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Die güldenen Regeln für das geziemende Verhalten bei Seminaren
Tips für zu Hause: Frühstücken Sie ausgiebig! Wenn Ihre Konstitution es zulässt, am besten rohe Zwiebeln – Ihrem späteren Sitznachbarn zuliebe.
Wählen Sie Sie diejenige Ihrer Jacken, die am stärksten raschelt, auch im Sommer.
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Langen Sie beim Kaffeeangebot vor dem Seminar doch ordentlich zu! Fühlen Sie sich einfach wie im Büro. Für den geübten Koffeinjunkie sind zwei, drei Tassen Kaffee in den zehn Minuten vor Seminarbeginn leicht zu schaffen.
Geht dabei die Milch in jenem Kännchen zur Neige, das sich auf Ihrem Stehpult befindet, dann laufen Sie nacheinander zu all den anderen Stehpulten und gucken in die dortigen Kännchen hinein. Die während dieser Jagd gewonnenen Erkenntnisse über den Füllstand sind dabei stets den am eigenen Tisch verbliebenen Kollegen lautstark kundzutun.
Nehmen Sie Ihre Jacke mit in den Seminarraum und hängen Sie sie dort über die Stuhllehne neben Ihnen.
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Wenn der Vortrag begonnen hat, betrachten Sie den Seminarleiter als ihren persönlichen Gesprächspartner – auch wenn 75 andere Teilnehmer mit Ihnen im Raum sind. Nach jedem Halbsatz des Seminarleiters von Ihnen einzuwerfende Aufmerksamkeitsbeweise wie mhm, aha, interessant gewährleisten den reibungslosen Ablauf des Seminars, freuen Ihren Tischnachbarn und steigern die Motivation des Seminarleiters ungemein.
Lassen Sie sich nicht davon beirren, dass andere Teilnehmer solches nicht tun. Nicht jeder ist ein so aufmerksamer Zuhörer wie Sie!
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Auf jedem Seminartisch für zwei Personen stehen zwei Trinkgläser sowie drei kleine Getränkefläschchen zur Verfügung. Öffnen Sie mindestens zwei davon, und beanspruchen Sie diese für sich allein, allenfalls indem Sie sie mit beiden Armen beschützen.
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Wenn in der Kaffeepause auch ein Buffet angeboten wird, zögern Sie nicht, sich Zugang dazu zu verschaffen, notfalls unter Einsatz Ihrer Ellbogen – auch wenn Sie gar nicht hungrig sind. Es werden daselbst nämlich Leckereien dargereicht, von denen Sie sonst nicht einmal zu träumen wagen, etwa Schokoladecroissants, Äpfel oder gar Südfrüchte – und das umsonst! Es ist aber nie genug für alle da.
Kosten Sie sich also durch, und lassen Sie sich Ihren Platz nicht streitig machen! Angebissenes, das Ihnen nicht schmeckt, können Sie bedenkenlos zurücklegen.
Werden Erdbeeren außerhalb der Saison angeboten, die auf mehrere Obstschalen verteilt sind, suchen Sie alle vorhandenen und laden Sie diese auf Ihren Teller. Auch Melonenscheiben (orange) oder Ananasstücke (gelb) sind von exquisitem Geschmack, aber seien Sie schnell, denn erfahrungsgemäß wissen die anderen Seminarteilnehmer diesen ungewohnten Luxus ebenfalls zu schätzen.
Wenn vom Buffet nicht mehr viel übrig ist, es also ans Eingemachte geht, lassen Sie sich auch von ungeschnittenen Kiwis nicht abschrecken – diese stellen die Königsdisziplin der Buffetplünderer dar!
Die Pause ist bekanntlich kurz, aber zwei weitere Tassen Kaffee sollten Sie dazu mindestens trinken, auch wenn Ihre Blase solches mit akutem Druck quittiert. Zur Toilette können Sie immer noch gehen, wenn das Seminar fortgesetzt wird.
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Stellen Sie während des gesamten Seminars ausgiebig Fragen, auch wenn der Vortragende nicht explizit dazu aufgefordert hat. Nehmen Sie aber bitte Abstand von der Verwendung Ihrer kräftigen Stimme – diese haben Sie bereits beim lustigen Kännchenrufen hinreichend bewiesen. Werden Sie aufgefordert, Ihre Frage zu wiederholen, tun Sie dies noch ein wenig leiser. Der Vortragende weiß zu schätzen, wenn Sie ihm dieses Gehörtraining angedeihen lassen.
Aus Ihren Seminarunterlagen geht hervor, was das jeweils nächste Thema sein wird. Zögern Sie nicht, schon während des aktuellen Themas nachzufragen, was denn damit sei.
Stellen Sie aber nur solche Fragen, die der Seminarleiter auch beantworten kann – benutzen Sie Ihre Intuition! Wenn Sie dabei witzig sein müssen, bedenken Sie: Die Lacher in diesem Seminar gehören nicht Ihnen. Seien Sie also bitte feinfühligerweise maximal so originell wie der Vortragende selbst, auch wenn Sie dazu Ihr Humorniveau etwas senken müssen. Damit ist sichergestellt, dass sowohl das Bemühen um Witzigkeit als auch das Unlustig-Finden auf Gegenseitigkeit beruht.
Und lachen Sie stets laut und lange über platte Witze – soferne diese vom Seminarleiter selbst kommen.
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Sollte Ihre Aufmerksamkeit im weiteren Verlauf des Seminares spürbar nachlassen, fühlen Sie sich einfach wie zu Hause vor dem Fernseher. Den stört es auch nicht, wenn Sie mit Ihrem Sitznachbarn angeregt über ganz andere Dinge plaudern, wie beispielsweise über Missempfindungen in Ihrer Magengegend („Mir is soo schlecht“). Solcherlei Information ist angesichts Ihres Frühstücks und Ihrer Erfolge am Buffet überaus glaubwürdig.
Sollten Sie zwischendurch unwillkürlich etwas Wissenswertes von vorne vernehmen, so zögern Sie nicht, dies ihrem Gesprächspartner mitzuteilen, etwa mit dem Satz: „Warte, das hier klingt interessant!“.
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Sobald der Seminarleiter mit Verabschiedungsfloskeln beginnt, stehen Sie auf und sacken alle vom Veranstalter ausgehändigten Schreibgeräte ein. Die Seminarunterlagen können Sie getrost zurücklassen, ebenso wie Ihre beiden halbvollen Getränkefläschchen.
Nun ist der Zeitpunkt gekommen, Ihre Jacke dem Raum zwischen dem Rücken des Sitznachbars und der Stuhllehne zu entreißen und diese möglichst umständlich anzuziehen. Verlassen Sie den Saal noch vor dem Applaus, um Lynchmaßnahmen zu entgehen.