Propaganda und Scham

… und alles drumherum. Wie extremistische Propaganda über Demütigungserzählungen die unbewältigte Scham in Menschen anspricht und instrumentalisiert. Was Scham mit uns macht. Und was wir dagegen tun können.

Ich möchte hier zwei Themen miteinander verknüpfen. Über eines davon wird öfter geschrieben und gesprochen, über das andere nicht. Es geht um einen der Mechanismen in extremistischer Propaganda – und um Scham.
Dazu spanne ich allerdings einen sehr weiten Bogen. Das ist der Komplexität geschuldet, mit der Scham die Welt überzieht.
Manche weiteren Themenbezüge reiße ich daher nur an, ohne sie weiter auszuführen. Einige optionale Zusatztexte habe ich in die blauen Kästchen gepackt (zum Aufklappen, rechterhand auf dem +).

#Essay & Very #LongRead. 12.550 Wörter.

tl;dr

Zusammenfassung

Scham ist ein uraltes und kulturenübergreifendes Gefühl, das jede/r kennt und hat, das aber niemand anschauen möchte. Oder gar darüber reden. Es ist, entgegen allen Redensarten und Erziehungsweisheiten, ein destruktives Gefühl, das keine positive Veränderung bringt.

Menschen haben ein Grundbedürfnis nach Liebe und Zugehörigkeit. Scham ist die Angst, der Liebe und Zugehörigkeit nicht würdig zu sein. Sie bezieht ihre Macht aus ihrer Unaussprechlichkeit. Scham korreliert stark mit Gewalt, Sucht, Aggression, Depression, Esstörungen und Mobbing.

Patriarchal geprägte Kulturen unterstützen die Tendenz zur Abwehr schwieriger Gefühle. Scham wird als schwieriges Gefühl abgewehrt und häufig über Wut ausagiert, oft auch über Gewalt. Das ist sowohl für die Psyche ungesund als auch für die Gesellschaft, wenn sie gewaltfrei und in Frieden leben möchten.

Extremistische Propaganda in Ost und West nutzt die Erzählung einer geschehenen Demütigung als Haken. Sie angelt in den Menschen nach alten, ungelösten Gefühlen von Demütigung (Scham und Wut), um “Entschädigung” dafür zu versprechen. Damit wird kein Gefühl bewältigt, sondern Gewaltbereitschaft erzeugt, die gegen beliebige, entmenschlichte Sündenböcke gelenkt werden soll.

Wir sind ein leichteres Ziel für Manipulation, je weniger wir über Scham wissen und darüber sprechen.

Mitgefühl ist der Endgegner von Scham. Sie entsteht in sozialen Situationen und wird in sozialen Situationen gelöst. Wir können umdenken und dazulernen, wenn wir uns nicht mehr dagegen wehren, dass Menschen menschliche Gefühle und Bedürfnisse haben.

❞All die Grausamkeiten und Brutalitäten, bis hin zum Genozid, beginnen mit der Demütigung eines einzigen Individuums.❞

Kofi Annan, ehem. UNO-Generalsekretär und Friedensnobelpreis-Träger

Ein schambesetztes Thema

Weil über Scham so wenig geschrieben

und gesprochen wird, beginne ich damit. Sighard Neckel schrieb bereits 1991 sein Buch “Status und Scham”.  Brené Brown forscht und schreibt seit 2007 sehr viel, erzählerisch und allgemeinverständlich über Scham und Verletzlichkeit. 2009 kam das pädagogische Buch “Scham” (Hrsg. Alfred Schäfer und Christiane Thompson).

Witzigerweise ist Scham ein schambesetztes Thema, im privaten und im öffentlichen Diskurs: Alle kennen sie, alle haben sie, es gibt es hochinteressante Forschung dazu, die uns demnach alle angeht. Doch so gut wie niemand will darüber nachdenken oder gar reden. Wir wollen uns ja schon generell nur ungern verletzlich zeigen. Scham ist die ultimative Verletzlichkeit.

Wenn Scham im Diskurs vorkommt, dann wenn Menschen mehr Scham fordern, weil sie denken, das könnte manchen “schamlosen” Gestalten wohl nicht schaden.
Und könnten damit falscher nicht liegen.

Scham kommt in verschiedenen Extremismus-Studien, etwa bei der Forschung nach Korrelationen zu rechtsextremer Radikalisierung, nur am Rande vor. Scham, beschämend, Beschämung wird in Nebensätzen erwähnt, so als wüsste ohnehin jede/r, was gemeint ist – jedoch ohne eine Definition mitzuliefern oder ihre Auswirkungen darzulegen. Ganz so, als würden sogar die Studien-Autor*innen selbst es scheuen, das unliebsame Gefühl allzu übermütig anzurempeln.

Der Schleier bleibt bestehen. Und wir dürfen weiterhin glauben, wir wüssten bereits alles über Scham und müssten daher nicht hinschauen.

So entgehen uns wichtige seelische Zusammenhänge.

Scham bleibt dermaßen im Schatten unserer Wahrnehmung, dass uns oft nicht einmal bewusst wird, wenn wir auf Scham reagieren oder mit unserem Verhalten das Aufkommen von Scham vermeiden oder wegdrängen. Denn unsere menschliche Sozialisierung zielt darauf ab, dazuzugehören. Und Scham ist die Angst, als Mensch nicht gut genug zu sein, um dazuzugehören.

Unsere Sozialisierung und Prägung auf geschlechtsspezifische Rollenbilder wird in hohem Ausmaß über Scham und die Vermeidung von Scham gesteuert, sie ist eine normative Kraft.

Und vielleicht auch globale Zusammenhänge?

Womöglich entgeht uns auch in der Welt einiges, wenn wir Scham ausblenden. Etwa auch ein wesentlicher Teil der Mechanismen, die rechtsextreme oder extremistische Propaganda so erfolgreich machen? Eben weil uns der Mut fehlt, um hinzuschauen, was in puncto Scham in uns selbst vorgeht, sind wir ahnungslos und unbewaffnet. Und fragen uns ständig, was wohl gewisse Menschen dazu bringt, der einen oder anderen rechtsextremen Propagandaschleuder auf den Leim zu gehen. An der Bildung liegts… nicht so deutlich, wie man meinen will, am Einkommen auch nicht, und nicht am Geschlecht – also wo ist der gemeinsame Nenner?

Natürlich will ich hier Scham nicht als alleinige Ursache des Rechtsrucks oder gar sämtlicher globaler Probleme proklamieren. Dazu ist mir die Komplexität der Welt nur allzu bewusst. Auch will ich nicht sagen, dass alle, die rechtsextremen Parteien anhängen, arme, propagandaverführte Opfer wären, die nichts für (oder gegen) ihre Anschauungen könnten.

Doch beim Thema Scham sticht das kollektive Wegschauen, das Vermeiden und Verschleiern für mich grell hervor. Das treibt mich an, Scham aus dem Schatten zu holen und zu benennen. Denn ich halte Scham für eine essentielle und gefährlich unterschätzte Komponente in der gesellschaftlichen, politischen und globalen Dynamik.

Mitunter ist Scham nur an ihren Auswirkungen erkennbar, auch an sich selbst. Sie ist wie eine gedachte Linie, die man nur sieht, wenn man schon weiß, dass sie da ist. Dann aber erkennt man, wie sie die Fäden ihres Rhizoms unter der Oberfläche verbindet und darüber ihre Pilze sprießen lässt. Man sieht Forschende ihre Auswirkungen untersuchen und an Scham vorbeischauen, als würden sie in schimmeligen Räumen Proben nehmen, ohne nach der Stelle zu suchen, an der die Feuchtigkeit eintritt.
Und ja, das klingt nach Bias meinerseits Marke “Maslows Hammer”, but hear me out.

Wir hören vom neuesten Femizid und sind entsetzt von der Gewalt, von den oft verharmlosenden Schlagzeilen den merkwürdigen “Besitzansprüchen” gewisser Männer gegenüber Frauen. Wir hören vom Faktor “Ehre” bei radikal-islamistischen Konflikten – und denken, das beträfe uns Mitteleuropäer nicht. In der Forschung zu Radikalisierung und Extremismus werden Wut, Hass, Ekel beleuchtet – aber Scham nicht. Es wird “Anspruchsdenken” als neuer Faktor in die “Mitte-Studie” aufgenommen, doch was enttäuschtes Anspruchsdenken emotional auslöst, lesen wir dort nicht. Es wird über die “Abgehängten” der Globalisierung oder des Neoliberalismus gesprochen, als könnten wir im Schlaf benennen, welche emotionalen Dammbrüche damit verbunden sein können.

Und auf der persönlichen Ebene glauben wir fest daran, dass wir Entscheidungen rational treffen würden und unsere Social-Media-Accounts emotionsbefreit führen.

Emotionen werden schon generell wohl öfter ausgeblendet als beleuchtet und benannt, und Scham ist eine der mächtigsten dieser Emotionen. Sie ist eine Basisemotion, und sie wird universell über alle Kulturen hinweg empfunden.

Und gleichzeitig wird ständig so getan, als gäbe es sie gar nicht. Ich finde, das sollte sich ändern.

Was bisher geschrieben wurde

Warum es uns keineswegs “stärker” und unabhängiger von unseren Gefühlen macht, wenn wir sie gewohnheitsmäßig abwehren, ohne sie zur Kenntnis zu nehmen oder tatsächlich zu spüren und zu bewältigen – sondern womöglich anfälliger für emotionale Manipulation, habe ich hier in der Pfanne schon in einigen Artikeln gestreift:
Das tut nix, es ist nur ein Gefühl
Von Hirnen und Menschen 2

Gefühle sind eine wichtige Informationsquelle

Sie sagen uns, was für unser Seelenheil okay ist und was toxisch sein könnte. Sie sind unsere inneren Sinnesorgane, ein Mix aus Erfahrungsschatz, Schutzmechanismen und Körpergedächtnis.
Natürlich erträgt man nicht alles, immer. Wir halten uns auch manchmal die Nase zu, wenn’s unerträglich wird – aber wir kämen nicht auf die Idee, die Infos rigoros wegzuschieben, die uns der Geruchssinn übermittelt, nur weil wir seine ständigen Meldungen irgendwie unbequem finden. Oder weil uns die Gesellschaft vermittelt hat, dass wir immer nur Gutes riechen sollten.

Mut und Neugier

Es erfordert Mut, seine Gefühle wahrzunehmen und sie anzuerkennen. Mut, zu akzeptieren, dass man als soziales Wesen von anderen abhängig ist, und dadurch auch verletzbar ist und Schmerz empfindet. Neugier, wie man tickt und wo man seine empfindlichen Stellen hat. Mut und Neugier, die uns darauf hinweisen, dass Gefühle zu spüren und seine Verletzbarkeit anzuerkennen keine “Schwäche” sein kann – sonst würden nicht so viele davor wegrennen. Und ihre Gefühle stattdessen abwehren, ausagieren oder betäuben: mit Alkohol, Nikotin, Essen, Shopping, Rationalisieren, Drogen, TV, Social Media, Arbeit, Sport, Selbstverletzung, etc.  

Doch wer sich gewohnheitsmäßig die Nase zuhält, riecht auch die guten Düfte nicht mehr! Gefühle zu vermeiden erspart uns kurzfristig den Schmerz, doch es hindert uns daran, zu wachsen und uns weiterzuentwickeln.

Dennoch wird das Empfinden und Ausdrücken von Gefühlen selbst oft als ein Grund zum Schämen hingestellt – wir werden fürs Gefühlehaben mit unangenehmen Gefühlen bestraft.

Scham

Wissenswertes über Scham

Unsere Umgangssprache legt leider falsche Fährten.

Brené Brown forscht seit knapp zwei Jahrzehnten zu dem Themen Verletzlichkeit und Scham. Sie schreibt:

❞ Die ersten drei Dinge, die man über Scham wissen muss:

1. Wir alle haben sie. Scham ist universell und eines der ursprünglichsten menschlichen Gefühle, die wir empfinden. Die einzigen Leute, die keine Scham empfinden, sind die, denen auch die Fähigkeit zu Empathie und zwischenmenschlicher Verbindung fehlt. Man hat also hier die Wahl, was man zugeben will: Das Gefühl von Scham zu kennen, oder ein Soziopath zu sein. Nebenbemerkung: Das ist der einzige Punkt, an dem Scham wie eine echt gute Option rüberkommt.

2. Wir alle haben Angst, über Scham zu sprechen.

3. Je weniger wir über Scham sprechen, umso mehr Kontrolle hat sie über unser Leben.

Scham ist die Angst vor Verbindungsverlust. Wir sind psychisch, emotional, kognitiv und spirituell auf Verbindung, Liebe und Zugehörigkeit programmiert. Verbindung – gemeinsam mit Liebe und Zugehörigkeit (zwei Ausdrucksformen von Verbindung) – gibt unserem Leben Sinn und Bedeutung.

Scham ist die Angst davor, von dieser Verbindung abgeschnitten zu werden; davor, dass etwas Getanes oder Unterlassenes, ein Ideal, dem wir nicht gerecht geworden sind, oder ein Ziel, das wir nicht erreicht haben, uns unwürdig für diese Verbindung macht.
“Ich bin unwürdig oder nicht gut genug für Liebe, Zugehörigkeit oder Verbindung. Ich bin nicht liebenswert, ich gehöre nirgends hin.”

Hier ist die Definition von Scham, die aus meinen Forschungen hervorging:
Scham ist das extrem schmerzhafte Gefühl oder der erlebte Glaube, dass wir mangelhaft sind und daher der Liebe und Zugehörigkeit nicht würdig sind.

Scham ist echter Schmerz. Die Relevanz sozialer Akzeptanz und Verbindung wird von unserer Hirnchemie verstärkt, und der Schmerz, der aus sozialer Zurückweisung und aus Verbindungsverlust erwächst, ist echter Schmerz. Auch körperlicher Schmerz ist schwer zu beschreiben, bei schmerzhaften Emotionen ist das nicht anders. Bei Scham ist es besonders schwierig, weil sie es gar nicht leiden kann, wenn man sie in Worte fasst. Scham hasst es, ausgesprochen zu werden.

Unsere Sprachgewohnheiten sind ein Grund, warum es schwer ist, über Scham zu sprechen. Wir benutzen oft wahllos mehrere Begriffe, Scham, Schuld, Demütigung, Peinlichkeit. Es mag pedantisch wirken, die Wichtigkeit des richtigen Begriffs zu betonen, wenn eine Erfahrung oder ein Gefühl beschrieben werden soll. Allerdings geht es dabei um mehr als nur Semantik. Wie wir diese verschiedenen Gefühle erleben, hat etwas mit dem inneren Dialog zu tun. Wie reden wir mit uns selbst darüber, was geschieht?

Am besten beginnt man mit dem Entwirren bei Scham und Schuldgefühl, und zwar über den inneren Dialog. Die meisten Forscher*innen sind sich einig, dass man Scham und Schuld am besten auseinanderhält am Unterschied zwischen:
Scham: “Ich bin schlecht.”
Schuld: “Ich habe etwas Schlechtes getan.

[Anm.: Diesen Unterschied zwischen Scham und Schuld finden auch andere Forschungen (Tangney, Wagner, HillBarlow, Marschall, Gramzow, 1996). Scham ist hier mit Aggression assoziiert, Schuld mit Kommunikation und Problemlösung.]

Besonders für jene, die gern meinen: “Ein bisschen Scham wird helfen, dich zurück auf die Spur zu kriegen”: Wenn wir Scham empfinden, ist unsere wahrscheinlichste Reaktion, jemandem oder etwas die Schuld zuzuschieben, unsere Fehltritte wegzudiskutieren, eine unechte Entschuldigung hervorzubringen, zu lügen oder uns zu verstecken.

Wenn wir für etwas, das wir falsch gemacht haben, um Verzeihung bitten, Wiedergutmachung versuchen oder ein Verhalten ändern, das sich nicht mit unseren Werten deckt, dann ist in den allermeisten Fällen Schuld die treibende Kraft dahinter – und nicht Scham.

Wir fühlen uns schuldig, wenn wir etwas, das wir getan oder unterlassen haben, mit unseren Werten abgleichen und dabei feststellen, dass es ihnen nicht gerecht wird. Es ist ein unangenehmes Gefühl, aber es ist hilfreich. Das psychische Unbehagen daraus, ähnlich der kognitiven Dissonanz, ist es, das bedeutsame Veränderung anregt.

Schuld ist ebenso mächtig wie Scham, der Einfluss der Schuld jedoch ist positiv, während der der Scham zerstörerisch ist. Tatsächlich zeigt meine Forschung, dass Scham just jenen Anteil in uns angreift, der glaubt, dass wir uns verändern und es besser machen können.

Wir leben in einer Welt, in der die meisten Leute immer noch glauben, Scham wäre ein gutes Werkzeug, um Menschen bei der Stange zu halten. Das ist nicht nur falsch, sondern auch gefährlich.
Scham korreliert stark mit Gewalt, Sucht, Aggression, Depression, Esstörungen und Mobbing.

Brené Brown, “Daring Greatly” (übersetzt von mir)

Sollte sich was schämen?

Wenn wir sagen, ein Mensch X “sollte sich was schämen”, dann sagen wir damit eigentlich: “X sollte im Erdboden versinken, sich dort voll depri Drogen oder Süßkram reinpfeifen, aber bloß nicht mehr hervorkommen; oder meinetwegen auch lügen, aggro sein, zum Gegenschlag ausholen – aber insgesamt jedenfalls: ja nix an sich verändern.”

Dabei meinten wir doch eigentlich: “X sollte sich darüber klar werden, dass sein Verhalten nicht sozialverträglich war, und es verändern!”
Wir sollten daher stattdessen eher sagen: “X sollte sich schuldig fühlen.” Denn Schuld bringt konstruktive Reflexion, Wiedergutmachung und Veränderung hervor. Scham ist destruktiv und bringt Verbindungsabbruch, Schmerz und Zerstörung.

❞Ich denke, tatsächlich ist Scham viel eher die Ursache von destruktivem, verletzendem Verhalten, als sie Lösung oder Heilmittel wäre.❞

Brené Brown

Exkurs: Kritik, Scham und Schuld

Ob jemand nun eher mit Scham oder mit Schuldgefühl reagiert, wenn es um Kritik durch einen anderen Menschen geht, hängt von beiden Beteiligten ab.
Es ist richtig, persönliche Grenzen zu spüren, zu setzen und diese auch zu schützen. Das Abgleichen von Erwartungen, Aufzeigen von Grenzverletzungen und Setzen von Konsequenzen ist nicht automatisch Shaming, nur weil das Gegenüber stärker zu Scham neigt als zu Schuldgefühlen.

Vielmehr ist es einfach so: Beschämende Kritik ist Shaming, nicht-beschämende Kritik ist kein Shaming.

Es kommt also darauf an, wie man jemanden zur Verantwortung zieht.

So wird die Beschwerde über ein bestimmtes Verhalten in einer Situation (“Du hast mich gestern belogen”) zumindest eher Schuld und damit konstruktivere Reaktionen auslösen.
⇉ “Ich habe etwas Schlechtes getan“.

Völlig anders dagegen: Unfaires Aufblasen der Kritik mit schwarzweißen Formulierungen wie “immer, nie, schon wieder, alles, nichts”, Angriffe auf die Person (“Du bist ein Lügner”) und der verbale oder nonverbale Ausdruck von Verachtung und Abscheu, dazu gehört auch Zynismus (“Ich bin also der einzige hier, der immer die Wahrheit sagen muss, richtig?”). Und, naheliegend, aber der Vollständigkeit halber erwähnt, selbstverständlich alle Arten von wüsten Beschimpfungen, die den ganzen Menschen abwerten.

Solcherlei Attacke wird mit ziemlicher Sicherheit Scham hervorrufen – die Angst, nicht liebenswert zu sein und nicht dazuzugehören.
⇉ “Ich bin schlecht.”

Und damit werden auch alle Abwehrreaktionen auf den Plan gerufen, die Scham mit sich bringt: Gegenvorwürfe, Lügen, verbale oder körperliche Aggression, oder Verstummen, Rückzug, Depression, Selbstwertkrise.

Die pauschale Attacke ist das, was John & Julie Gottman in ihrer Paarforschung als “criticism” bezeichnen, einer der “vier apokalyptischen Reiter” einer Paarbeziehung. Sie ist eine ad-hominem-Attacke auf den Charakter, gibt uns das Gefühl, insgesamt ein schlechter Mensch zu sein und obendrein unveränderlich. (Die anderen drei Reiter sind Abwehr/Rechtfertigung, Verachtung/Zynismus und Mauern/Schweigen.) (Gottman, 1994)

Die Entscheidung “Scham oder Schuld” hängt also einerseits davon ab, wie brutal der Schuh einer ganzen Person übergestülpt wird. Andererseits auch davon, wie bereit diese ist, sich einen einzelnen Schuh bis über den Schopf anzuziehen oder eben: aus Schuld Scham zu machen, indem sie die Verallgemeinerung einer situativen Kritik im eigenen Kopf vollzieht und dann darauf reagiert statt auf das eigentlich Gesagte.

Vermutlich sitzt Scham in manchen Menschen lockerer als in anderen, weil sie auf breiter ausgetrampelten Gehirnpfaden läuft, etwa aus einer Kindheit mit mehr beschämenden Elementen im Erziehungsstil und innerhalb der Geschlechts-/Altersgruppe und einem daher instabileren Selbstwert.

Auch aus der Perspektive des Kritisierenden wird es schwieriger, ein Verhalten ohne Beschämung zu benennen, wenn ähnliche Grenzverletzungen durch eine Person sich zum x-ten Mal wiederholen. Denn unser Hirn ist auf das Erkennen von Mustern spezialisiert, um Einordnungen schneller treffen zu können. Das hilft uns beim energie-effizienten Überleben. Dennoch kommen eben auch oft Vorurteile dabei raus. Das Verhalten von Menschen nicht zu verallgemeinern, sondern immer wieder neu und obendrein mit maximaler Großzügigkeit einzuordnen macht uns mehr Mühe. Nach wiederholten Grenzverletzungen durch eine einzelne Person ist das auch nicht mehr ratsam.

Ursprünglichste Empfindungen

Ein existenziell bedrohliches Gefühl

ist jenes, das in einem Baby in den ersten Lebensmonaten entstehen kann, wenn es schreit – und kein Mensch kommt. Niemand, der ihm antworten würde, der sich hinwendet und kümmert, der seine Bedürfnisse stillt und ihm seine Empfindungen spiegelt. Denn das Baby weiß ja noch nicht, dass es hungrig, durstig oder einsam ist, sich fürchtet, friert oder in vollen Windeln liegt. Es fühlt sich einfach nur entsetzlich und ist hilflos. Es ist neu in diesem Körper und Gehirn, und seine Empfindungen müssen erst von Bezugspersonen einfühlsam erspürt und ihm dann gespiegelt werden, damit das Baby sie allmählich besser einzuordnen lernt.
“Na, hast du schon Hunger? Ich bin schon bei dir, gleich bist du satt.”

Mit der Zeit kann ein Baby erfahren, dass seine schlimmen Empfindungen benannt und gemildert werden können – durch Kontakt, Wärme, Gehalten-Werden, Trinken. Die entsetzlichen Empfindungen verlieren so langsam ihren Schrecken. Sie sind nicht mehr lebensbedrohend – sofern jemand kommt.

Obendrein kann das Baby lernen, dass es solch einen Jemand herbeirufen kann. Das Baby besitzt also eine gewisse Selbstwirksamkeit, doch weil es noch gar kein Selbst hat, sind es Erfahrungen der Teilhabe an einer großen Omnipotenz: In dem großen Ganzen, zu dem es gehört, geschieht auf seine Lebensäußerungen und sein Ungemach eine stillende, erlösende Interaktion.

Urvertrauen

entsteht in dieser ersten Zeit des menschlichen Lebens – oder es entsteht eben nicht.
Ohne Zuwendung, Einfühlen und Spiegeln sind die schlimmen Empfindungen für das Baby schlicht unbewältigbar. Es spürt entsetzliche Angst, Verlassenheit und Ohnmacht, ein tiefes, schwarzes und endloses Elend.

Die Bindungstheorie besagt, unsere Bindungsfähigkeit entsteht in dieser ersten Lebenszeit sowie in den darauffolgenden Monaten – durch die feinfühlige Interaktion unserer Bezugspersonen mit unseren kindlichen Bedürfnissen nach Nähe und Autonomie. Heraus kommt unser persönlicher Mix aus Selbstwertgefühl und Autonomiebedürfnis, Abhängigkeit und Verlustangst. Man nennt das Bindungsstil.

Die existenzielle Angst vor dem Wiedererleben des tiefen, schwarzen und endlosen Elends klingt meiner Auffassung nach in uns mit an, wenn wir Scham empfinden.

Instinkte

Abgesehen von dieser individuellen, frühen Prägung wurden die Instinkte des sozialen Wesens Mensch jahrtausendelang geformt von einer Welt, in der ein Ausschluss aus der Gemeinschaft den sicheren Tod bedeutete. Und noch heute ist Einsamkeit eine ernste Bedrohung für die menschliche Gesundheit und Lebenserwartung. (Luo & Hawkley & Waite & Cacioppo, 2012)

Verbindung und Zugehörigkeit

anzustreben und sie zu genießen sichert also unser Überleben. Es wird daher auch von der Körperchemie entsprechend belohnt und mit guten Gefühlen besetzt. Das wird von Beginn an fix in unseren Gehirnen verdrahtet, mitsamt unserer Bezogenheit auf andere Menschen. Diese Veranlagung vergeht nicht plötzlich, nur weil wir keine kleinen Kinder mehr sind, oder weil unser Ego später sein Heil im Individualismus zu finden meint.

Innen-Räume

Scham: Flucht oder Angriff

Scham ist eine archaische Empfindung, sie knüpft an die Angst des sozialen Ausschlusses. Die Amygdala im limbischen System unseres Gehirns warnt uns vor dieser Gefahr und löst damit eine Flucht-oder-Angriff-Reaktion im Körper aus. Und entsprechend reagieren wir auch, wenn wir uns schämen: Wir fliehen – oder wir gehen zum Angriff über.
Die Grenzen und Übergänge zwischen Scham, Angst und Wut sind fließend und oft vermischt.

Die Emotionsforschung spricht von einer “Scham-Wut-Spirale”, die auch durch Abwehr der Scham zustandekommt:

❞Der Fallenmotor der Gefühle springt an, wenn wir wütend auf jemanden werden, der uns zurückweist oder beleidigt (beschämt); er läuft ersatzweise, statt den Schmerz aus der Zurückweisung oder Beleidigung zu spüren. Das heißt, wütend darüber sein, dass man sich schämt, und sich schämen, weil man wütend ist, kann sich zu einer selbsterhaltenden Schleife extrem schmerzhafter Gefühle entwickeln, meist viel schmerzhafter als die ursprüngliche, abgewehrte Scham.❞

Scheff, 1994

Scheff geht davon aus, dass Scham nur dann nicht in eine Form von Gewalt umschlägt, wenn sie von den an der Interaktion Beteiligten anerkannt wird. Scham wird aber mitunter als so unerträglich empfunden, dass sie unterdrückt wird und stattdessen in Form von Wut und Aggression am (scheinbar) Verursachenden abreagiert.
Die zwischenmenschliche Dynamik bei Scham, Demütigung, Wut und Gewalt dürfte auf Gruppendynamik und auf internationale Beziehungen übertragbar sein. (Scheff, Retzinger 1991)

Demütigung

❞Wenn ich eines bei der Berichterstattung über das Weltgeschehen gelernt habe, dann dies:
Die am meisten unterschätzte Wirkmacht in internationalen Beziehungen ist Demütigung.
Wenn Menschen oder Nationen gedemütigt werden, dann schlagen sie um sich und beteiligen sich an extremer Gewalt.❞

Thomas L. Friedman, US-Journalist und Pulitzerpreisträger

Demütigungsgefühle sind eine Kombination aus Scham, Wut und…
Hier wird’s etwas widersprüchlich: Die Forschung sagt nämlich, wir empfinden etwas dann als demütigend, wenn es ungerechtfertigt passiert, wir es also nicht verdient haben. Es kommt also eine Ohnmachtsempfindung hinzu.
Doch wenn wir uns gar nicht als Person als schlecht empfinden, sollte doch auch gar keine Scham entstehen?

Je nach unserer Vor-Prägung spitzt die Amygdala wohl stets die Ohren, wenn Unterschiede zwischen idealem Selbst und realem Selbst aufgezeigt werden, und wir Gefahr laufen, durch andere abgewertet zu werden.

Aristoteles und ich


Es gibt dazu Ansätze in den „Bewertungstheorien“ der Psychologie, die besagen, der Grund für Scham bei Demütigung liege darin, dass wir uns nicht widersetzt oder nicht gerächt hätten. Das mag in der Bewertung und Selbstbewertung hinterher durchaus eine Rolle spielen. Doch die Gefühle von Scham und Wut entstehen bei Demütigung doch sehr unmittelbar?

Möglicherweise ist diese Auffassung bereits perspektivisch verzerrt von dem Standpunkt aus, wo wir mittels Wut und Rachsucht vermeiden wollten, den Schmerz der Scham und Verletzung überhaupt zu spüren? Würde heißen: Wir vergelten im Zorn, weil wir unsere verletzten Gefühle und Scham nicht so gut aushalten wie Wut; und siehe da, die Scham lässt durch die Affekthandlung nach – woraus wir (fehl)schließen, Scham wäre nur wegen fehlenden Widerstands erwacht?

Dann wäre dieser Drang nach Rache, den schon Aristoteles zur natürlichsten Sache der Welt erklärt hat, in Wirklichkeit auch nur Schamabwehr. Und nein, ich schäme mich nicht, dem alten Aristoteles zu widersprechen. Was soll er machen, sich rächen?

Entstehung von Moral

Emphronesis

Bei Demütigung entsteht wohl auch deshalb Scham, weil wir Erkenntnis (“Emphronesis”) erlangt haben: Wir wissen (ab einem Alter von etwa vier Jahren; bzw. seit unserer Zeit als Homo erectus), was andere wissen können. („Theory of Mind“, Perspektivenübernahme.)

Hier entsteht die Abhängigkeit unseres Selbstwerts von der Einschätzung durch andere, und Scham wird geboren. Wir erkennen, dass das Wissen anderer über eigene Regelverstöße zu Kritik, Strafe, Zuneigungsverlust und Ausschluss führen kann, was die Angst vor diesen Konsequenzen weckt – weil wir als soziale Wesen eben vor allem eines wollen: dazugehören.

Aber selbst wenn wir uns keines Regelverstoßes schuldig gemacht haben, wissen wir mit dieser Erkenntnis, wenn jemand uns vor Zeugen schlecht darstellt oder demütigt, wie andere dann von uns denken könnten. Selbst wenn seine Darstellung ungerechtfertigt ist, wissen wir, dass die anderen das (eventuell) nicht wissen könn(t)en.

Sind keine Zeugen da, dann schämen wir uns vielleicht einfach aufgrund des Abfallens zwischen realem Selbst und realer Fremdwahrnehmung, da der Demütigende uns offenbar als weniger wertvoll sieht als wir uns selbst.

Empathie

Empathie – verstehen, was andere fühlen – entsteht schon vor der Erkenntnis, was andere wissen können. Menschenaffen und zweijährige Kinder können empathisch reagieren. Wir können trösten, aber es entsteht noch keine Schuldfähigkeit aus diesem Verständnis für das Leid anderer. Dafür fehlt uns noch der Zeithorizont, vor dem wir über unsere Taten nachdenken.

Reflexion

Moral entsteht erst in Kombination aus Empathie und Emphronesis – dem Wissen, was andere wissen können – und dem Zeithorizont. Auf dieser höchsten Stufe reflektieren wir über Gegenseitigkeit und Gerechtigkeit, und über unsere Schuld, die uns über die Zeit zur Verantwortung wird – also über Moral.

Unser Über-Ich übernimmt allmählich die Rolle der moralischen Instanz.
Das ist die Stufe des Homo sapiens: Wir haben verantwortliche Moral entwickelt, indem wir durch nächstenfreundliches Verhalten den allseits unbeliebten Schuld- und Schamgefühlen zuvorzukommen. Weil wir fühlen und wissen, was andere fühlen und wissen.
“Liebe deinen Nächsten wie dich selbst” heißt genau das. Wie kann ich dir etwas antun, wenn ich doch genau weiß, wie sich das anfühlt, und es auch in Zukunft wissen werde?

Apropos: Bibel

Aus dieser Perspektive kann man die Bibel als ein Werk über die individuelle und kollektive moralische Evolution des Menschen verstehen: Adam & Eva essen vom Baum der Erkenntnis (Emphronesis!) und entwickeln Scham; sie bedecken sich, nicht nur weil sie erkennen, dass sie nackt sind, sondern weil sie jetzt wissen, was andere darüber denken könnten.
(Vorher: Gen 2,25: “Beide, Adam und seine Frau, waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander.” Nachher: Gen 3,7: “Da gingen beiden die Augen auf und sie erkannten, dass sie nackt waren. Sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich einen Schurz.”)

Mit Scham (“Erbsünde?”) gibt’s kein Paradies mehr – aber im Paradies gabs auch keine Moral. Sie aßen von dem Baum (DER ERKENNTNIS! (von Gut+Böse!)). Ob das verboten war, war egal, eben WEIL sie davor keine Moral hatten! (Aber die Frau hatte noch weniger Moral als der Mann, eh klar, also Null mal 2, haha.)

Dennoch ist das Erkennen hier die Initialzündung: “Du bist ein Mensch wie ich! Ich empfinde etwas, also empfindest du sowas wahrscheinlich auch. Ich weiß, was du wissen kannst, und was nicht.” Der Baum der Erkenntnis -> Emphronesis eröffnet sowohl die Möglichkeiten des Lügens und der Vergeltung als auch die Möglichkeiten des Mitgefühls und der Zusammenarbeit.

Man irrt hernach ein Weilchen durch die Lande, ist fruchtbar und mehrt sich, und es werden allerlei Schandtaten begangen. Gott ist ein zorniger Geselle und lässt fast die gesamte Menschheit absaufen, bevor erstmals (s)ein moralischer Kodex auf Steintafeln erscheint. Damit ist ein Teil seiner Instanz an die Menschheit abgegeben. Im Instanzenmodell von Freud übernimmt an dieser Stelle das psychische Über-Ich allmählich die Aufgabe der moralischen Instanz.

Die goldenen moralischen Regeln der Gegenseitigkeit enthalten eine ähnliche Ambivalenz wie die Erkenntnisse der Empathie und Emphronesis, mit denen ich meinem Gegenüber weh oder gut tun kann. Reziprozität ist ein universelles soziales Prinzip. Das alte Testament beleuchtet die eine Seite dieser Medaille: die Talionsformel (“Wie du mir, so ich dir”, Auge um Auge, Zahn um Zahn). Doch bereits mit Scham und Schuld im Gepäck.

Was als Kodex niedergeschrieben ward, darüber kann auch reflektiert und diskutiert werden. Als Homo sapiens erkennen wir, dass man Reziprozität auch auf eine positive Art auslegen und leben kann: “Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu” sowie ein ausgleichendes “Geben und Nehmen”. Wir wissen, dass nicht nur andere an unseren Taten leiden können, sondern auch wir selbst, über die Zeit. Wir vermeiden Schuld und Scham, indem wir so anständig zu anderen Menschen sind, wie wir selbst das gerne von ihnen hätten.

Und zack, sind wir im Neuen Testament, Jesus hält die andere Backe auch noch hin, und wir haben einen gütigen Gott.

Was die nachfolgenden Religions- und Patriarchatshäuptlinge aber übersehen haben, ist dass sich diese moralische Evolution aus Rollenbilder-Perspektive von männlichem zu weiblichem Archetypus entwickelt, und dass man diese Qualitäten auch leben muss, statt sie nur vorzugeben und sich mit Macht und Kontrolle hinter abgewehrten Gefühlen zu verschanzen.

Rollenbilder und Ideale

❞Menschen, die beschämt werden, signalisiert man ein negatives Werturteil über ihre Person. Im Alltag vollzieht sich das vor allen Dingen, wenn Macht- und Statusunterschiede ausgehandelt werden.❞

Sighard Neckel, Soziologe, Interview 8/2024

Echte Männer, echte Frauen

Natürlich ist nicht immer Kritik von außen involviert, wenn es um Scham geht. Schon das schiere Nicht-Genügen vor sich selbst ist im Erwachsenenleben ausreichend, um Scham zu erzeugen.

Gesellschaftliche Geschlechterrollen werden uns in der Kindheit zu einem wesentlichen Teil über Scham eingeimpft und von uns quasi als Schamrisiko internalisiert.

Wo Ideale bestehen, gibt es auch immer Differenzen zum Realen.

Einmal ganz abgesehen von körperlichen Merkmalen bergen die weiblichen Rollenbild-Ideale wie Sanftmut, Mitgefühl, Teilen und Umsorgen, Rücksicht, Intuition und perfekte Mutterschaft einige der Potentiale für Scham bei Frauen*.

Im Unterschied zu den Schampotentialen in männlichen Idealen wie Härte, Kontrolle, Konkurrenzfähigkeit, Mut, Unabhängigkeit, Logik und Leistungsfähigkeit.
(Bei Aufzählung der letzteren wird die enge Verwandtschaft zu neoliberalen Idealen deutlich.)

Interviewantworten aus Brené Browns “grounded theory”-Datensätzen: “Scham ist…”

* meinen Job zu verlieren * unrecht zu haben * meine Kinder anzuschreien * bankrott zu sein * Antidepressiva zu brauchen * Angst zu zeigen * Übergewicht zu haben * meine Sucht zu verbergen * vor Kollegen vom Chef zur Schnecke gemacht zu werden * perfekt aussehen, perfekt machen, perfekt sein: alles was weniger als perfekt ist, ist beschämend * Scheitern bei der Arbeit, am Sportplatz, beim Geld * nie genug sein: bei der Arbeit, für meine Eltern, zu Hause

Bei Konflikten zwischen den Geschlechtern pieksen wir oft unabsichtlich die Schampotentiale des anderen an, ohne ein Gespür dafür zu haben, dass Scham beim anderen Geschlecht auch andere Auslöser hat. Nicht komplett, aber über weite Strecken. Wir finden dann aus unserem persönlichen Schamrisiko-Setting, es wär doch “nicht so schlimm” (zB: die Kinder zu spät abgeholt zu haben, oder: Hilfe zu brauchen), es wäre “nichts wofür man sich schämen müsste”, meinen aber: “nichts wofür ich mit meiner Sozialisierung mich schämen müsste”.
Dass sich aus anderen Kindheiten und anderen Geschlechtern andere Schamrisiken ergeben haben, das spüren und bedenken wir nicht, solange uns der/die Betreffende nicht darüber aufklärt. Und um das zu können, müssten sie erstmal selbst über sich und ihre Schamrisiken bescheidwissen.

Ein paar Zeilen gegen Schwarzweiß

Auch Männern wird gesagt, sie sollen keine Neanderthaler sein, etwas feinfühliger, oder nicht so egoistisch – aber situativ, und nicht prinzipiell, indem es sie “unmännlich” machen würde, wenn sie nicht entsprechen. Ihr gesellschaftlich höherer Status als Mann wird davon nicht bedroht!

Auch Frauen wird gesagt, sie sollen sich besser kontrollieren, keine Heulsuse sein oder “mal logisch denken”; aber nicht, indem es sie “unweiblich” machen würde, wenn sie nicht entsprechen. (Sondern meistens, weil das Zeigen von Gefühlen wieder andere beschämt, die mit ihren Gefühlen nichts zu tun haben wollen. Eine der weiblichen Rollenbild-Vorgaben lautet immerhin, brav im Hintergrund zu bleiben und nicht “anstrengend” oder “mühsam” zu sein.)
Sie sind aber immer noch “Frauen”, wenn sie dem nicht entsprechen.

Anders als Männer, haben sie durch Unangepasstheit an ihr Rollenbild auch keinen so tiefen Fall aus einem gesellschaftlich höheren Status zu befürchten. Man kann das natürlich nicht direkt als “Vorteil” bezeichnen; aber bezogen auf das Shame-Game ist es wahrscheinlich eine kleine Erleichterung gegenüber Männern: Es geht nicht (so sehr) um Statusverlust.

Das Gefühl der Scham ist dennoch für alle Geschlechter schmerzhaft.

Treibende Kraft?

Nun könnte man sich fragen: Wenn Scham uns nicht zur Veränderung treibt, sondern in Rückzug oder Aggression – wie soll Scham dann treibende Kraft hinter geschlechtsbezogenen Rollenbildern sein?

Man muss das wohl als komplexeren Kreislauf betrachten: Scham erleben wir, während wir aufwachsen und “erzogen” werden, allzu oft. Sie bleibt danach in uns als die Angst vor Wertlosigkeit und Verbindungsverlust. Gerade weil Scham so ein furchtbares Gefühl ist, treibt uns nicht sie selbst an, sondern unsere Angst vor Scham und das Vermeiden von Scham. Diese Ängste ruhen nur, wenn wir uns erwartungs- oder rollenbildkonform verhalten. Das ist es, was uns früh in Rollenideale presst und uns später dort hält.

Eigene Wertvorstellungen kommen dann zu unserem idealen Selbst hinzu, und diesem gegenüber soll unser reales Selbst nicht allzu blass aussehen. Deshalb bemühen wir uns, zu entsprechen.

Wenn wir empfundene Scham ausagieren, indem wir unreflektiert und impulsiv reagieren, entsprechen wir dabei oft nicht unseren eigenen Werten. So kommt es, dass Scham oft weitere Scham- oder Schuldgefühle erzeugt.

Scham hat eine große normative Kraft und ermöglicht soziale Kontrolle.

Kontrolle

wiederum ist das, was patriarchale Strukturen ihren männlichen Mitgliedern als Ersatzinstrument anempfehlen, als “Ausgleich” für die abgekappte umfassende Gefühlswelt, (k)ein Ersatz für Resonanz, Lebendigfühlen und Verbindung mit ihrer menschlichen Umwelt und sich selbst. Er, der sich selbst, seine Gefühle, die Dinge und die Menschen seiner Welt unter Kontrolle hat, wird als Mann anerkannt und respektiert.

Das Patriarchat basiert auf der Großen Lüge, es wären eher Abtrennung, Wettbewerb und Kontrolle die Lösung für die Anforderungen des Lebens, als Verbindung, Teilen und Zusammenarbeit. Die Große Lüge trennt Männer von dem, was sie am meisten brauchen, indem sie sie dazu ermutigt, autonom und abgetrennt zu sein, während die menschliche Existenz tatsächlich zutiefst auf zwischenmenschlichen Beziehungen beruht. Was ist ein “Ich” ohne ein “Du”, eine “Mutter” ohne ein “Kind”, eine “Lehrkraft” ohne die “Schüler*innen”? Wer sind wir, wenn nicht unsere Verflechtungen mit anderen Menschen – “Ich bin: ein Vater, ein Ehemann, ein Arbeiter, ein Freund, ein Sohn, ein Bruder”? 

Doch die patriarchale Kultur krempelt die Wahrheit völlig um, und so entwickelt sich der “Self-Made Man” vom Oxymoron zum kulturellen Ideal. Und irgendwo zwischen dem Bedürfnis nach zwischenmenschlicher Verbundenheit und dem Gebot der Kontrolle verschwimmen diese beiden, und näher als über ein Gefühl der Kontrolle kommen viele Männer nicht daran heran, sich mit etwas verbunden zu fühlen, auch nicht mit sich selbst.

Allan G. Johnson “The Gender Knot” S.56, übersetzt von mir

Scham ist in patriarchalen Strukturen ein Gefühl, von dem privilegierte Mitglieder sich befreit fühlen wollen (natürlich nur, sofern sie alles “richtig” machen). “Denn Scham gilt nicht nur in unserer modernen Kultur, sondern in vielen Kulturen in der Welt vor allem als ein weibliches Gefühl”, sagt Sighard Neckel. Ein Grund mehr für Männer, Scham weit von sich zu weisen und ihre Rollenbild-Konformität als “naturgegebene Eigenschaften” betrachten zu wollen. Das ist natürlich eine Illusion, die einen nicht immun gegen Scham macht. Wenn sie dann auftritt und darauf mit Rückzug, Wut oder Gewalt reagiert wird, kapieren oft weder die Reagierenden noch die Mit-Betroffenen, was eigentlich los ist.

Die Kontroll-Besessenheit und der männliche (vermeintliche) Anspruch, Scham nicht empfinden zu müssen, ergibt ein Projektions- und Spannungsfeld, aus dem absehbar wird, dass Menschen (mit Machtansprüchen) die Macht der drohenden Scham als regulatives Instrument nicht links liegen lassen werden.

Wenn man seine menschlichen Bedürfnisse nach Liebe und Zugehörigkeit nicht anerkennen will und gleichzeitig an tiefem Mangel an Verbindung leidet, ist man womöglich leichtere Beute für jene, die sich damit von jeher gut auskennen.

Propaganda

Wenn ich nun lese, was über extremistische Propaganda geschrieben wird, wenn ich zuhöre und hinspüre, wenn Propaganda zu hören ist, dann merke ich immer wieder, dass wir an unserer Scham gepackt werden sollen.

Demütigungserzählung

Wo Propaganda in Büchern analysiert wird, spielen Demütigungserzählungen darin eine wesentliche Rolle. Wir stellen uns eine volle Halle vor, in der der “starke Mann” von der Bühne brüllt.

“Der Staat” wäre gedemütigt worden. “Die Menschen” wären gedemütigt worden, “das Volk”.
“Ein ganzes Jahrhundert der Demütigung” durch “den Westen” hätte das Land hinter sich, und jetzt sei man selbst an der Reihe, den Westen zu demütigen. (Pomerantsev, 2024)
Und das wird oft behauptet, obwohl der “starke Mann” hinter der Propaganda samt seinem Gefolge mitunter schon seit Jahr(zehnt)en das Volk demütigen.

Diese Propaganda-Rezeptur fand sich bei Hitler genauso wie sie bei Trump auftaucht, bei Putin sowie in China.

Wenn sie nicht direkt von Demütigung erzählt, dann bildet die Propaganda Anspruchsdenken und Statusbekräftigungen ab:

“Die “anderen” streben nach (eurer!) Macht. Die wollen das Sozialsystem ausnutzen. Die wollen euch eure Privilegien wegnehmen. Die haben dazu kein Recht!”

Das wahnhafte Opfernarrativ vom “Großen Austausch” (die “weiße” Zivilisation würde durch muslimische Invasion ausgerottet werden) ist ebenfalls die Erzählung einer drohenden Demütigung – die freilich in sich bereits die Rechtfertigung trägt, sich zu wehren, bevor es passiert.

Hierzulande muss man sich oft als “der kleine Mann” von der Straße bezeichnen lassen, der von [beliebigem Demütiger] “für dumm verkauft” wird.
In den USA erzählt Trump, “die Einwanderer” würden “unser Land vergiften” und es “krank machen”.

Das alles ist Aufrufen von Demütigung und Scham.

Identifikation?

Manche der Zuhörenden haben persönlich überhaupt keine Demütigung erleiden müssen, doch wenn sie in der Menge stehen (oder auf Social Media sind) und der Propaganda zuhören, so “finde eine Identifikation statt” – das erzählen diese Bücher. An dieser Stelle enden die psychologischen Analyseversuche darin aber meist.
Es wird so getan, als wäre damit jedem klar, was mit Demütigung und Identifikation gemeint ist, was ihre Folgen sind, womit wir es zu tun haben. Und dann wird von Wut, Hass und Gewalt erzählt.

Doch wieso identifizieren? Wenn ich doch selbst gar nicht betroffen bin?
Vielleicht ist es so: Wir identifizieren uns nicht mit „dem Volk“, verlockt von der angebotenen Zugehörigkeit. Sondern wir identifizieren uns mit den Gefühlen, die die Propaganda aus uns hervorangelt. Das wäre kein Wunder – es sind ja unsere! Wir haben sie nur schon lange nicht mehr gesehen.

Der Missing Link: Unterdrückte Scham

Ein Mensch, der Scham gewohnheitsmäßig abwehrt, statt sie zu benennen, sie als menschlichen Teil von sich anzuerkennen und zu trösten, schiebt das unbewältigte Gefühl in eine Tonne im seelischen Hinterhof mit der Aufschrift “Ungut! Nicht öffnen!”. Und die Wut obendrauf. Und das nächste Schamgefühl hinterher.
Selbst ein Mensch, der seine Gefühle anerkennt, benennt und gut bewältigt, hat wohl keine völlig leere Tonne.

Unbewältigte Gefühle verstärken akute Gefühle.

Löst dann ein Ereignis eine verwandte ungute Empfindung aus, dann ist das akute Gefühl nicht etwa alleinstehend und neu. Wie an einer Kette zieht es ältere unbewältigte Situationen und Gefühle hervor, eines nach dem anderen, womöglich zurück bis an den Beginn unseres Lebens und zu der entsetzlichen, dunklen Leere. Wer hier nicht abwehrt, riskiert die völlige Überforderung. Und Wut steht gleich um die Ecke und wartet auf ihren Einsatz.

Die Propaganda selbst

ist es jedoch, die das emotionale Minenfeld von Demütigung, Verhöhntwerden & Scham überhaupt erst (erneut) aus der Tonne im Hinterhof auf unseren emotionalen Tisch zerrt. Ihre Erwähnung lässt in den Zuhörenden das schmerzhafte und höchst unerwünschte Gefühl von Scham anklingen. Ältere erlebte Momente der Demütigung, Beschämung oder Verhöhnung drängen an die Oberfläche, wollen gesehen und (endlich) getröstet und erlöst werden.

Vorgetäuschtes Mitgefühl und falsche Erlösung

Die Propaganda gibt weiters vor zu wissen, wie die Menschen sich dadurch fühlen, bietet also scheinbar Mitgefühl an. Um sich jedoch sogleich auch als Erretter (und Gestatter) aufzuspielen und kurzerhand zu verkünden, das solcherart gedemütigte “Wir” hätte damit das Recht erworben, nun seinerseits “die anderen” zu demütigen und zu beherrschen.

Derjenige, der die unliebsamen Gefühle hervorangelt, verspricht also auch gleich deren Erlösung: durch Vergeltung.
Voraussetzung für diese Erlösung ist “nur”, dass wir sein Angebot annehmen und uns selbst für zugehörig erklären zur gedemütigten Gruppe. Und natürlich, dass wir die moralischen Implikationen abnicken.

Worauf ich hinaus will, ist offensichtlich: Gefühle werden instrumentalisiert.

Aus jeder Menschenseele kann man an einem bewusst platzierten Haken eine Kette an älteren, schwierigen Gefühlen hervorzerren, die enorm schmerzhaft sind. Und damit Wut hervorrufen.

Scham ist für mich deshalb eine so offensichtliche Verdächtige in dieser Gleichung, weil so gut wie jede/r sie hat, aber niemand etwas mit ihr zu tun haben will. Sie stellt daher den idealen Angriffspunkt für Manipulation dar: Sie ist unbewacht, hinter dem Rücken, den wir selbst ihr zugekehrt haben.

Schamabwehr-Party

Diese oft in Propaganda-Büchern behauptete “Identifikation” der zuhörenden Menge könnte, als Antwort auf die Demütigungserzählung der Propaganda, durchaus eine riesige, groteske Schamabwehr-Party sein. Die heraufbeschworene Scham (i.e. Angst vor dem sozialen Ausschluss, Verlassenheit und Wertlosigkeit), die zu einem kollektiven Empfindungserlebnis wird, zu einem Bad in falschem Mitgefühl, zu einer Vereinigung im Zorn.

Ein Zorn, der sich nicht nur gegen eine beliebige vergangene, gefühlt ungerechte Behandlung richtet. Sondern der noch aufgedoppelt wird vom Ersatzgefühl Wut. Weil wir einfach so viel besser darin sind, wütend zu sein, als den Schmerz der Scham, Verletztheit und Verletzlichkeit tatsächlich zu spüren.

Draufgepackt wird das flaue Gefühl, mit diesen wiedererweckten Gefühlen alleinzubleiben, wenn man sich nicht der Gruppe der Gedemütigten anschließt.

Mob

Die Wut ist da, die Erlösung naht: Ein Mob ist entstanden. Ein Mob, den man allmählich in eine “patriotische” Bewegung ziehen und dort einer weitergehenden Brutalisierung unterziehen kann.

Doch erst einmal musste der Haken in ein sicheres, empfindliches Ziel eingeschlagen werden – eine Stelle, die so gut wie jede/r hat.

Scham ist diese Stelle.

Die Demütigungserzählung diente dazu, sie aufzuspüren und aufzuscheuchen.

Wir gegen die anderen

Männlichkeit & Härte

werden in extremistischen Milieus überbetont. Alles Weiche und Gefühlige, aber auch Bedachtes und Nachhaltiges, alles was neuerdings als „woke“ zusammenfassbar ist, wird abgewertet und verhöhnt. Damit wird noch tiefer in bestehende Kerben der patriarchalen Dichotomie geschlagen. Hypermaskulinität als Selbstwert-Booster gegen jede “drohende” Gleichwertigkeit.

Gerade in solchen hypermaskulinen Sphären ist das Empfinden von (weiblich konnotierter!) Scham ein Grund für massive Abwehr und wird daher eher als Zorn auf andere ausagiert werden. Rechtsextremistische ebenso wie islamistische Milieus sind von Hypermaskulinität geprägt. (Ebner, 2018.) 

Die Anderen: Demütiger und Sündenbock

In der Demütigungserzählung werden freilich auch die Demütiger mitbenannt: Der Islamismus. Der Westen. Die Ukraine. Die Linken. Die Sozen. Die Grünen. Die Kommunisten. Die Migranten. Die Juden. Die Arbeitslosen. Die Sozialschmarotzer. Die aktuelle Regierung, oder die davor.

Alle, nur nicht der “starke Anführer”, der auf der Bühne spricht oder im Fernsehen oder im Internet.

Diese Demütiger sind immer schuld an all den schwierigen Gefühlen. Genau an den Gefühlen, die die Propaganda überhaupt erst neu heraufbeschworen hat.

Der beliebige aktuelle Sündenbock kann, aber muss nicht mit dem Demütiger identisch sein.
Der Sündenbock wird von extremistischer Propaganda markiert, indem er entmenschlicht wird. Damit soll unser natürlicher Widerstand gegen das Verletzen anderer Menschen ausgesetzt werden. Was kein Mensch ist (sondern ein Nagetier, ein Gift oder Ungeziefer), hat keine Rechte mehr und darf demzufolge ohne moralische Bedenken verfolgt und zur Strecke gebracht werden.
Es beginnt mit Worten, immer.

Rache darf auch unfair sein – asymmetrische Konflikte

Sagt man einer gegnerischen Kraft einfach nur den Kampf an, würde das eine Gleichrangigkeit mit ihr implizieren. Doch Rache – die darf auch unfair sein. Demütigungen können auch denen passieren, die den höheren gesellschaftlichen oder politischen Status haben.

Besonders in einem asymmetrischen Konflikt wäre nach einem fairen (Revanche-)Kampf “nur” ein Ausgleich erreicht. Der höhere Status von zuvor, ob eingebildet oder echt, kann aber nur wiederhergestellt werden, wenn die Vergeltung übertrieben heftig, möglichst tödlich ist, und/oder sich auch gegen Sympathisanten des Gegners richtet. (“jujitsu politics”, McCauley & Moskalenko, 2011)

Man kann sich gut vorstellen, wie solche Vorstellungen eine Dynamik befeuern, die sich immer weiter aufschaukelt. Jede Behauptung einer erlittenen Demütigung rechtfertigt dann eine weitere tödliche Vergeltung, auch und vor allem in der Terrorbekämpfung. Terrorismus vollführt eine massive Demütigung, wenn er ohne Vorwarnung viele Wehrlose gewaltsam opfert, und das aus einer illegitimen Position (etwa der selbsternannte “IS” (kein Staat) als Angreifer auf statushöhere, anerkannte Staaten).

Cherry-Picking

Extremistische Propaganda entmenschlicht den Sündenbock, möchte obendrein dennoch übertriebene Vergeltung an ihm üben, ordnet sich selbst dabei den höheren Status zu. Um die eigenen schwierigen Gefühle loszuwerden, aber verantwortungsbefreit.
All dieses geheime Wünschen in die Tat umzusetzen, das verheißt die Propaganda.

Die kollektive Wut aus der Demütigung soll gewaltsam gegen den Sündenbock gerichtet werden.

It runs in the family

❞Die Psychologie der Nazis […] ist charakterisiert durch eine unbewusste Überbetonung väterlicher Autorität, Verantwortungsflucht durch die Schuldzuweisung an Sündenböcke, Überbewertung von Männlichkeit und Geringschätzung für weibliche und empfindsame Einflüsse.❞

(Dicks, 1972, auf Basis seiner Arbeiten aus 1944)

Unsere Vorväter und die Nazis

Demütigung in der Familie, gerne vom Vater zum Sohn, ist/war gängig in “konservativen” Familien und in Familien mit Nazi-Vorvätern. Die Söhne klein machen, damit sie wissen, wo sie hingehören. Der Vater ist der einzige Mann im Haus. Väterliche Anforderungen stellen, die Söhne niemals erfüllen können. Sie demütigen und danach sehnen lassen, eines Tages doch noch die Anerkennung des allmächtigen Mannes zu verdienen und zu empfangen. (Dicks, 1972)
Damit wird die Sehnsucht nach Zuwendung, Anerkennung und Zugehörigkeit als lebenslanger innerer Mangel einzementiert, die gleichzeitig als Schwäche abgelehnt und abgewehrt wird.

Abtrennung statt Verbindung

Die daraus folgende Beziehungslosigkeit und deren Folgen kennt man aus der Forschung als das Konzept des “Autoritären Charakters”. (Adorno et al. 1950; Horkheimer, Fromm & Marcuse 1936)

Und es ist das, was die feministische Arbeit kritisiert: die Abtrennung des männlichen Kindes von seinen menschlichen Bedürfnissen, mit Kontrolle, Angst und Gefühlsabwehr als Ersatzprogramm. Verlust von Kontrolle und Status bergen großes Potential für toxische Mengen Scham, so wie die Abhängigkeit von der erhofften Anerkennung, die dem Ideal der Unabhängigkeit widerspricht.

Zum Trost

in solchen (un)sozialen, autoritären Gebilden darf mann sich qua Penis einer anderen Gruppe unbedingt überlegen fühlen: Frauen.
Dieses Spannungsfeld macht Abwertung von und Hass gegenüber Frauen beinah unumgänglich als Element in der männlichen Selbstwertdynamik.

Er~zieh~ung

Keine Überraschung: In NS-Erziehungs”ratgebern” wie etwa den Büchern und Kursen von Johanna Haarer wurde geraten, Babys schreien zu lassen, damit sie keine “Macht ausüben” (bye-bye bye-bye Urvertrauen), und die Jungs bloß nicht mit Lob, Zuwendung oder gar Anerkennung zu “verwöhnen” (bye-bye Selbstwert), sondern sie weiter “abzuhärten” (hallo Selbstzensur, -beschädigung und -abwertung).

Das transportierte Mutterbild entsprach freilich ganz dem auf Körpervorgänge reduzierten Wert von Frauen im NS.

Ganz verstohlen spende(te)n vielleicht die Mütter den Söhnen ein bisschen geheime Anerkennung – aber weil Frauen ja in diesem Denksystem weniger wert sind, kann das den männlichen Selbstwert auch nicht nachhaltig aufrichten: die Mutter muss einen ja lieben, das ist kein großes Kunststück. (Und so muss es dann auch die spätere Partnerin.)
Diese “Ratgeber” empfahlen, den kleinen Menschen Gefühle und Schmerz auszutreiben und deren Ausdruck zu sanktionieren.

Indem Bezugspersonen ablehnend und abwertend auf Gefühlsausdruck reagieren, werden Gefühle auf einer weiteren Ebene mit Beschämung bestraft – also mit der Angst davor, nicht mehr dazuzugehören. Auch Kinder bei Fehlverhalten alleine wegzusperren gehörte zu diesen “Tipps”, also die Angst vor dem Verlassenwerden zu erzeugen und zu missbrauchen.

Auch die Antroposophie eines Rudolf Steiner, auf dessen Weisheiten die Waldorf-Schulen ihre zweifelhafte Pädagogik aufbauen, strotzen nur so vor autoritären und rassistischen Vorstellungen. Passenderweise rechnete Steiner der weißen Rasse den “Geist” zu, während er anderen Rassen die (implizit minderwertige) “emotionale Ebene” zuteilte und somit all das lästige Gefühle-Haben von sich weg projizierte, das er aber anscheinend durch allerlei Geschwurbel ersetzte.
Kritisches Hinterfragen ist in dieser Tradition bis heute nur ungern gesehen.

In patriarchalen Systemen

hat das Unterdrücken der männlichen Gefühlswelt ja ohnehin eine lange Tradition, nur wenige Gefühle bleiben dem männlichen Kind erlaubt – vor allem die angeblich “starken” Gefühle von Wut. Aber selbst die müssen brav der paternalen Obrigkeit untergeordnet bleiben, die sagt, was erlaubt ist. Die Herabsetzung durch den Vater und die allgegenwärtige Drohung, aus der eigenen Peer-Group als unmännlich ausgeschlossen zu werden, wird über Scham exekutiert.

Die “Weisheiten” aus den Nazi-Erziehungsratgebern halten sich im Gedächtnis des deutschen Sprachraums zum Teil bis heute. Dabei hatten sie nur ein Ziel: Die Jungen für eine möglichst bindungsarme bis bindungsgestörte Zukunft des Gehorsams zurechtzustutzen. Eine Zukunft, in der die Männer ihre militärische Pflicht tun ohne zu fragen, und die Frauen kuschen.  

Eine brauchbare Voraussetzung dafür bildet ein familiäres Klima fehlender Zugehörigkeit, das aus Härte, Enttäuschung und Mangel an zwischenmenschlicher Wärme besteht (und der unterdrückten Sehnsucht danach).

Den jungen Menschen mit der Bindungsstörung kommt es gelegen, wenn sie ihr vergebliches Sehnen nach der Anerkennung durch die gestrenge Vaterfigur auf den nächsten starken Mann übertragen können. Womöglich obendrein enttäuscht von Vater Staat, wendet man sich hin zu einer neuen Anführerfigur, auf die man seine Illusionen von einem gerechteren Vater projizieren kann, der sich kümmern wird.

Parolen wie “Wir sind das Volk” (= “und nicht DIE!”) deuten auf dieses Enttäuschtsein von Papa Staat hin, was in Zusammenschau mit dem propagierten Individualismus und der individuellen Freiheit paradox wirkt, aber punktgenau die gemeinte Ambivalenz widerspiegeln dürfte.

Faschisten kommt es sehr gelegen, per Propaganda in einer tiefen, existenziellen Angst aus frühester Kindheit einhaken zu können und sie für ihre Zwecke zu nutzen, um Menschen mit großer Wut ausgestattet auf beliebige Ziele zu lenken.
Jemand mit schwacher familiärer Bindung kann leichter losgelöst und in die Truppe übernommen werden. Die Nazis nutzten diese beziehungslose Ambivalenz zwischen Mangel und Sehnsucht: SS-Ausbilder spielten in einer Doppelrolle sowohl den liebevollen Gruppenpapa wie den furchterregenden Brutalo, der die Schwachen demütigt und bestraft. (Dicks, 1972)

Versprechen der extremistischen Propaganda

Versprechen: Zugehörigkeit, Anerkennung, Mitgefühl

Wiewohl wir spüren, dass Mitgefühl genau die richtige Medizin gegen unsere Scham wäre, stellt diese Art von vorgetäuschtem Mitgefühl einen “near enemy” des echten Mitgefühls dar.

Wahlkampf-Parolen wie “Der einzige auf eurer Seite” oder “… der eure Sprache spricht” arbeiten mit diesem Versprechen von Mitgefühl.

In der großen Propaganda-Halle soll aber nicht, wie von der Seele erhofft, das schwierige Gefühl der Scham in einem sozialen Akt des Verstehens und Verbindens erleichtert werden; es zielt darauf ab, die Abwehr zu verstärken, Wutgefühle zu instrumentalisieren und zu kanalisieren.

Gleichzeitig verspricht die Propaganda eine Aufwertung des Ich durch die Zugehörigkeit zu etwas, das größer ist als ich selbst – eines der ursprünglichsten Bedürfnisse des Menschen überhaupt. Das macht das Angebot besonders verlockend für Menschen aus Familien ohne enge Zugehörigkeit: Man ist mit seinen Gefühlen nicht allein, und wird das auch in seinem Rachedurst nicht sein. Das vergrößert die Aussicht auf die erhoffte Gefühlserleichterung aus der versprochenen Vergeltung.

Als Bonus rückt die lang ersehnte Anerkennung des “großen, mächtigen Mannes” endlich in greifbare Nähe.

Versprechen: Vergeltung

Als nächstes verspricht die Propaganda (direkt oder indirekt), dass der “starke Mann” Vergeltung üben wird. Weil er uns und unsere Gefühle versteht, wird er uns zu unserer Vergeltung verhelfen. Für die erlittene Demütigung. D.h. für die schmerzhaften, unbewältigten Gefühle, die er eigenhändig hervorgezerrt hat. Hitler versprach sogar wörtlich die Vergeltung “für jede Demütigung”.

Woher diese Gefühle tatsächlich stammen, wird an diesem Punkt nebensächlich – ob aus der konkret erwähnten Demütigung, oder aber aus einer anderen: in der Kindheit, der Jugend, der Ursprungsfamilie, aus einer erlittenen Gewalttat.

Oder gar aus einer Situation, die wir (als Mensch oder als Staat) selbst verursacht haben, weil wir Fehler gemacht haben, die Konsequenzen nach sich zogen? Die andere dazu brachten, sich von uns abzuwenden, uns Widerstand zu leisten oder von uns Reparationen zu fordern?
“Woher ist egal! Wir wurden gedemütigt, wir sind daran nicht schuld, und uns vereint jetzt die Wut auf die bösen Gefühle – äh, Demütiger!”

Es wird dabei freilich nicht thematisiert, dass diese Haltung in eine Endlosschleife von Gewalt und Rache führt, von Demütigung und neuer Demütigung, von Scham und Wut. Geradezu psychisch intuitiv wird das, wenn bereits in der Ursprungsfamilie die Demütigung und Repressalien seit jeher dem alttestamentarischen lex talionis folgen – Auge um Auge. “Endlich, ein Sohn, den ich selbst demütigen kann. Mir hat’s ja auch nicht geschadet.”

Die Prämisse “Vergeltung erlaubt” wird dabei weder moralisch noch rechtlich hinterfragt. Das rechtsstaatliche Prinzip einer Demokratie wird ignoriert oder seine implizite Aussetzung sogar begrüßt, und eine völlig subjektive Selbstjustiz in Aussicht gestellt. Natürlich ohne zu erwähnen, dass jede Willkür, ist sie erst akzeptiert, sich auch ganz schnell gegen einen selbst wenden kann.

Es ist selbstverständlich nicht unsere Vergeltung, zu der der “starke Anführer” uns verhelfen will.
Sondern es ist seine Vergeltung, zu der wir ihm verhelfen sollen. Während er sich gemütlich in einer Kommandozentrale verschanzt, um dort seine eigenen Gefühle von Kontrolle, Macht und Überlegenheit auszubauen.

Versprechen: Überlegenheit

Würde die extremistische Überzeugung wahrhaftig und universell vertreten, dass man als Gedemütigter prinzipiell Anspruch darauf hätte, andere zu demütigen und zu beherrschen – wie groß müsste demnach erst der Anspruch sein, den man den seit Jahrhunderten unterdrückten und marginalisierten Gruppen zugestehen müsste? Menschen, die nicht weiß sind? Die keine Männer sind? Die nicht “der Norm” entsprechen?
Doch dieses Zugeständnis gibt es nicht. Die Demütigungserzählung enthält also offensichtlich auch die unausgesprochene Prämisse, dass der eigenen Gruppe wertmäßige Überlegenheit zuzukommen hat (Chauvinismus).

Richtet man seinen aufmerksamen Blick dorthin, dann fällt auf: Eine künstlich überhöhte Haltung der Überlegenheit scheint sehr häufig mit Demütigungsgefühlen einherzugehen. Man möchte fast die Bescheidenheit in handliche Portionen abfüllen und austeilen.

Zu betonen ist hier, wie mit der narzisstischen Haltung “Ich bin mehr wert als andere” dem persönlichen, schamriskanten Spannungsfeld zwischen realem und idealem Selbstbild künstlich weitere Volt hinzugefügt werden. Und dass das mitnichten Privatsache ist. Denn mit der Selbstüberhöhung brockt man sich nicht nur selbst völlig unnötig schwierige Gefühle ein. Man eignet sich auch die Gefühle jener Menschen an, die in niedrigeren Positionen der gesellschaftlichen Hierarchie tatsächlich dazu Anlass haben, sich gedemütigt zu fühlen. Man drängt damit deren Anliegen und Gefühle in die Unsichtbarkeit ab, und sich selbst in den Vordergrund. Eine Ausdrucksform der patriarchal legitimierten Selbstzentriertheit, auch bekannt als “making it all about me”.

Damit enthalten die rechtsextremen Demütigungserzählungen eine dreimal eingeschneckte Ich-Botschaft über den Status, und ein Signal der Bereitschaft, “die anderen” noch weiter von ihren Rängen zu schubsen.

Versprechen: Wir Opfer sind nicht verantwortlich.

Rechtsextreme Propaganda besetzt notorisch die Opferrolle. Vordergründig wirkt das oft so, als wollte sie vor allem Mitleid erregen. Auch die oft wehleidig wirkenden Reaktionen auf eigene Provokationen scheinen das nahezulegen.
Doch für ihre bestehende Anhängerschaft und für jene, die sie neu ansprechen will, ist das keine reine Mitleidsnummer. (siehe dazu den vorigen Absatz “Versprechen: Überlegenheit”)

Die Propaganda-Botschaft erteilt der menschlichen Psyche die Erlaubnis dafür, dass sie als “Opfer” (der Demütigung) schwierige Gefühle und dunkle Aspekte des Selbst von sich weg projizieren darf. Und liefert die Projektionsfläche, die vermeintlichen Demütiger, gleich mit. Sie bestätigt damit die irrige Auffassung, dass man für seine eigenen Gefühle keinerlei Verantwortung tragen würde.

Im selben Atemzug macht sie das unterschwellige oder auch explizite Angebot, Gefühlsprobleme mit Gewalt zu lösen: durch Vergeltung ohne Verantwortung! Denn der “starke Mann” hat’s erlaubt.
Die Absicht dahinter ist nichts Geringeres als die feindliche Übernahme der Moral im individuellen Über-Ich durch eine fremde moralische Instanz, die fortan über Gut und Böse entscheidet. (Dicks, 1972)

Möglicherweise wird das sogar erleichtert, indem die Demütigungserzählung die ursprünglichsten Gefühle von Verlassenheit mit-aufruft und daher ein stärkeres Gefälle für Regression bildet? [Regression: das Zurückfallen in frühere Stufen der psychischen Entwicklung bei Krisen, Trauma, Stress] Und gleichzeitig womöglich den frühnarzisstischen Anspruch auf Omnipotenz weckt?

Gar nicht soo ironisch gemeint: Der “gr0ße Austausch” ist also womöglich auf absurde Art realer als gedacht – nur verortet ihn die mythenaffine Anhängerschaft im Außen, statt unter ihrer Wahrnehmungsschwelle in ihrem eigenen Moralempfinden danach zu suchen.

Aus gespielten Opfern werden echte Täter

an genau dieser Stelle. Weil ein “starker Anführer” es ihnen erlaubt und sie mit der nötigen Wut ausgestattet hat. Eine Stelle, an der wohl alles Denken schwarzweiß werden dürfte, in einer geradezu borderline-artigen Spaltung zwischen Gut und Böse: “Wir gegen die Demütiger! Alles Böse ist in den anderen!”
(Plus Einfordern der Beißhemmung, man denke an das stets wehleidige Beklagen der bösen “Nazi-Keule”. Wo die geistige Rechtsabteilung der Außenstehenden intuitiv erkennt, wenn jemand sich ohne Verantwortlichkeit und historischen Kontext über geltendes Recht hinwegsetzen will, hängt im fremdbestimmten Über-Ich anscheinend ein blinder Spiegel.)

Irrwitz und Anspruch

Der Demütiger ist also immer der, der “angefangen hat”? Diese Anschauung auf allen Seiten führt insgesamt weitergedacht zu der irrwitzigen Auffassung, dass in der Geschichte der letzten tausend(en) Jahre nie jemand “angefangen” hat, wenn es nach den Aggressoren geht – und schon gar nicht der Aggressor selbst. Es war stets nur ein “Zurückholen” dessen, was uns “zusteht”, Vergeltungsschläge für die jeweils davorliegende, wie aus dem Nichts gekommene Demütigung.

Das ist Anspruchsdenken im großen Stil. Ganz so, wie es in Putins imperialistischer Propaganda enthalten ist. Denn die Demütigung wird nie hinterfragt, und daher auch nicht erwogen, dass deren Empfindung das Ergebnis einer zuvor vertretenen Anspruchshaltung sein könnte, auf Kontrolle, Territorium, Status und Macht – ein Anspruch, der womöglich scheitern musste, etwa weil er schlicht nicht angemessen war?

Auf einer individuellen Ebene auch nie hinterfragt: Was war ich zuerst? Überlegen, gedemütigt oder rechts?

The show must go on

Paradox wirkt hierbei, wie wenig die extremistische Hypermännlichkeit dabei zu finden scheint, sich ständig als Opfer darzustellen. Als würde das keinerlei Gefahrenpotential für “unmännliche” Scham bergen?
Ich denke, dass in einer extremistischen Dynamik aus Überlegenheit, Opferhaltung und Demütigungserzählung stetig neues Momentum für die Scham-Wut-Spirale generiert wird, damit die angestrebte Gewaltbereitschaft nicht versehentlich verebbt.

Versprechen: Wegschauen-Dürfen bei schwierigen Gefühlen

Extremistische Propaganda enthält das Angebot, dass wir uns um die Bewältigung schwieriger Gefühle herumdrücken dürfen, indem wir das Problem (unser inneres!) mit Gewalt lösen (und uns damit vermeintlich selbst er-lösen).

Damit wird verhindert, dass Menschen seelisch heranreifen, dass sie sich mutig und neugierig mit ihrer Gefühlswelt befassen und sich ihrer Verantwortung für ihr Tun, Fühlen und seelisches Wohlbefinden stellen. Womöglich setzt sie auch bereits Erlerntes gezielt außer Kraft.

Solange der Mob seine Gefühle nicht besieht, kann er wenn nötig jederzeit am selben Haken gepackt und auf ein weiteres Ziel gelenkt werden. Hauptsache, die versprochene Vergeltung findet endlich statt, damit das schwierige Gefühl abreagiert werden kann.

Die sogenannten “Abgehängten” etwa, die “Globalisierungsverlierer”, die enttäuscht von den Wohlstandsversprechen des Neoliberalismus beinah schon klischeehaft als Anhänger rechtsextremer Parolen gelten, haben signifikant höhere Werte in der Kategorie “Anspruchsdenken” (als “entsichert Marktförmige”, FES-Mitte-Studie, 2023). Das lässt vermuten, dass in ihrem Hinterhof eine Tonne voll mit Scham, Wut und Demütigungserlebnissen steht.
Denn wer sich für anspruchsberechtigt hält und enttäuscht wird, erlebt das als Angriff auf seinen Wert.

In engem Zusammenhang mit der Vermeidung der seelischen Auseinandersetzung sehe ich auch die Todesverliebtheit und -verehrung im Faschismus. Denn mit einer derart unterdrückten, ruinierten Gefühlswelt ist der Tod auch eine Möglichkeit der Erlösung von sich selbst und von quälendem seelischen Schmerz. Attraktiverweise ist die Option auf Märtyrertum bei rechtsextremen und islamistischen Fundis inklusive, was verheißt, den Selbstwert noch in der letzten Lebensminute zu steigern.

Keine weiteren Fragen

Menschen psychisch nicht (gesund) heranreifen zu lassen hat weitere Vorteile für Faschos: Solche Menschen hinterfragen nicht die impliziten Versprechen und falschen Prämissen der Propaganda, wie ich sie oben aufgezählt habe.

Dass Propaganda den vorangegangenen Kontext der erzählten Demütigung immer ausblendet, ist für mich einer der klaren Hinweise, dass es dabei nie und nimmer darum gehen kann, jemanden respektvoll zur Verantwortung zu ziehen. Sondern nur darum, die Opferrolle zu besetzen, die Beißhemmung der anderen auszulösen und die Demütigungsreaktion in den dafür offenen Menschen aufzurufen, um Gewaltbereitschaft zu erzeugen. Es wird das Wissen darum gezielt instrumentalisiert, dass Menschen ihrer Scham nicht ins Auge blicken wollen und können. Und sich daher lieber auf die Wutkomponente der Demütigung konzentrieren.

Die Anrufungen der Scham und die daran geketteten Erlösungsversprechen sind freilich auch in schriftlicher Form sehr ansteckend, wie auf Social Media oder auf Telegram.

Viele Verschwörungsmythen sind Demütigungserzählungen, die die Erleichterung aus der zuvor generierten Scham der bisherigen Ahnungslosigkeit und Naivität gleich mitliefern – indem man zum Wissenden wird.

Die Angst vor Scham bietet auch eine wirksame Barriere vor einem Wieder-Ausstieg aus der Verschwörungsgläubigkeit, selbst wenn diese sich allzu offensichtlich zueinander unlogisch verhalten – schließlich ist es ein Schamrisiko, man könnte (erst recht!) leichtgläubig und unkritisch gewesen sein und sich in allem geirrt haben.

Scham-Resilienz!

❞Scham bezieht ihre Macht aus ihrer Unaussprechlichkeit.❞

Brené Brown

Scham-Resilienz dreht sich darum, sich von Scham hin zu Mitgefühl zu bewegen. Wenn Scham in uns aufsteigt, sollen wir immer noch in der Lage sein, authentisch zu agieren und unseren Werten treu zu bleiben.

Das geschieht, indem wir Scham den Wind aus den Segeln nehmen, weil wir entgegengesetzte Empfindungen suchen:
Verständnis und Mitgefühl (auch von sich selbst), echte Zugehörigkeit, von vertrauenswürdigen Menschen geschätzt und verstanden werden. So lernen wir, uns nicht von Scham überwältigen zu lassen, auch wenn es dagegen keine Resistenz gibt.

Aus der schamauslösenden Erfahrung können wir lernen, wie wir mit mehr Mut und Verbundenheit aus solchen Erlebnissen hervorgehen können.

Scham-Resilienz, frei nach Vorschlägen von Brené Brown:

  • Persönliche Scham-Auslöser begreifen:
    Gewisse Botschaften und Erwartungen aus unserer persönlichen Geschichte und aus Rollenbild-Klischees hinterlassen auch ganz persönliche Widerhaken, die unsere Scham weiterhin auslösen können. Zu wissen, welchen Rollenbildern und Erwartungen wir tatsächlich entsprechen oder nicht entsprechen wollen und warum, ist ein wichtiger Faktor bei Scham. Wenn wir Gefühle der Wertlosigkeit unbesehen ausagieren, entsprechen wir nicht unseren Werten und verstärken damit noch unsere Scham.
  • Scham erkennen:
    Daher: Scham nicht wegschieben, sondern lernen, sie an uns selbst zu erkennen. Über typische körperliche Erscheinungen wie Hitze, Panik, Angst, kribbelnde Gliedmaßen, unwillkürliche Lautäußerungen, Bauchweh, Herzklopfen, Symptome aus Flucht- oder Angriff-Reaktion.
    Oder auch über…

  • Reaktionsimpulse: anerkennen und aussitzen:
    Mitunter merken wir erst an den aufkommenden Impulsen, dass wir eigentlich Scham empfinden: wir wollen mit Beschimpfungen, Schuldzuweisungen, Erniedrigung oder Machtmissbrauch zurückschlagen; wir beschimpfen uns selbst; wir verstecken uns hinter Lügen und Ausreden; wir isolieren uns von anderen.
    Wir können diese Impulse bemerken und uns trotzdem Zeit geben, um erstmal zum regulären Seelenzustand zurückzufinden. Wenn die Amygdala uns übernimmt, braucht es Zeit, bis unser vernunftbegabtes Frontalhirn sich wieder dazuschalten darf. Den Atem mit dem Bewusstsein zu verfolgen und die großen Muskeln zu bewegen hilft, das Adrenalin im Körper abzubauen, bis sich der erste akute Gefühlsaufruhr gelegt hat.

  • Scham anerkennen und benennen:
    Mitgefühl mit sich selbst aufbringen, und zwar so viel wie für die liebsten Freund*innen bei unangenehmen Erlebnissen. Heißt auch: uns selbst nicht zusätzlich runtermachen (oder auch künstlich erhöhen). Der Grat zwischen Selbstüberhöhung und Einbruch in die Wertlosigkeit ist viel schmäler, als man vermuten würde. Selbstbezichtigungen, Aufplustern oder auch Verharmlosung bemerken und sanft auf mitfühlende Gedanken korrigieren.
  • Scham aussprechen:
    Mit vertrauenswürdigen Menschen Verbindung aufnehmen und über das Erlebte und unser Gefühl von Scham reden. Scham benennen, vor uns selbst und anderen.
    Scham isoliert – Mitgefühl erzeugt Verbindung. Mitgefühl ist der Endgegner von Scham.

Wenn wir Scham-Resilienz erlernen, weil vielen von uns klarer wird, was für eine große Bedeutung unerkannte Scham für unser zwischenmenschliches Verbinden oder Entfremden hat – dann könnte das unsere Gesellschaft nachhaltig verändern.

Beispiele

Österreich

Die Erzählung

Wie sehr sich gerade die am besten Situierten in diesem Land ständig gedemütigt fühlen und uns nahelegen wollen, das doch endlich auch zu spüren, kann man bei jedem Blick in eine beliebige Zeitung ablesen, oder hier:

  • Bundeskanzler Nehammer empört sich im laufenden NR-Wahlkampf, das SPÖ-Modell von Andreas Babler gegen Kinderarmut würde “alle verhöhnen, die täglich zur Arbeit gehen”.
  • Der generelle Überlegenheitsduktus der ÖVP enthält gleichzeitig eine Demütigungserzählung, da sie sich und ihre Klientel als diejenigen darstellen, die “das alles zahlen” müssen – immer, egal worum es gerade geht. Wenn die Wirtschaft Zuwendungen und Förderungen vom Staat erhält, ist für sie das recht und billig. Für die Öffentlichkeit herauszufinden, wer wieviel bekommen hat, dauert Jahre. Alle anderen Empfänger*innen staatlicher Leistungen sind für sie faule Sozialschmarotzer, die ihr und den anderen “Leistungsträgern” persönlich in den Taschen hängen.
  • Kickl (FPÖ) schwadroniert im Jänner 2024 vom “Abstreifen der Ketten” und davon, dass von den “Peinigern und Unterdrückern” in den Regierungsämtern “Erlösung in Sicht” wäre.
  • Udo Landbauer (FPÖ NÖ) benutzt den Begriff “Terrorist” für Nicht-Terroristen. Zum Beispiel für Klimaaktivist*innen. Es sei aber “nur eine Redewendung”, über die man “keine Wortklauberei” betreiben dürfe.
  • Auch das Anprangern der Corona-Schutzmaßnahmen durch die FPÖ als “Corona-Diktatur”, “Impfterror” und “Maskenzwang” schlägt in dieselbe Kerbe (arme Gedemütigte, böse Demütiger!).

    Dass die FPÖ selbst es in ihrer Überlegenheit nicht nötig hat, an einer wie immer gearteten Gemeinschaftsanstrengung oder Solidarität mitzuwirken, fällt unter den Tisch.

Die Vergeltung

Bezeichnenderweise läuft es letztlich immer darauf hinaus, dass die angeblich so arg gedemütigten Rechten sich an (ganz) anderen rächen und/oder sie demütigen “dürfen”:

  • Wir haben alle noch Nehammers rohe Bürgerlichkeit im Ohr, mit der in einem geleakten Video vor einem Jahr für das ganze Land zu hören war, wie er wirklich denkt über Teilzeitkräfte, Armutsbetroffene, Gewerkschaften und Lohnerhöhungen. Und seine Vorstellungen davon, wie man mit zu wenig Geld seinen Kindern eine gesunde Mahlzeit organisiert. (Witzig, dass er später die Flucht nach vorn anzutreten meinte mit der Ansage, er glaube wirklich daran, dass “Leistung sich lohnen” müsse. Unbezahlte Care-Arbeit kommt in seiner kleinen Welt einfach nicht vor.)
  • Diejenigen, die sich vor Covid schützen, oder mittlerweile auch: die Klimakrise benennen, markiert die rechtsextreme Bubble in ihrer persönlichen Hierarchie gezielt mit einem Begriff, der schon historisch Frauen erniedrigt hat: “Hysterie” – und wertet damit ganze Wissenschaftszweige ab.
  • Landbauer (FPÖ NÖ) stellt die Gültigkeit der Menschenrechte für all jene in Frage, die keine österreichische Staatsbürgerschaft besitzen (Standard-Interview).
  • Die Politologin Kathrin Stainer-Hämmerle ordnete die FPÖ-Bedingungen für die Koalition mit der ÖVP in Niederösterreich und die Stimmverweigerung der FPÖ für Mikl-Leitner als Landeshauptfrau als “demütigend” ein.
  • Die Exklusion und Erniedrigung von Asylwerber*innen in NÖ durch eine “Bezahlkarte” (von derselben FPÖ forciert, die in einem EU-Schattenboxen gegen “Bargeldabschaffung” kämpft): Keine Öffis, keine Sozialmärkte, Shop-Partner auf einer Liste, die nicht aktuell ist, und 1€ Abzug vom bisherigen Geld als Provision für Cui Bono.
    Wird wohl bald auf ganz Österreich ausgeweitet.
  • Europapolitisch wettert Vilimsky gegen die Ukraine-Hilfe, was zeigen dürfte, wie glaubhaft die FPÖ ihrerseits Putins eigene Demütigungspropaganda findet.
  • Die EU, die in den letzten Jahrzehnten in Europa für internationale Zusammenarbeit und damit für Frieden gesorgt hat, und die der Ukraine dabei hilft, sich dem russischen Angriffskrieg zu widersetzen, wurde auf EU-Wahlplakaten der FPÖ zur “Kriegstreiberin” degradiert.
  • Gender-, inklusions- und transfeindliche Narrative werden aus der russischen Propaganda übernommen und damit auf Minderheiten hingepeckt.
    Es könnte einem egal sein, ob andere ebenfalls selbst über ihren Körper und ihr Leben bestimmen dürfen, wenn:
    1) die aufgeblasene Überlegenheit echt und unangreifbar wäre, oder
    2) man sich seiner Gleichwertigkeit gegenüber allen anderen Menschen bewusst wäre.
    Beides ist hier offensichtlich nicht der Fall.
  • Un-Komisch:
    In einem Comic-Büchlein “für Kinder” (Gestaltung und Verteilung: Junge FPÖ im laufenden NR-Wahlkampf) wird ein Muttervogel von einem Windrad verletzt (=die ungerechte Demütigung). Im Mittelteil triefen die Klischees, politische Mitbewerber und weitere Menschen werden über eine Art Prestige-Skala der Vogelwelt von unten nach oben angeordnet. An deren Spitze finden wir freilich Kickl in Gestalt eines Rache- äh, Steinadlers, und am Ende wird gemeinsam mit anderen das Windrad abgerissen.

    Kritische Stimmen online und in der Kärntner “Kleinen Zeitung” bemerkten nur das Offensichtliche: die enthaltene „Entmenschlichung“. Dies ließe sich (auf die gewohnt scheinheilige Art zumindest) leicht entkräften: Kickl selbst wird darin auch „entmenschlicht“ – allerdings nicht gerade zum Wüstengeier, zu denen andere Lieblingsfeinde der FPÖ darin werden. Wir haben aber nicht vergessen, dass der Steinadler ein Raubtier ist.

    “Man hat uns völlig unberechtigt wehgetan, und als Antwort darauf bekommen wir nicht nur die Erlaubnis vom Mann an der Parteispitze, sondern sogar sein Mitwirken und Anführen, um die gefühlte Ungerechtigkeit selbst zu ahnden und dabei öffentliches Eigentum zu zerstören.”
    Das Thema des Comics ist Demütigung, Vergeltung und Selbstjustiz.
    Das ist die Vorstellung von Moral und Heldentum der Jungen FPÖ, die sie mit diesem Büchlein schon unseren Kleinsten anempfehlen möchte.
    Und dazu habe ich bisher leider keinerlei Kommentar vernommen.

    Die Feindlichkeit der Rechtsextremen gegenüber erneuerbaren Energien pisst uns dabei nur im Vorbeilaufen ans Bein.
    Als Grundlage wird eine Demütigungserzählung benutzt, die sich den Opfermythos* “Vögel-Massensterben durch Windräder” an die Brust heftet. Und damit jegliche eigene Beteiligung an einer Vorgeschichte von vornherein ausschließt.
    (* Ein Opfermythos, der sich in einer großen Studie so übrigens nicht bestätigen ließ (Artikel).)

    Bittere Ironie der Wirklichkeit ist, was tatsächlich das Leben der Vögel bedroht: Tagelange, massive Regenfälle, wie sie in der Klimakrise durch die erhöhten Meerestemperaturen gehäufter auftreten. Zuletzt bei der Flutkatastrophe in Wien und Niederösterreich sichtbar: Der Regen entzieht Schwalben ihre Nahrung, hindert sie am Flug nach Süden und lässt sie zu Tausenden entkräftet am Boden stranden, wo sie menschliche Hilfe brauchen oder einfach verenden. So wie übrigens viele andere Wildtiere in den Überschwemmungen umkommen.
  • Und das von einer Partei, die 2017 einen antifaschistischen Vortrag in einer Schule abbrechen ließ und daraufhin tatsächlich eine Meldestelle auf ihrer Partei-Website(!) einrichtete (die sie später wieder offline nehmen musste). Alles in ihrer Angst, Lehrer*innen würden “linkes Gedankengut in die Köpfe ihrer Schüler verpflanzen”.
    So fühlt sich Gedemütigtwerden für die FPÖ an: Antifaschismus in der Schule. Von einem Vortrag gegen Faschismus, dem “Dogma der Anti-Humanität” (Zweig, 1942)!
    Die Verpflanzung rechtsextremen Gedankengutes in die Köpfe von Kindern über ein Comic-Büchlein aus den eigenen Reihen findet die FPÖ hingegen offenbar unproblematisch.
    Jetzt aber naht die Vergeltung: Im aktuellen Wahlprogramm will die FPÖ dafür jetzt eine bundesweite Meldestelle, vulgo: “Lehrerpranger”. Dunkle Zeiten.

Zitat: System-Problem Scham

❞Immer wenn die Kultur einer beliebigen Organisation es gebietet, dass den Ruf des Systems und seiner Machthaber zu schützen wichtiger sei als die Menschenwürde derer zu schützen, die im Dienst dieses Systems stehen oder von ihm bedient werden, kann man sicher sein, dass dort Scham systemisch ist, die Ethik von Geld bestimmt wird, und die Verantwortung gestorben ist. Das gilt für Firmen, NGOs, Universitäten, Regierungen, Glaubensgemeinschaften, Schulen, Familien und den Sport.
Man denke an einen beliebigen Skandal zurück, der von Vertuschungen geprägt war, und man findet genau dieses Muster. Und Aufklärung wie Restitution dieser Vertuschungen geschehen fast immer in der “Wildnis” – wenn eine einzelne Person aus ihrem “Bunker” hervortritt und die Wahrheit aus ihrer Sicht ausspricht.❞
(Brené Brown, “Braving the Wilderness: The Quest for True Belonging and the Courage to Stand Alone”, übersetzt von mir)

USA, exemplarisch: Trump’s Pussy

Trumps Aufruf aus dem Wahlkampf gegen Hillary Clinton “Grab ’em by the pussy” enthält bezüglich Demütigung, Rollenbild, Patriarchat und Misogynie geradezu eine Dreifachbödigkeit:

“Pussy” ist im Englischen das Nr. 1-Wort, mit dem Jungen und Männer gemaßregelt werden. An einen jungen Männerkopf geworfen soll das Wort ihn für gezeigte “Schwäche” (Zögern oder Ängstlichkeit) beschämen, was ihn zwingen soll, schleunigst auf den scharf eingegrenzten Pfad der männlichen Rollenbild-Erfüllung zurückzukehren. Implizit ist die Konsequenz, ihn anderenfalls aus der Zugehörigkeit zur Männerschaft auszuschließen.

Die geringere Wertigkeit von Frauen und weiblichen Sexualorganen ist ebenfalls enthalten – das Wort wirft Frauen und ihr Geschlecht in eine Schublade der abfälligen Schimpfwörter, der entmenschlichten Unwürdigen, setzt Frauen mit Schwäche und Feigheit gleich.

(Später müssen viele der als Pussy Beschimpften feststellen, dass das Teil doch ganz interessant ist und versuchen, es exklusiv zu erobern, obwohl sie es verachtenswert finden sollen. Es wäre wundersam, würde so viel gequirlter Bullshit keine potentiell explosive Ambivalenz erzeugen.)

Eine andere Übersetzung für das weibliche Geschlechtsorgan?
Scham.

Gepackt werden sollen wir genau da.

Abhilfe?

Wenn man der gewalttätigen Auswirkungen unbearbeiteter Scham gewahr wird, erkennt man leicht, wie wenig zielführend es sein wird, Scham mit Scham zu bekämpfen. Unsere Kultur(en) arbeiten bereits mit zu viel Beschämung, und nicht mit zu wenig.

Selbst narzisstische Persönlichkeiten wird man mit Scham nicht auf ihre Originalgröße zurückstutzen. Es wird zu wenig verstanden, dass deren nach außen zur Schau gestellte Grandiosität und Egomanie keinem übertrieben ausgeprägtem Selbstwert entspringt, sondern einem fragilen.

❞Narzissmus ist die schambasierte Angst davor, gewöhnlich zu sein. Die Angst, sich nie außergewöhnlich genug zu fühlen, um bemerkt zu werden, um liebenswert zu sein, um dazuzugehören oder ein Gefühl der Bestimmung zu kultivieren.❞

(Brené Brown, 2012)

❞Wer sich keine affizierende Wirksamkeit zutraut, wer die Erfahrung nicht gemacht oder verlernt hat, dass er oder sie intrinsisch zu berühren und eine entgegenkommende Antwort auszulösen vermag, wird sich darauf beschränken, der Welt der Menschen und der Dinge aggressiv-manipulativ zu begegnen.❞

(Hartmut Rosa, 2018)

Der Weg aus der Scham führt über Mitgefühl und zwischenmenschliche Verbundenheit. Dazu gehören Menschen, deren Moral und Grenzen gleichermaßen funktionsfähig und stabil sind. Denn nur mit Grenzen gibt es Mitgefühl, in dem man sich nicht selbst verlieren würde.

Dazu gehört eine lernwillige Kultur der verantwortungsvollen Menschenfreundlichkeit. Eine Kultur, mit der Organisationen, Systeme und Staaten ihren Menschen echte Zugehörigkeit und Akzeptanz zu bieten haben.

Statt Menschen in Echokammern aufzuspalten, aus denen sie hervorschimpfen, während sie sich voreinander verstecken. Statt einer Kultur, in der ihr menschliches Bedürfnis nach Wert, Zugehörigkeit und Resonanz in ein Objektbegehren übersetzt (Rosa, 2018) und mit verfügbaren Konsumobjekten beantwortet wird.

Menschen brauchen Räume, in denen sie gewollt sind, in denen sie vertrauen können und sich trauen: mitzuwirken, sich zu Wort zu melden, innovativ zu sein.

Unsere Systeme bieten: Konkurrenzkampf, Rollenbild-Besessenheit, Wachstumsdiktat, Vergleichssucht, Sündenbocksuche, emotionale Oberflächlichkeit und sich aufschaukelnde Affekte. Sie machen Menschen klein und wertlos, wenn sie im Leistungswahn der Selbstoptimierung unter individualistischem Alleinkämpfertum nicht mithalten können oder wollen, und verbuchen sie unter Kollateralschaden.

Völlig unreligiös gemeint

Man muss nicht gläubig sein, um zu erkennen, dass der Übergang vom lex talionis im Alten Testament zu Jesus’ Lehren der Nächstenliebe und Vergebung im Neuen Testament der Menschheit einen Ausweg zeigen wollte aus dem endlosen Teufelskreis von Demütigung und Rache, Scham und Wut, Verbindungssehnsucht und Verbindungsverlust, Gewalt und Krieg, hinein in ein friedliche(re)s Miteinander der Nächstenliebe, Verbundenheit, der Wertschätzung und der Zusammenarbeit.
(Was die Kirche daraus gemacht hat, dass sie diese archetypisch-weiblichen Elemente in einer patriarchalen Machtschatulle für sich allein konservieren wollte, steht auf einem anderen Blatt.)

Extremistische Propaganda will uns mit Demütigungserzählungen in diesen alt(testamentarisch)en Teufelskreis zurücklocken. Die Verübung der Rache und die darauffolgende Scham und Schuld sorgen dann dafür, dass wir auch dort bleiben.

Religionen gaben erste moralische Stützpfeiler vor, um das Zusammenleben zu erleichtern. Die menschliche Zivilisation per Demokratie, Gewaltentrennung, Trennung von Staat und Kirche weiterzuentwickeln kann den Frieden erhalten, indem wir das Finden von Gerechtigkeit an (idealerweise) unabhängige Gremien delegieren.

Für uns bedeutet das: Wir dürfen unsere Mitmenschen im Kleinen, Zwischenmenschlichen für ihr Tun auch verantwortlich halten, eine verursachte Verletzung aufzeigen, kleine, gewaltfreie Konsequenzen androhen und umsetzen. Bei justiziablen Verletzungen wenden wir uns zur Findung und Durchführung dieser Konsequenzen aber an staatliche Institutionen. So lautet die gesellschaftliche, rechtsstaatliche Übereinkunft.

Kulturelle Endlosschleife?

Natürlich funktioniert das System nie perfekt, und korrupte Eingriffe ins Justizsystem sind fatal für die Demokratie. Doch im Idealfall sichert es den zivilen Frieden, an dessen Stelle sonst wütende Mobs regieren würden, die ihre unverarbeiteten Gefühle mittels willkürlicher Lynchjustiz und Genozid an beliebigen Sündenböcken ausleben würden.
Damit kämen neue Demütigung, neue Scham und Wut über die Menschen, für die sich dann bald wieder jemand rächen müsste.

Wenn alle schwierigen Gefühle, die man so sehr fürchtet empfinden zu müssen, auf “die anderen” projiziert werden, die man dann für ihre “Schwäche” verachten kann, verachtet man im Grunde sich selbst für seine Menschlichkeit. Das untergräbt natürlich jede Annäherung an eigene schwierige Gefühle weiter und führt in die Entfremdung von sich selbst und anderen.

Eine Gesellschaft, die sich keinerlei Verletzlichkeit mehr anmerken lassen will, nur um Scham und anderen schwierigen Gefühlen zu entgehen, die alles menschliche Empfinden hinter Zynismus und unbeteiligter Blasiertheit vergräbt – eine solche Gesellschaft pervertiert sich selbst geradewegs in die Unmenschlichkeit.
Und das, ohne davor auch nur im großen Stil versucht zu haben, sich um ihr gegenwärtiges oder zukünftiges Seelenheil zu kümmern. Ohne bemerkt zu haben, dass man aus einer künstlich überhöhten Position auch schmerzhafter fällt.

Wenn es dann zu schamauslösenden Ereignissen kommt, werden die Gefühle immer weniger ausgehalten und über entsetzliche Gewalttaten abreagiert. Bei wie vielen Femiziden ist es wohl die Unfähigkeit, Scham zu bewältigen, die zur Gewalt von Männern an Frauen führt? Wir wissen es nicht. Ich äußere aber eine Schätzung: 98%.

Die patriarchal geprägte und geförderte Strategie des Überlegen-Spielens und Projizierens schafft auch für rechtsextreme Propaganda und ihr Angeln nach Menschen mit jahr(zehnt)elang unterdrücktem Gefühlsausdruck eine günstige Nährlösung.

Gerechtigkeit

❞Ohne Gerechtigkeit gibt es keine Liebe.❞

bell hooks, “Communion”, 2002

Natürlich findet sich die Demütigungserzählung nicht nur in (rechts)extremistischer Propaganda. Es ist allerdings ein Unterschied, ob man für Gleichheit und Gerechtigkeit kämpft, oder auf Bauernfang geht für den Erhalt und Ausbau von Privilegien und Ungerechtigkeit. Wir müssen uns also nicht fragen, ob diese Erzählung erlaubt ist. Sondern ob sie wahr ist.
Und da wahr hier eine Frage des Standpunkts zu sein scheint, schlage ich vor: im Hinblick auf die bestehenden und idealen Machtverhältnisse in einer humanistischen Gesellschaft.

Es gibt juristische Grundlagen dafür, dass Menschen mit bestimmtem juristischen Status gewisse Rechte verwehrt werden, etwa im Wahlrecht. Diese Grundlagen sind Ausdruck vergangener und bestehender Machtverhältnisse.

Aber es gibt auch eine juristische Grundlage dafür, dass alle Menschen gleich viel wert sind.

Wenn jemandes geistige Haltung der eigenen Aufwertung (über Anspruchsdenken oder die Abwertung anderer) ihm Gefühle der Demütigung beschert, sind dann “die anderen” für diese Gefühle verantwortlich? Oder ist es eine geistige Fehlhaltung, die man selbst zu erkennen und zu korrigieren hat?

Reden, Nachspüren, Bearbeiten

❞Reich ist, wer weiß, dass er genug hat.❞

Lao Tse

Die Rekrutierung der Propaganda für extremistische Radikalisierung wirkt wie ein “near enemy” der Schamresilienz. Sie ist die ungesunde Abhilfe für toxische Mengen Scham, im Gegensatz zu Selbsterforschung, Anerkennen der Scham, Mitfühlen, Aussprechen und Unschädlichmachen. Sie simuliert bloß eine Erleichterung in einer vertrauensvollen, sozialen Interaktion der Zusammengehörigkeit. Doch warum sollte ich jemandem vertrauen, der stattdessen die Wut aus meiner Abwehr in die von ihm gewählte Richtung lenkt?

Um einen Teil der Anziehungskraft extremistischer Propaganda zu eliminieren, brauchen wir also einen Dialog über Scham und andere schwierige, unbewältigte Gefühle. Und wir müssen das Bedürfnis nach Liebe und Zugehörigkeit aus dem Pfui-Weiblichen ins Gesamt-Menschliche übersetzen.

Auch über Mitgefühl könnte man reden – über das echte, und über seine “near enemies”, die die Gefühle anderer abwehren, übertrumpfen, kleinreden oder von ihnen ablenken, statt wirklich mitzufühlen.
Und wir brauchen Mut und Neugier, um uns selbst zu mehr seelischer Reife zu entwickeln.

Solange sich viele einreden, sie würden ihre Entscheidungen ohnehin auf rein rationaler Basis treffen, oder sie und ihre Egos müssten “stärker” sein als ihre “schwachen” Gefühle, ist ein solcher Dialog schwierig.

Doch ein Dialog über Scham und Scham-Resilienz könnte auch den Patriarchats-Fans, Populist*innen und Propagandaschleudern ihre Angelruten aus der Hand reißen und die Welt verändern!

Wollen wir weiter hinnehmen, dass unsere grundlegendsten menschlichen Bedürfnisse hartnäckig niedergekämpft werden in der Welt des harten, rachsüchtigen und unverantwortlichen Zynismus?
Dass die Geschichte sich wiederholt?

Nehmen wir den Dialog über Scham auf! Und zwar besser heute als morgen!

Bleibt wachsam, erkennt die Scham an ihren Auswirkungen, und sprecht sie aus: Schaaaam! :)

Fragen

  • Wie kann man diese emotionale Hintergrundshow mehr ins gesellschaftliche Bewusstsein rücken?
  • Wie hilft man Menschen, sich von vielfältigen Arten der Ersatzkonsumation zu lösen, und aus der Entfremdung von sich selbst und anderen in die Zusammengehörigkeit und Gemeinschaft zu finden?
  • Wie hilft man Menschen, aus ihrer Anspruchshaltung zurück zu einer realistischeren Selbsteinschätzung und Einschätzung ihrer Gruppe zu kommen, ohne sie zu beschämen?
  • Wie gestaltet man Kulturen, in denen Menschen ohne Beschämung vertrauen und aufblühen können?

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Literatur und Quellen  

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