigeres Mindset als für die mittlerweile entstandene erpichte Attitüde “sofortige Verfügbarkeit”. Sondern auch offene Zeit, die nicht bereits durch Vorausgeplantes, Vorbestelltes belegt ist. Die Bereitschaft, Zeit und Welt auf sich zukommen und wirken zu lassen – und sich darauf einzulassen. Manche brauchen mittlerweile sogar jemanden, der sie dorthin mitnimmt, weil sie selbst gar keinen Zugang mehr haben.

Mit unserer Verfügbarmachung der Welt geht uns also unsere eigene Fähigkeit flöten, für diesen Zustand, für das Geschehenlassen dieser Resonanz verfügbar (ha!) zu sein.

Die sehr anregenden und weitreichenden Überlegungen dazu hat Alexandra Tabor in diesem Podcast wunderbar ausgebreitet:
“In trockenen Büchern – Unverfügbarkeit” – anhand des Essays “Unverfügbarkeit” von Hartmut Rosa.

Alexandra Tabor sagt in diesem Podcast:

… dass sich durch die neuen Möglichkeiten des Verfügbarmachens unsere Haltung, unsere Beziehung zur Welt stark verändert hat. Es macht einen Unterschied, ob ich alles, was nicht in den Plan oder ins gesellschaftlich erwünschte Schema passt, sofort beseitigen will, oder ob ich versuche, auf etwas, das sich querstellt, zu hören und zu antworten.

Um nun diesen roten Faden mit meinem vorigen Artikel zu verknüpfen:
Die beschriebene Attitüde – die Veränderung des Selbst durch die Anziehungskraft der allzu konsum- und planungsfreudigen Gegenwart – zieht uns nach außerhalb von uns selbst, und sie suggeriert uns obendrein durch ihre sexy Verfügbarkeit auch den leichteren Zugang. Leichteren Zugang als zu uns selbst. Es findet eine Entfremdung von uns selbst statt.
Dazu passt auch der selbst-entfremdende Impuls, Gefühle wegzuschieben und sich nichtmal mehr auf das, was in uns selbst vorgeht, spontan einlassen zu können und zu wollen – selbst wenn uns das so viel weiter bringen könnte als der nächste “Jetzt bestellen”-Button.

Auch unsere Toleranz für Widersprüchlichkeit und Mehrdeutigkeit, für Ungewissheit und Unplanbarkeit geht dadurch verloren. Ambiguitätstoleranz ist aber nicht nur ein wichtiger Skill für ein zufriedenes Leben, sondern auch für das Fortbestehen einer toleranten und freien Gesellschaft.

Artikel

Das tut nix, es ist nur ein Gefühl!

Sinnvolles Bewältigen von großen, schwierigen Gefühlen ist, sie wahrzunehmen, bei ihnen zu sein, sie zu spüren, zu trösten, zu umarmen, zu akzeptieren, sie nicht alleinzulassen.

Und damit auch: sich selbst nicht alleinzulassen. Eines der schlimmsten Gefühle ist es, sich alleingelassen zu fühlen. Dennoch tun wir uns das selbst immer wieder an – wir verlassen uns selbst, um uns nicht spüren zu müssen.

Dagegen:
Reinspüren. Aufspüren. “Ich hör dich. Ich seh dich. Ich bin da. Ich bleibe da, auch wenn’s schwierig wird. Es ist okay. Woher kommst du? Seit wann bist du da? Was willst du mir erzählen?”
Dortbleiben. Seine eigene Beschwichtigerin, Trösterin, Mama sein.
Zuhören. Fokussiert. Zugewandt. Erzählen lassen.
Erkunden, mit welchen Körpergefühlen das Gefühl zusammenhängt.
Tränen zulassen, wenn sie kommen. So lange, bis das Gefühl angenommen ist.
Dann aufatmen.
Reflektiertes Bewältigen, und es immer wieder zu tun, bedeutet, sich zu akzeptieren.
Sich selbst auszuhalten. Sich selbst lieb zu haben.

Dagegen ist sofort ausagieren, wüten, Schuld zuweisen müssen keine Bewältigung, sondern Verdrängung.
Dass andere Menschen das nicht gutheißen werden, versteht sich eigentlich von selbst. Vor allem solche, die für sich selbst und ihre Gefühlswelt bereits die Verantwortung übernommen haben. Und die andere für unreflektierte Affekte verantwortlich machen werden.

Wozu Gefühle bewältigen?
❥ Um die eigenen Gefühle zuzuordnen, zu benennen, aushaltbar zu machen, wiederzuerkennen.
❥ Um mit sich eine Verbindung einzugehen und verbunden zu bleiben, egal, was außen passiert.
❥ Um Blockaden zu lösen und sich weiterzubewegen, emotional und körperlich.
❥ Merken, wann man Ruhe braucht, bevor es zum Overload kommt. Spüren, wann man mit seinem Gefühl genug bei den anderen war und wieder zu sich selbst und seinen Quellen zurückmuss, um Energie zu tanken und alles in Ruhe einzuordnen. (Auch und gerade für Hochsensible)
❥ Um sich weniger alleingelassen zu fühlen, denn dieses Gefühl wird man so lange im Außen wiederfinden, wie man es innerlich mit sich herumträgt.
❥ Um nicht dem Auslöser die Schuld zuzuschieben, weil er jedesmal wieder mit dem wahren Ursprung verwechselt wird.

Manche glauben ja, mit dem Wissen um eine alte Verletzung wäre sie auch gleich gelöst. Aber da beginnt die Arbeit erst. Sich selbst und seine Gefühle zu kennen bedeutet freilich auch, leichteren Zugang zu sich zu finden, neue Situationen schneller einordnen zu können. Denn unsere Gefühle sind ein Fortsetzungsroman.

Es gibt für schwierige Gefühle keine Umleitung über den Intellekt. Nur wer die Gefühle der ersten Folge in sich kennt, bewältigt sie auch bei der Fortsetzung leichter. Und muss sich nicht im neuen Anlassfall mit einer ganzen Domino-Kaskade an älteren Gefühlen und Auslösern herumschlagen, die, angestoßen von einem neuen Auslöser, zusätzlich über ihn hereinbricht.

Leider wird den wenigsten von uns zeitgerecht beigebracht, wie das geht – bei sich sein. Für sich verantwortlich sein. Negative Gefühle okay finden, aushalten, bewältigen.
Gefühlsabwehr ist die unwürdige, aber am meisten verbreitete Ersatzstrategie. Panisches Wegschieben jedes Unwohlfühlens und schwerpunktmäßige Übertünchung der dunklen Farbe. Etwa mit rosaroter Feelgood-Ablenkung: Wellness, Alkohol, Serien und Schoki. Oder mit Aggression, Frustration, Schuldzuweisung, Drama, Rache. Oder Rückzug, Schlaf, Depri oder Selbstmitleid.
Die dunkle Farbe kommt aber wieder durch. Die Mauer an unbewältigtem Gefühl wird immer dünkler.

Dem modernen Imperativ der Masse nachzugeben, etwas zu erleben, den Tag zu nutzen oder auch etwas zu leisten, ist eine artverwandte und gern genommene Ausweichroute an Gefühlen vorbei – aber selten gleichbedeutend mit “mir selbst gut tun”. Man nimmt damit nur das enthaltene, verführerische Angebot an: “Solange ich das mache, muss ich nicht dort hinschauen, wo es wehtut”. Und: “Wenn ich fertig bin, ist es vielleicht weg.”

ES ist nie weg. ES löst sich nicht einfach auf. Es zieht in die Mauer ein, lässt darin die dunklen Stellen weiter anwachsen, und beeinträchtigt so allmählich die Stabilität. Bis die Mauer kollabiert.

Viele haben Panik vor schwierigen Gefühlen oder finden’s gar gefährlich, etwas zu spüren, weil sie meinen, dass ihr Verstand dann die Kontrolle verlieren könnte. Sie müssen das Gefühl umgehend verscheuchen, irgendwie agieren, andere mit hineinziehen oder auf sie projizieren – Hauptsache ganz schnell wieder super fühlen, zurück zur gesellschaftlich oktroyierten Default-Einstellung “Happy”, ohne Rücksicht auf Verluste. Und sie empfehlen dieses Vorgehen auch anderen, wollen mit deren Gefühlen nicht in Berührung kommen, weil sie dabei erst recht wieder ihre eigenen spüren müssten.

Dabei geht im “besten” Fall nur die Verbindung zu sich selbst flöten, im schlechtesten geht auch im Außen viel kaputt. Weil wir auch nicht mit-fühlen können, wenn wir uns selbst nicht spüren.

Auch „Mein Geist ist stets Herr über meine Emotionen“ ist ein nachvollziehbarer Wunsch, aber eben nur Wunschdenken. Je weniger Verbindung zum eigenen Gefühl, desto weniger bewusst sind uns die Auslöser des eigenen Handelns. Dabei entsteht leicht die Illusion, alles unter Kontrolle zu haben. Eine Zeit lang. Und währenddessen suchen wir weiter im Außen, woran es uns innen mangelt: Verständnis. Verbindung. Bedingungslosigkeit. Resonanz.

Es ist aber nicht die Aufgabe der anderen, unsere Gefühle für uns zu bewältigen oder jedes unreflektiert ausagierte Gefühl bedingungslos zu akzeptieren. Wer das glaubt, hat Liebe missverstanden.

Manche finden wohl auch, man wäre leichter manipulierbar, wenn man “zu viel spürt”. Doch die wahre Gefahr ist es, sich nicht zu spüren. Seine Empfindungen nicht zu kennen. Die klare Verbindung zu sich selbst, den Kontakt zu seinen Gefühlen nicht zu haben. Denn sie warnen vor Manipulation.

Etwas zu spüren ist noch keine Handlung. Es ist erstmal nur ein Gefühl. Eine Wahrnehmung, die unsere anderen komplettiert. Warum sollte man freiwillig auf einen Teil seiner Wahrnehmung verzichten? Wir verleugnen ja auch nicht unsere Nase, nur weil sie nicht immer nur Blütenduft meldet. Beide liefern uns wichtige Informationen darüber, was okay ist und was toxisch sein könnte.

Gefühle arbeiten auch mit kritischem Denken sehr gut Hand in Hand – und nicht etwa dagegen. Der Verstand darf dann im notwendigen Bias-Check die Gefühle auf Wahrnehmungsfehler abklopfen.

Wer hingegen gewohnheitsmäßig jedes ungute Gefühl sofort wegschiebt, tut sich auch schwer wahrzunehmen, wenn etwas nicht stimmt.

Auch Mitgefühl zu haben und zu zeigen ist nicht gleich Mit-Leid, und schon gar nicht (unverdiente, erschlichene) Zuwendung. Es ist nicht nötig, sich zu jeder Angelegenheit oder zu jedem Menschen und seiner Situation rigoros auf Schwarz oder Weiß zu positionieren. Man kann Nuancen von Grau und Bunt wahrnehmen dürfen, und bei jemandem sein, der etwas Schwieriges spürt, und dennoch bei sich selbst bleiben.

Gewohnheitsmäßige Gefühlsabwehr ist auch deshalb gefährlich, weil Verdrängung nicht ewig funktioniert. Wir laufen doch vor Gefühlen weg, weil wir spüren, wie stark ihre Energien sind. Und wir wissen genau, dass unterdrückte Energien sich immer ihren Weg bahnen werden – je stärker und je länger unterdrückt, umso heftiger. Letztlich bekommt man alles auf einmal zu spüren, seelisch und auch als körperliche Manifestationen – dann aber schwerer bewältigbar.
Oder gar nicht.

Wer sich selbst aushält, für sich verantwortlich ist und mit sich verbunden bleibt, kann sich auch mit anderen verbinden, dauerhaft, beiderseits zuträglich, fair und ohne Zuweisung unangemessener Verantwortlichkeit oder Schuld für schwierige Gefühle.
Und das ist es doch, was unser Leben mit Sinn erfüllt, und was die meisten von uns ihr Leben lang suchen, erhoffen und ersehnen – eine echte, wunderbare, tiefe Verbindung zu anderen Menschen.

Um für andere aushaltbar zu sein, darf man seine Gefühle nicht ausschließen. Ja, es erfordert großen Mut, sich ihnen zu stellen, bei ihnen zu bleiben und sie zu bewältigen. Auch das wissen alle, denn sonst würden nicht so viele davor wegrennen.
Ironisch ist, dass sich dennoch hartnäckig der Irrglaube hält, Gefühle zu haben wäre gleichbedeutend mit Schwäche. Etwas, das so großen Mut erfordert, kann gar keine Schwäche sein.

Man kann so eine Bewältigung mit sich allein machen oder mit professioneller Begleitung. Letzteres ist vor allem ratsam, wenn man dazu neigt, von schwierigen Gefühlen überwältigt zu werden, oder auch Gefühle im Verstand zu analysieren statt sie zu spüren, und das für Bewältigung zu halten.
Damit ist nicht gemeint, dass Analysen wertlos wären. Man kann auch dabei etwas lernen. Aber rationale Gefühlsanalysen sind keine wahrgenommenen Gefühle. Es ist nur eine weitere Art, seinen Gefühlen auszuweichen.

Auch um es zu erlernen und dabeizubleiben, kann Begleitung helfen. Mitgefühl zu bekommen ist natürlich wichtig, Trost von außen heilsam und manchmal in akuten Situationen auch unersetzlich. Letztlich ist aber das Ziel, sich auch selbst diese Begleitung zu werden und sein zu können.

Wichtig ist: Machen! Spüren. Mit sich verbunden sein.
Entspannter sein. Grenzen neu setzen. Besser leben. :)
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~ Für J. und alle, die es gerade brauchen können.
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~ Siehe dazu auch meinen nächsten Eintrag “Resonanz” – mit Podcast-Empfehlung!
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~ Oder auch meinen Artikel darüber, Was das Patriarchat mit den Männern macht.

Artikel

Der Feminist, das unbekannte Wesen

Zur Spiegel-Kolumne “Wie kann ich als Mann Feminist sein?” von Margarete Stokowski möchte ich ein paar Punkte hinzufügen.

(Via Twitter gefunden -> Hier hab ich Platz, hier darf ich schreibm. :)

Zur Frage “Warum sollte ich überhaupt einer sein wollen?” eine provokative Überlegung retour: “Die wollen mir doch meine Rechte als Mann wegnehmen!”
-> Hm, bedeutet das nicht auch: “Fairness ist mir unwichtig, solange ich meine Rechte behalte”? Zu welcher Art Mensch würde Sie so ein Gedanke machen? Aus meiner Sicht jedenfalls zu einem, der sich, wenns mal in die andere Richtung unfair wird, auch nicht beschweren dürfte.
Ernsthaft, ich hab dazu schon so viel in der Schublade, hadere aber leider wie so oft mit mir wegen der Länge, in die ich so gerne gehe – und das nur, um in meinen eigenen Worten große Hintergründe zu beleuchten, die jede:r ernsthaft Interessierte mittlerweile genausogut oder besser anderswo nachlesen kann. Unter anderem in den Artikeln, die in der oben zitierten Kolumne verlinkt sind – darum: Lesebefehl auch für diese Artikel.
Ganz unten beleuchte ich aber noch ein paar Quadratzentimeter der Bestrebungen von Feminismus, und dass da auch Männerrechte ein großes Thema sind (woah!).

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