A-7. C.i. asocialis: Der Eremit

Dieser Artikel ist Teil 10 von 11 in der Serie "Schweinehunde" ...
Nanü, worum gehts denn hier? Bitte zum ersten Eintrag in dieser Serie!

A-7. C.i. asocialis: Der Eremit

‘Stille Wasser sind tief.’

Der Eremit ist, so widersinnig es scheinen mag, ein leidenschaftlicher Teamplayer und arbeitet eng mit anderen Schweinehunden aus der Vermeider-Klasse zusammen. Hier zeigt sich das volle Potential der Schweinehunde, ihre Vernetzung und ihr Teamwork zumindest sind überaus beeindruckend. Tritt der Eremit auf den Plan, geben sich auch andere Schweinehunde die Türklinke in die Hand. Im Nu dirigiert der Eremit ein ganzes Orchester, und es grunzt die Eremiten-Lobeshymne Nummer eins: “Alle Menschen san ma zwida” (Kurt Sowinetz / Beethoven).

Seine ganz großen Zeiten hat der Eremit in den frühen Morgenstunden oder eben nach dem Aufstehen, außerdem in Stresssituationen und in den Phasen nach persönlichem Scheitern. Bei Frauen lässt er sich am liebsten in der prämenstruellen Phase blicken. Dabei wird das Sprechen dir stark erschwert; obwohl manchmal sogar ganze Sätze vorgeformt in deinem Kopf bereitliegen, bringst du einfach den Mund nicht auf. In anderen Fällen schlägt der Eremit dir ausschließlich Worte vor, die immer ein, zwei Spürchen neben dem tatsächlich Empfundenen liegen, und am Ende stellst du entsetzt fest, dass das, was dabei rauskam, vom ursprünglichen Gedanken himmelweit entfernt war.

Der Eremit sorgt dafür, dass sich auf jegliche Form eines Klingelns dein Seelchen empört zurückzieht wie der angetippte Fühler einer Schnecke. Ein Anruf, eine Kurzmitteilung oder eine andere Form vorsichtiger Kontaktaufnahme, und sogleich zuckt ein fuchtiges “Was wollt ihr jetzt schon wieder von mir?” durch dein Gehirn.

Menschen, die etwas von dir wollen, sind in der akuten Infektionsphase generell ein großes Problem. Manche von ihnen glauben gar, ein Gespür dafür zu haben, dass jetzt der richtige Zeitpunkt sein könnte, dir ihre konstruktive Kritik zu unterbreiten. Du könntest lachen, wenn es nicht so zum Weinen wäre – und wenn du den Mund aufbrächtest.

Denn alles in dir sträubt sich gegen soziale Kontakte. Also gehst du nicht ans Telefon, öffnest nicht die Tür, du schickst keine Kurzmitteilungen, und schon gar nicht rufst du von selbst irgendjemanden an, wo doch schon einen Termin beim Zahnarzt zu vereinbaren eine unüberwindliche Hürde darstellt – denn du möchtest mit niemandem reden. Du beantwortest auch deine E-Mails nicht, und irgendwann werden die Versuche von außen weniger. Dann kann der Eremit dir endlich das Gefühl geben, dass niemand dich mag und niemand sich um dich kümmert.

Mithin die größte Qual während des akuten Eremitenbefalls sind jedoch soziale Anlässe von so verpflichtendem und offiziellem Charakter, dass der Eremit bei aller Anstrengung dein Fernbleiben nicht erwirken konnte, weil dich die Wichtigkeit des Anlasses über alle Schweinerei hinweg zu einem Erscheinen zwingt. Hier wird dir jedes Wort, das du hervorwürgen musst, Schmerzen verursachen; der innere Widerstand und deine Fratze, die ein gekünsteltes Lächeln darstellen hätte sollen, führen nach kürzester Zeit zu einer Starre in der Kieferregion und einem verkrampften Gefühl in der Kehle. Deine Gehirnzellen veranstalten eine Demo und tragen Schilder mit der Aufschrift “Ich will heim. Bitte.”

Wenn dich in diesem labilen Zustand auch noch ein Anstifter aus der compellans-Klasse reitet und dich bei diesem offiziellen Anlass zu Aussagen verleitet, die einen Tick zu direkt ausfallen (“Ich hab dich ja immer schon für einen aufgeblasenen Affen gehalten, aber heute übertriffst du alle meine Erwartungen.”), dann könnte das Asocialis’ wildeste Träume erfüllen und deine beruflichen und privaten Beziehungen lahmlegen, bis die Hölle einfriert.

Wenn du ihn aber lässt, hindert der Eremit dich völlig am Erscheinen bei Terminen und Einladungen, und vielleicht sogar daran, bei der Arbeit aufzutauchen. Wenn ein Freund in einer deiner Eremitenphasen Geburtstag haben muss, ist das eben sein Pech. Du gehst ganz bestimmt nicht auf das Fest. Hmpf!

Teamwork

Aber natürlich gibt es einen verborgenen Anteil in dir, der liebend gerne auf dieses Fest gehen würde, weil er eine Spontanheilung verspricht. Andere Schweinehunde mischen hier sehr gerne mit und liefern massenhaft Gründe und Ausreden. Der Verbieter sagt, dass du vor dem Weggehen erstmal aufräumen solltest, duschen, den Hund füttern und den Müll rausbringen. Absichtliche Überforderung in einer Phase, in der schon das Hochheben eines Telefonhörers eine unüberwindliche Hürde darstellt.

Die Hysterikerfraktion kreischt, du hättest nichts anzuziehen und außerdem Angst vor den vielen Menschen auf dem Fest. Womöglich sind sogar welche dabei, die du gar nicht kennst! Oder du musst ganz alleine in eine Bar hineingehen, huh!

Der Verächter lässt verlauten, auf diesem Fest wolle dich vermutlich ohnehin niemand haben, schon gar nicht in dieser Stimmung, und dass du es echt nicht wert wärst, dass sich jemand um dich kümmert. Das wiederum kann in einer solchen Situation eine wahre Kaskade an Selbstmitleidsgefühlen auslösen.
Schließlich ruft der Eremit den Zweifler herbei, um gegen den Anteil in dir zu kämpfen, der auf das Fest gehen möchte. Mal gewinnt der eine die Oberhand, mal der andere, und so geschieht es, dass du dich zwölfzigmal hin und her entscheidest, an-, um- und ausziehst, zwischendurch auf Stühle niedersinkst und ins Leere starrst, bis es schließlich zum Weggehen zu spät ist oder du in Tränen ausbrichst und brennende, verquollene Schweinsaugen den Ausschlag fürs Daheimbleiben geben. Der verborgene Anteil in dir liegt nach dem Kampf wimmernd und ramponiert in einer dunklen Ecke des Schweinehundestalls, den Mund mit Schweinespeck gestopft.
Der Verbieter schließlich wird später sagen, “Hatte leider keine Zeit, zu viele andere Pflichten!”.

Umso schlechter, wenn bei all diesen vermiedenen Kontakten etwas Lebenswichtiges dabei war, denn der Faulpelz fängt sofort Feuer, wenn er davon Wind bekommt und wirft sich mit voller Wucht in die Waagschale mit der Aufschrift “Nein!”. Und langsam erkennst du, dass ein Landstrich voller Treibsand dagegen ein Spaziergang ist.

Manchmal würdest du vielleicht sogar gerne jemandem dein Herz ausschütten, dich schluchzend gegen eines Mitmenschen Schulter werfen; du spürst, dass das Aussprechen dich erleichtern würde – aber du bleibst stumm und deine Augen trocken. Solltest du dabei gar eine gewisse perverse Befriedigung verspüren – sei versichert, dass es sich dabei nicht um deine eigene Empfindung handelt.

Bei einem solchen kettenreaktionsartigen Befall ist es das Beste, erstmal einen Schritt zurückzutreten und das Treiben, so gut es eben in dieser Lage geht, aus einer gewissen Entfernung zu betrachten. Es kann auch helfen, dir selbst zu bestätigen, dass du in der Tat ein überaus armer Mensch bist, der langsam zum Schwein mutiert. Selbstmitleid ist besser als sein Ruf, denn es ist oft das einzige Mitleid, das gerade zu kriegen ist. Es ist nur keine Dauerlösung.

Daher kommt danach ein Schritt der größten Überwindung: Ruf den besten Freund an, den du hast. Das mag anstrengend sein und eine Zeitspanne erfordern, während der du Löcher in dein Telefon starrst. Das macht aber nichts, du hast im Moment ohnehin nichts Besseres zu tun. Dann erzähl deinem Freund offen und ehrlich von deinem Befall. Dieser Schritt ist immens wichtig, denn er ist der erste Impuls, der dem Treiben letztlich ein Ende setzen wird.

Zukünftige Attacken abzuwehren ist schon schwieriger. Es erfordert größte Aufmerksamkeit, die erste Phase des Eremitenbefalls überhaupt zu bemerken. Manchmal ist es gut, allein zu sein, solange man darüber nicht verzweifelt. Man lasse den Eremit einfach eine gewisse Zeit lang bewusst für sich arbeiten, und genieße die Ruhe. Wenn aber etwas in dir “Genug!” ruft, sich eine seltsam perverse Befriedigung einstellt, wird es ungesund, und es ist an der Zeit zu handeln. Verwunschenerweise scheint jedoch gerade dann niemand Zeit zu haben – keine Sorge, das liegt in der Natur der Sache. Dies ist nicht der Moment für falschen Stolz. Die Zauberformel zur Manifestation von Zeithaben bei deinen Freunden lautet, “Ich brauche dich, mir gehts nicht gut”.

Interessanterweise kann man sich der Situation am effektivsten dann entziehen, wenn gerade alle Schweinehunde beschäftigt und in voller Aktion sind. Dann kannst du dich in dem Durcheinander zurückziehen, deine sehr wenigen echten Anteile zusammenpacken und unbemerkt verschwinden.

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11 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. mkh sagt:

    Dieser ungesellschaftliche Schweinehund kommt mir irgendwie bekannt vor. Ich habe bislang aber noch nie eine derart gelungene watzlawickeske Artbeschreibung vorgefunden.

    Zitat: “In anderen Fällen schlägt der Eremit dir ausschließlich Worte vor, die immer ein, zwei Spürchen neben dem tatsächlich Empfundenen liegen, und am Ende stellst du entsetzt fest, dass das, was dabei rauskam, vom ursprünglichen Gedanken himmelweit entfernt war.” – Mit solchen Charakterisierungen liegst du aber auch so was von gar keiner Spur daneben!! Meine inneren Schweinehunde toben Hals über Kopf bei so viel ins Visier genommener Wahrheit.

    Bis zum gewissen Grad habe ich mit C.i. asocialis allerdings Frieden geschlossen und lebe etwas leichter, seit ich zu ungesellschaftlichen Stimmungslagen stehe und mich mit meinen Eremitenanteilen – bis zum gewissen Grad – abfinde.

    So oder so: Danke dir für deine wieder mal wunderbar zutreffende biologische Klassifikation!

  2. Ceh sagt:

    Das ist aber wirklich das Schwärzeste, was Du je geschrieben hast.

    Gratuliere ^^.

  3. Etosha sagt:

    Hätte nicht gedacht, dass ausgerechnet zwei Männer hier als erstes ihre Zustimmung signalisieren. Irgendwie war mir während des Schreibens so, als würde ich vor allem über Frauen schreiben. Wir sind uns also doch ähnlicher, als wir dachten.

    Gerade auch bei der Wortfindungsstörung, mkh. Sehr interessant, dass du das auch kennst. Überhaupt fühlt man sich (wie schon in der Einleitung gesagt) ja gleich viel besser, wenn man hört, dass andere auch… :)
    Wie gesagt, Alleinsein ist manchmal gut, und manchmal sogar so nötig, dass man sich auch auf irgendein Klo zurückziehen kann, “Hauptsach, a Ruah is”, sozusagen. Insofern stimme ich voll zu – Frieden schließen und zu unsozialen Stimmungen stehen ist sicher richtig und wichtig – solang man selbst sich damit wohlfühlt.

    Ceh, aus deinem Munde ist das, wie ich annehme, ein Kompliment. ;) Danke fürs Zeitnehmen!

  4. _mathilda_ sagt:

    Ich erkenne hier mein Exemplar Schweinehund auch wieder, wobei ich im Bekämpfen desselben recht erfolgreich bin, im Gegensatz zu anderen Schweinehunden, die mir innewohnen. Somit kann auch ich hier nur zur treffenden Charakterisierung gratulieren.

  5. T.M. sagt:

    Ich protestiere dagegen, daß hier noch weitere Details über mein innerstes Wesen verbeitet werden.

  6. Etosha sagt:

    Danke, Mathilda, ich erwidere die Gratulation zur erfolgreichen Bekämpfung. An Anregungen oder Beschreibungen der deiner Bekämpfung standhaltenden Exemplare bin ich sehr interessiert!

    TM, du sagst ‘mein innerstes Wesen’ zu deinen Schweinehunden? Ihr kennt euch schon lange, was? :D

  7. _mathilda_ sagt:

    Ich probiers mit Vernunft, Erklärungen, Autorität – und im Zweifelsfall auch mit Bestechung oder Drohung. Aber der Erfolg ist hier sicher dem Charakter meines Schweinehundes geschuldet – denn der Eremit ist im Vergleich zu anderen Mitgliedern der Herde für Logik zugänglich ;) Ich nehme an, das hilft nicht. Aber ich hab meine gefühlte Auskunftsverpflichtung erfüllt :D

  8. Ceh sagt:

    Über Frauen? Aber Toshilein … das ist eine absolut exakte Charakterisierung meinerselbst. Hm. Also entweder mein Yin ist zu stark, oder Frauen und Männer sind sich doch ähnlicher als gehofft ]:D.

  9. Etosha sagt:

    Noch einer! Ich bin platt. ‘Ähnlicher als gehofft’ ist allerdings frech. Traudi du ham. Dann rauchts aber.

  10. Ceh. sagt:

    Tschuldige, Schatzi. Hab’s ja nicht so gemeint, Schatzi. Ich mach’s wieder gut, Schatzi …

    ]:D

  11. Etosha sagt:

    Geh, du machst dir ja die Hose schmutzig an den Knien.

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