In einer globalisierten Welt die Probleme, die alle Menschen betreffen, auch gemeinsam lösen – ja, das wärs. Das würde aber voraussetzen, dass das Entstehen eines vollen Bewusstseins über ein gemeinsames Problem überhaupt offiziell gestattet wird. Das ist nur so halb der Fall. Machenschaften sind ja auch nur so lange rentabel, wie es höchstens halb-offensichtlich bleibt, auf wessen Kosten hier gewirtschaftet wird.
Da ist es für den mülltrennensollenden Durchschnittswestler naheliegend, bei globalen Zusammenhängen von sich wegzuzeigen: “Das ist doch alles nicht auf meinem Mist gewachsen, bei irgendeiner Kolonialisierung war ich persönlich doch gar nicht dabei, und dass unser Lebensstil hier auf Kosten irgendwelcher Dritteweltländer geht, wusste ich ja nichtmal richtig. Ich hätte das auch nicht so entschieden, aber mich hat ja niemand gefragt.”
In einer benachbarten neuronalen Region ist vielleicht fehl-verankert, dass wir Anspruch auf unsere Demokratie hätten und andere Bestrebungen gar nicht möglich wären. Schemenhaft ist bewusst, dass unser Wohlstand einen Preis hatte, den wir nicht nur ganz allein berappt haben. Bei wem konkret man in der Schuld stünde, bleibt aber angenehm unklar.
Den (paar) Damen und Herren in Machtpositionen sind die globalen Zusammenhänge wohl weitaus konkreter präsent. Diese dürfen aber nicht vollständig an die globale Bewusstseinsoberfläche dringen, am besten nichtmal an die des einzelnen Machthabers. Sonst würden sofort toxische Mengen an Schuldgefühlen wirksam. Und wer wollte da schon hinschauen? Mitverdeckt bleibt dann bequemerweise auch, wie profitabel diese Zusammenhänge für den einzelnen jeweils tatsächlich waren und sind.
Erzwungenes Wegschauen, daraus entstehen umgedeutete und verdrehte Tatsachen, dass einem sehr täglich sehr blümerant wird. Auf Neudeutsch heißt das dann “Reframing” – das mehr oder weniger elegante unterm-Arsch-Wegziehen des kontextuellen Bezugsrahmens. Zur Vertuschung wahrer Absichten und Verwirrung des Gegenübers. Ein krankhaftes Symptom, für den politischen Alltag legitimiert von sogenannten Strategen. Wir erleben das regelmäßig in der Tagespolitik. Wann war da zuletzt irgendwer für irgendwas voll verantwortlich? Wann hat jemals jemand einen Fehler einfach zugegeben und sich ehrlich entschuldigt? Paradoxe Szenarien, in denen uns kontinentale Vernetzungen aufgetischt werden von Leuten, die jede echte Vernetzungsidee grundlegend ablehnen. Und die glauben, Solidarität wäre, wenn es gemeinsam gegen einen Schwächeren geht.
Einzelfälle ohne Aussagekraft, Einzelschicksale ohne gewollte Grausamkeit.
Der Knoten im Magen lässt sich da vor der nächsten Verdrehung gar nicht mehr richtig auflösen. In einer zwischenmenschlichen Beziehung würde jeder feinfühlige Mensch solche Strategien ablehnen, beim Namen nennen und sich zurückziehen, bevor er unter einem Mangel an Kompromissen auf der Strecke zu bleiben droht.
Für Machtpositionen hingegen braucht es einzelne Personen, die an ihre eigene Grandiosität glauben und ohnehin hobbymäßig Allmachtsphantasien spinnen. Die sich für exquisit und überlegen halten und das anhaltend von außen bestätigt bekommen müssen. Zu viele Fehlzündungen in der autonomen Selbstwertregulierung. Für das Bestehen und Gewinnen eines Wahlkampfes sind das ideale Voraussetzungen!
Wenn dann noch ein paar weitere narzisstische Persönlichkeitsmerkmale mitspielen in der nationalen oder globalen Beziehung, wird daraus eine, in der:
Partner abgewertet werden.
Brauchbare Strategie zur weiteren Selbstwerterhöhung. Zynismus und verbale Aggression sind an der Tagesordnung, eigens dafür erfundene Schlag-Worte werden einprägsam von allen wiederholt – ob empört oder fasziniert ist egal, Hauptsache wiederholt. Privilegierte Gruppen werden weiter erhöht, unterprivilegierte dorthin zurückgedrängt, wo sie seit jeher hingehören, an den Herd, in die Versenkung, ins Ausland. Zurückrudern in die Vergangenheit.
Anspruchsdenken herrscht.
Aus einem Lebensstil, der zur lieben Gewohnheit geworden ist, leiten wir einen künftigen Anspruch ab und verteidigen ihn, als hätten wir ihn uns eigenverantwortlich verdient, während wir gleichzeitig denken, was interessiert mich, woher die Möglichkeit dazu einst gekommen ist? (Wir bemerken, die Eigenverantwortung hat da nur ganz kurz vorbeigeschaut, so lange, wie es nötig war, den Anspruch zu berechtigen.)
Ein Mädchen, das in der dritten Welt einen Kanister Wasser sehr weit und lange trägt, hat auch den ganzen Tag schwer gearbeitet, aber damit doch noch lange keinen Wohlstand verdient! Ich bin 40 Jahre ins Büro gegangen, he. Wir haben richtig gewirtschaftet, wir haben was aufgebaut, wir haben Gewinne und ein Pensionssystem. Der soziale Futternapf gehört daher unseren Leuten, wir wollen doch nicht deren Probleme importieren, bittschön.
Anspruchsdenken dient der Gewissensberuhigung bei der Benachteiligung anderer.
Mitgefühl fehlt.
Was ich selbst nicht am eigenen Leib erfahren habe, ist mir auch nicht zugänglich, sorry. Und da mir meine eigenen Empfindungen generell nicht sehr nahe sind, ist das mit dem Mitgefühl so eine Sache. Wenn ihr euch die Miete nicht leisten könnt, kauft euch ein Haus. Wenn ihr bei 12 Stunden Arbeitszeit keinen Kinderbetreuungsplatz kriegt, nehmt den Privatkindergarten. Wenn ihr nicht enteignet und abgeschoben werden wollt, wenn ihr nicht ersaufen wollt – dann bleibt halt daheim! Wo ist das Problem? Sollen sie doch Kuchen essen!
Ausbeutung und Missbrauch an der Tagesordnung sind.
Anspruchsdenken und Mitleidlosigkeit führen direkt hierher. Wer für sich mehr fordert, als ihm zusteht, tut das immer auf Kosten anderer. Umso mehr, als er an seiner Macht weiterhin mit aller menschlichen Nötigkeit hängen muss. Macht ist geil, Mitgefühl beurlaubt, da könnte ich doch ein paar Menschen abschieben, die grad nicht damit rechnen, so als kleines Geburtstagsgeschenk an mich selbst. Alles Gute!
Reaktionsheischendes Verhalten, das darauf abzielt, im Empfänger Emotion auszulösen, egal ob positiv oder negativ, die den Mangel an eigener Empfindung irgendwie kompensieren soll. Diese Reaktion dann den Reagierenden wahlweise als “zu empfindlich” vorwerfen, “zu weltfremd” oder “zu mitgefühlsbetont”, der “Gutmensch” als Schimpfwort, Menschlichkeit zur Psychose degradiert, als würden barmherzige Empfindungen und Denkvermögen einander von vornherein ausschließen. Und als würde deren nach Aufmerksamkeit lechzendes Verhalten jede einzelne Überschreitung aller Grenzen von Anstand, Redlichkeit und Gewaltfreiheit rechtfertigen. Sich aber gleichzeitig auf irgendwelche “Werte” berufen. Sich am Ende als das Opfer von Hetze wähnen, wenn nicht sogar alle Nonnen im Land diese Überschreitung schweigend hinnehmen.
Wie doppelzüngig. Und da soll’s einem als anständigen Menschen nicht die Sicherungen durchhauen?
Verantwortung abgelehnt wird.
Das ergibt sich geradezu zwangsläufig aus allem anderen, sonst würde diese Strategie gar nicht funktionieren. Ein Dauer-Engagement in der geliebten Opferrolle, bis zur ersehnten, hochdotierten Pensionierung hinter einer sehr undurchsichtigen Gartenhecke.
Es entsteht eine Beziehung, in der eine Seite peinlichst darauf bedacht ist, unangreifbar zu bleiben, gut dazustehen, die Verantwortung nicht übernehmen zu müssen, während sie selbst den größten persönlichen Nutzen daraus zieht – in der Personen-Politik genau wie in der nationalen und der internationalen, im kleinen wie im großen Kontext. Die anderen sind schuld! Abgrenzen. Die und wir. Wegschauen, negieren, auf vermeintlich naturgegebene Ansprüche pochen und alle Impulse unterdrücken, die sich gegen all das wehren, innen und außen. Durchziehen und durchgreifen, arrogante, unerbittliche Kaltblütigkeit hinter Scheuklappen. Dann demonstrieren da halt ein paar, na und? Man kann’s nicht jedem rechtmachen, gell, haha, Prost!
Vorbildfunktion dürfte das theoretisch nicht haben, praktisch werden manche Anschauungen sogar unbesehen übernommen, schließlich scheinen sie zu Erfolg und Macht zu führen. Wer das ausbadet, sehen wir noch nicht. Empathischere Bürger leiden unter dem mitleidlosen Egoismus, wissen sich aber auch nicht zu helfen, funktioniert doch ihr von Rücksicht geprägter way of life auch nur in sehr engen Kreisen. Doch selbst wenn sie jeglichen kapitalistischen Lebensstil hingeben wollten für mehr Mitgefühl, bliebe solch Einzel-Aktionismus im globalnarzisstisch geführten Diskurs völlig ungesehen. Entscheidender ist doch, dass auch die Empathen bald irgendwie das Gefühl kriegen, es sei ja auch zu ihrem Besten. Man kämpfe ja auch und gerade für jene, die sich weniger wehren können, für unser aller Sicherheit, für “unsere” “Werte”!
Und auf der anderen Mittelmeerseite der globalen Ungleichung, welches Gefühl entsteht da? “Die ganzen Jahre war ich dir als “Freund” gut genug, aber dann, als es mir scheiße ging, hast du mich nicht reingelassen!” Ist das die Beziehung, die wir weiterführen wollen? Welche Ressentiments, welcher Backfire wird uns daraus in Zukunft noch entgegenschlagen? Hat sich das jemand überlegt? Wichtig scheint vielmehr zu sein, was uns im Moment noch zum Vorteil gereicht. Auf den egoistischen Positionen so lange zu verharren, wie es irgend geht. Die Strategie strapazieren bis zu einem Zerreißpunkt, an dem dann alles den Bach runtergehen muss.
Vorbeugen, vorausdenken, umsichtig taktieren, nachgeben – Fehlanzeige. Me, me, me – now, now, now.
In der narzisstischen Scheinwelt wird eine geraubte Kindheit nachgeholt, frei von Schuld und Verantwortung. Da fehlen ein paar wesentliche Upgrades auf Erwachsener 1.0. Den Blick abgewendet von der eigenen Verletzlichkeit, an eine Rettung in der Zukunft glaubend, in der die Unbesiegbarkeit, ja, die Unsterblichkeit doch noch für uns alle wahr wird! Bis dahin führt der Weg über eingeschränkte Reflexion und fehlendes Mitgefühl zu panischer Angst vor dem Beweis des Gegenteils, vor einem “Aufgeblatteltwerden” und somit Einsturz des fragilen Trugbilds. Da hilft nur wegschauen, wegschauen, wegschauen. Das jeweilige Gegenüber in eine erfundene Wirklichkeit hüllen. Und ihm jedes bisschen Macht möglichst abknöpfen. Je weniger Macht du hast, umso weniger kannst du an meinem wackligen Gebilde rütteln.
Doch kein Staat kann es sich wohl leisten, Verletzlichkeit dauerhaft und offen zu präsentieren. Und damit findet das Töpfchen sein Deckelchen. Staatsmänner und -innen beherrschen die Strategie der Wahl bereits. Toxische Menschlichkeit als globale, kurzsichtige Abwertungs-, Ausbeutungs-, Egoismus- und Kriegsseuche im Spiel um die finanziellen Vorteile auf der Welt. Die alles mit sich reißt. Für ein paar persönliche, punktuelle Jahrzehnte schamlosen Wohlstands. Des hamma uns verdient.
Viel zu viele unreife Menschen in Machtpositionen gebären nationale Positionen. Im globalen Zusammenhang ist das fatal für alle. Nicht schuldig, nicht beschämt, nicht verantwortlich. Das ist unsere infantile globale Position.
Wir sind nicht unverletzbar, nicht als einzelne Menschen, nicht als Familie, Dorf, Staat, Staatengemeinschaft. Wir können auch mit noch so viel Macht diese Verletzbarkeit nicht wegzaubern.
Wir können sie nur akzeptieren und uns danach verhalten. Demut, Mitgefühl und Fairness würden auf solchem Boden vielleicht auf natürlichem Wege gedeihen. Dann ensteht Verantwortungsgefühl für unsere Geschichte, die Gegenwart und die Zukunft.
Es ist wie in einer guten Beziehung: Wir lösen Probleme dann gemeinsam, wenn wir sie als gemeinsame Probleme begreifen und uns fragen, aus welchen Kompromissen eine mögliche Lösung bestehen kann. Wer von seiner Position keinen Millimeter abrücken will, auf eigene Unschuld beharrt oder darüber streitet, wer schuld ist oder wer angefangen hat, bleibt im Problem gefangen und wird mit ihm untergehen.
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Sehet auch die Kolumne von Sybille Berg im Spiegel Online, Das sinkende Schiff.