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e-card-„Missbrauch“, eine populistische Fangschrecke

Ahja: e-Card mit Foto für 23 Mio€? Wtf?

Gegen Missbrauch…? (Suggeriert: Durch Unversicherte, die sich Behandlungen erschleichen, weil ~kein Foto~?)
Peanuts im milliardenschweren SV-Haushalt, irgendwo bei 0,0003% der Ausgaben.
Sollens 230k€ p.a. sein. 100 Jahre, bis die Aktion „e-Card mit Foto“ sich amortisiert?

Laut (allerdings altem) Artikel in der Presse gingen 2009/2010 bei Ermittlungen durch die WGKK 82% der Missbrauchs-Schadenssumme auf Ärzte/Ärztinnen, die nicht erbrachte Leistungen verrechnet haben. Ähem. I sag nur. Aber mittlerweile gibts ja sicher schon argumentativ gefälligere Zahlen.

Übrigens ist es imho Wirtschaftsbetrug und Betrug am Staat, wenn Ärzte nicht erbrachte Leistungen abrechnen. Und nicht „Sozialbetrug“. Aber hey: Es gilt ja nur mehr, was draufsteht.

Hier der Link zum alten Presse-Artikel. Der Titel ist gleich doppelt irreführend – „Betrug mit e-card – 1,2 Mio € Schaden“, wo doch die 1,2 Mio aus zwei Jahren sind, UND davon satte 82% auf nicht erbrachte Arztleistungen entfallen.

Damit bleiben 108k€ p.a. an patientenseitigem Missbrauch – wie gesagt: Peanuts.
Pro Fall sind das ~830€ Behandlungskosten (Schnitt; 325 Fälle, davon 260 patientenseitig, 216k€). Leistungsbürger zahlen das beim Wahlarzt vielleicht locker, aber welche Chance auf Behandlung hätten Unversicherte um den Preis wohl gehabt? Man sollte das nicht mit „sich bereichern“ verwechseln.

Es kann einem übrigens völlig blunzn sein, wenn vielleicht ein paar Leut „gratis“ zum Arzt gehen, die nicht versichert sind.
„Ja, aba aba… ich zahl dafür, und die nicht!“
Du zahlst auch dafür, wenn die nicht hingehen. Und zwar exakt dasselbe.
Und wenn du selbst nicht hingehst, auch. Wetten?

Wenn allerdings – zur „Prävention“ der mickrigen Betrugsfälle, die man mit Foto verhindern könnte – Fotos auf die e-cards kommen, was unangemessene Millionen kostet, die zum Schaden in keinem Verhältnis stehen – dann könnt’s eventuell auch für die Einzelnen teurer werden. (Das allerdings liegt dann nicht am gemeinen E-Card-Missbräuchler vulgo „Auslända“.)

Mit der Kohle hätten wir jahrzehntelang die paar Unversicherten & Süchtigen unterstützen können, die’s sicher gern selbst bezahlt hätten, wenn sie sichs leisten könnten.
Aber wir unterstützen lieber… ja, wen eigentlich? Cui bono? Cui Hackn, Provision, „wo is mei Leistung“?

Man hätte aus den Daten freilich auch ganz andere Schlussfolgerungen ziehen können:
• Die Gesundheitsversorgung für alle Menschen ist in AT zu wenig effektiv.
• Es gibt zu viele, die sich keine (Selbst-)Versicherung leisten können.
• Es gibt zu viele unversorgte Suchtpatienten.
(Gewichtung dieser Schlussfolgerungen: 18/100)

• Die Vertragshonorare sind viel zu gering!
Und das kann man als Kassenpatient/in auch sehr deutlich an der Zeit und Aufmerksamkeit ablesen, die einem Onkel und Tante Kassendoktor für gewöhnlich nicht widmen.
(Gewichtung dieser Schlussfolgerung: 82/100)

Eine Spende an die Barmherzigen Brüder ist übrigens steuerlich absetzbar. Die behandeln auch Unversicherte. Dort kommt die Wohlfahrt – abgesehen von der geringeren Steuer – schön aus privater Hand, damit sie DEM STAAT nicht auf der Tasche liegt, nech? Die Ärztinnen und Ärzte sind dann natürlich immer noch unterbezahlt, aber Hauptsache, wir haben die Schuld und die schlechte Nachred‘ auf die bösen Sozialschmarotzer umgelenkt.

Und mit solchen Aktionen begründen dann die Fänboys & -girls ihr Pro-Schwarzblaun? Weil „endlich was weitergeht“? Na hoffentlich bleiben sie alle weiterhin leistungsstark, krankheits- und unfallfrei im Leben. Damit ihnen das, was da weitergeht, nicht schon bald selbst auf den Kopf fällt.

Bitte den Sand aus den Augen wischen und an die Natur zurückführen! Der wird am Bau gebraucht.

(übertragen aus meinem ursprünglichen Twitter-Thread und ergänzt)

Update 8/2020:
Ui, und jetzt sind wir ganz enttäuscht, dass die Einsparungen deutlich geringer ausfallen als erwartet, während die Kosten um 7 Mio. höher liegen als 2019 veranschlagt.
„Wie viel der nun durch die Taskforce eingesparten Summe auf den Missbrauch der E-Card entfällt, gab der Innenminister nicht von sich aus bekannt.“ Nageh!

Update 5/2021:
Im Nachhinein aus der Corona-Perspektive betrachtet, gefällt mir ein Satz in diesem Standard-Artikel aus 2018 ja besonders gut:
„Für die Neos ist das Vorhaben „von Anfang an eine Farce“. Die Regierung bestehe „partout auf die Fotos auf der Karte“, weil sie es als politisches Prestigeprojekt sehen. Dabei könnte das Geld für „etwas Sinnvolleres“ ausgegeben werden. Hier hat Loacker auch einen konkreten Vorschlag: Der elektronische Impfpass soll endlich umgesetzt werden. Geht es nach den Pinken, sollen auch Schulärzte Zugriff auf das Dokument bekommen. Dazu brauche es aber Lesegeräte für die E-Card, das sei derzeit für Schulen aus Kostengründen nicht angedacht.“
Zihihi, „Sinnvolleres!“ Aber nicht doch.

 

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Woher der Zuspruch?

Auf einen Artikel bei der Frau @KatQuat aka FireRedFriederike hab ich heute einen langen Kommentar hinterlassen… und werde irgendwann nicht mehr wissen, dass ich das nicht hier gebloggt hab, sondern dort kommentiert. Daher hier mein Kommentar, für meine Suchfunktion.

Kurz zitiert gings darum:

Ist es nicht außerordentlich eigenartig, dass eine Partei wie die ÖVP, die – zusammengefasst – sagt „Kümmert euch um euch selber und wer das nicht zusammenbringt, ist selber schuld“ einen derartigen Zuspruch erfährt? Die das Dogma „sich um Schwächere kümmern“ so komplett pervertiert und aus der Pervertierung die Erzählung von Erfolg strickt?

Ich greif mal kurzerhand einen Aspekt heraus: Die Geschichte vom leistungsstarken Idealbürger und seinem „sozial schwachen“ Gegenstück, das ersterem immer nur in der Tasche hängt, ist voll aufgegangen, in allzu vielen Gehirnen. Ist es nicht immer stärker scham- und angstbesetzt, Hilfe zu brauchen? Umso mehr, je öfter dir erzählt wird, dass du es doch alleine schaffen können musst. ZB von Leuten, die es ja auch geschafft haben – unter welchen Umständen, lassen sie sehr gerne unter den Tisch fallen, weil die erhaltene private Unterstützung von 0-25 ja wiederum aus „Leistung“ stammte, qua Eltern quasi den eigenen Kreisen zuzurechnen sind. In manchen Kreisen steht die Unterstützung so selbstverständlich zu, dass man deren Funktion als jahrelange Starthilfe komplett negieren kann.

Schwupps, und plötzlich stehen sie auf eigenen Beinen und denken: Na, das war doch eh ganz leicht! Daraus folgt ein Nichtzuständigseinwollen für andere, die „nur kosten und nix beitragen“, weil: „Um mich hat sich der Staat(!) auch nicht gekümmert, und ich habs trotzdem geschafft“.
Leute, für die sich ihre gesamte Erfahrung von „Ich hab kein Geld“ darauf beschränkt, dass sie gerade keines dabei haben.
Die Adelung zum Leistungsträger obendrauf, Platzen vor Stolz, Ende der Solidarität.

Ja, sie ist in der Tat außerordentlich eigenartig, die Sache mit dem Zuspruch, die du als Kernpunkt definierst. Hab dazu auch gebloggt, noch vor der Wahl, weil auch mir nicht eingeht, dass so viele Leute die Story „endlich geht was weiter“ weitererzähl(t hab)en.

Es wird nicht in die Tiefe geschaut, sagte mir dazu jemand – nein, es wird nichtmal knapp unter die Oberfläche geschaut. Was die Sozialstaat-Demontagen aus dem letzten Jahr tatsächlich bedeuten, ist (fatalerweise für diese Wahl) noch gar nicht lange genug am Wirken, das werden viele erst checken, wenn sie das nächste Mal beim AMS sitzen. Bis dahin glauben sie die Erzählung, dass den Bösen extra was weggenommen wurde, damit für sie, die Fleißigen, mehr bleibt. Sie merken nicht, dass sie während der geilen Zaubertricks auch immer die andere Hand hätten im Auge behalten müssen.

Ich meine, es ist der gewollte Effekt des liberalen Narrativs, und dem konnten sich über die Jahre auch sozialdemokratische Hirne nicht entziehen – nach außen hin müssten wir Soli sein, aber jeder kämpft für sich allein. Gehts nicht auch da vor allem um persönliche Vorteile? Um die first-hand-Angebote von Genossen? Wo soll da unter „Was kannst du für mich tun?“ noch Raum gefunden werden für ein „Was können wir für die Menschen tun?“ Geht’s den meisten aufgrund genau dieses Netzwerkes ZU gut? Ich vermute, ja. Sonst wäre man revolutionär laut geworden, auf die Barrikaden gegangen, hätte Revidierungen jedes einzelnen Punktes gefordert und versprochen; den Leuten hörbar vermittelt, was da gerade ratzfatz passiert ist.

Nun müssen die, die vom Kümmern profitieren, ja für ihre Annäherung an die Adelung zu Leistungsträgern vor allem eins: hackeln. Da bleibt eben nicht viel Zeit fürs Kümmern darum, was da politisch eigentlich genau passiert. Viele von ihnen glauben daher wohl lieber die einfachen Geschichten, auch wenn sie erfunden sind – und nicht die komplexen.

— Ende Kommentar.—

Zusatz:

Vielleicht ist diese Sozialdarwinismus ein Ausdruck einer Mentalität der FürImmerJung-Illusion – dieser dummdreiste Glaube, den Menschen haben, die noch nie richtig krank waren, die in Fülle aufgewachsen sind und bis zum Antritt der ersten gutbezahlten Stelle finanziert worden sind.

Ich kanns auch „allein“ schaffen, ich brauche niemanden, es ist peinlich, wenn ich jemanden brauche oder es nicht allein schaffe. Und was für mich gilt, muss für die anderen auch gelten.

Daraus entsteht dann vielleicht genau dieses Ideal der Fehlerlosigkeit, der Perfektion, die nicht zu erreichen ist, und jeder kämpft nur noch für sich selbst, weil die anderen nur mehr als Perfektions-Kontrollinstanz (=Bestätiger) fungieren (dürfen) und nicht mehr als Beistand und Kümmerer.

Und Geldadel. Wer sich Pflege, Kinderbetreuung, Gesundheit auf privater Ebene leisten kann, private Krankenversicherung und alles Pipapo, hat auch weniger Angst davor, was passiert wenn…