Vom Zauber des Moments

Hattet ihr schonmal die Empfindung, dass das Leben ausschließlich in diesem einen Moment stattfindet? Ich weiß: So einen Satz zu lesen ist überaus profan. Natürlich findet das Leben jetzt statt, wann denn sonst? Aber habt ihr diese Wahrheit schon mal von tief innen empfunden?

In jedem einzelnen Moment habe ich die Wahl. Ich habe die Möglichkeit, mir mitten im Gedankengang ein STOP zu verordnen, wenn meine Gedanken mir nicht behagen, um sie durch welche zu ersetzen, die mir besser gefallen. Ich kann den nächsten Satz, der schon in den Startlöchern stand, einfach nicht sagen, und mir stattdessen einen ganz anderen ausdenken.
Ich verlasse die scheinbare Einbahn der Situation, indem ich den Zauber des Moments nutze: Diese ein, zwei Sekunden, in denen ich die Wahl habe, und das den ganzen Tag, die ganze Woche, mein ganzes Leben lang.

Dazu nötig ist, zugegeben, ein gutes Stück Bewusstheit über die eigenen inneren Vorgänge. Diese ist für den einen ein selbstverständlicher Begleiter, für den anderen nur schwer zu erreichen; die meisten bewegen sich irgendwo dazwischen.

Es lohnt sich aber, denn das ist viel schöner, als sich ständig als das Opfer der Umstände zu fühlen, und die damit einhergehenden Gefühle der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins mit sich zu tragen. Diese Gefühle verschwinden nach und nach. Statt sich zu weigern, die Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen, fühlt man sich plötzlich in der Lage, die eigene Freiheit so gut wie möglich auszukosten.

Nicht, dass man jeden im Zauber des Moments gewonnenen Gedanken auch in die Tat umsetzen müsste. Wenn man beispielsweise seinen Job behalten möchte, sollte man nicht im Zauber des Moments beschließen, dem chronisch grantigen Oberchef ein Götzzitat um die Ohren zu hauen. Aber man kann zumindest die Idee auskosten und sich danach etwas besser fühlen.

Auch mehr oder weniger bewusste Schikanen an sich selbst lassen sich so reduzieren. Wie oft am Tag sagst du dir, dass du ein Idiot bist? Dass du es nicht wert bist, …. (beliebiges zu Erreichendes hier einsetzen). Dass du nicht gut genug bist?
Nie? Wirklich nicht?

Klingt, als hätte ich die Weisheit mit dem Löffel gefressen, was? Leider bin auch ich nur selten im Moment verhaftet. Ich treibe mich viel in der Vergangenheit rum, am ‘liebsten’ in unangenehmen, peinlichen oder schuldbehafteten Situationen. Manchmal auch in der Zukunft, die in solchen Momenten meistens ebenfalls nicht allzu rosig aussieht.

Aber manchmal, da gelingt es mir, aus meinen Gewohnheiten des Denkens und Handelns kurzfristig auszusteigen, mir selbst Einhalt zu gebieten und den Zauber des Moments zu empfinden.

Das kann mitten in einem Streit sein:
Weiterstreiten, bis beide sauer sind.
Plötzlicher Richtungswechsel, weil man sich bewusst gemacht hat, was wirklich wichtig ist.

Das kann bei einem Familientreffen sein:
Den Tag einfach dahinplätschern lassen und alles für selbstverständlich nehmen.
Endlich mal wieder in Papas Arme kuscheln und ihm sagen, wie lieb man ihn hat.

Das kann in einem beliebigen Moment sein:
Gestresst sein und alles als nervig empfinden.
Sich bewusstmachen, wie gut man es im Grunde hat und wofür man dankbar sein kann.

Wenn dieses Innehalten funktioniert, führt die Achtsamkeit ausnahmslos und jedes Mal zu großer Freude, zu mehr Zufriedenheit mit mir selbst – und zu einem unvergleichlichen Gefühl des Triumphes über das taube, ahnungslose Dahinvegetieren.

9 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Anita sagt:

    Zitat Anita i.V.:

    It’s always me who makes the choice. Even if I choose to let circumstances determine my choices.

  2. T.M. sagt:

    Madame, Sie haben so schön geschrieben, aber so leid es mir tut – 6.Absatz – ich schikaniere mich tatsächlich nie. Warum sollte ich? Das hat nichts damit zu tun, sich nicht gut genug zu finden – vielleicht stimmt es ja auch! – und dann ist diese Einschätzung durchaus vernünftig. (Und das Gegenteil gibt’s ja übrigens auch …)

    Zwotens, plötzlicher Richtungswechsel im Streit, ich behaupte, dies führt nur zu einer Vertagung des Problems, und eben nicht zu seiner Lösung. Es wird wieder auftreten, heute noch, morgen, nächste Woche oder erst in zehn Jahren. Und was dann?

    Drittens noch ein ideelles Problem: die Sache mit der Dankbarkeit setzt ja ein Subjekt voraus, dem man dann dafür dankt, dass es irgendwas gemacht hat. Sie wissen schon … Aber ist man dann nicht auch Opfer des Umstandes, Empfänger der Zuwendung geworden zu sein? Und wie verhält sich das dann mit der Freiheit? Oder noch präziser gefragt: ist derjenige frei, der danken muss?

  3. Etosha sagt:

    Dem ersten Absatz kann ich leider nur bis zur dritten Zeile folgen. Da sind mir zu viele Gegenteile. Umformulieren? (Die Kernaussage ist aber durchgedrungen, glaub ich.)

    Das muss dir jedenfalls nicht leid tun – im Gegenteil, danke für die Meldung ;)
    Ich bin froh, wenn es noch Menschen gibt, die sich selbst pfleglich behandeln. Das Gegenteil ist oft genug der Fall.
    Meine freche Nachfrage ‘Wirklich nicht?’ sollte ja provozieren – und demonstrieren, dass uns nicht immer bewusst ist, was wir da tun.

    Zu Zwotens: Nicht zwangsläufig. Einhergehen muss natürlich auch ein Umdenken in der Sache an sich. Beschließe ich jetzt, dass die Angelegenheit mir zB einfach nicht wichtig genug für einen Streit ist, so gilt das morgen auch noch. Und in weiterer Zukunft. Wenns in zehn Jahren nochmal auftaucht, na sei’s drum, dann seh ichs mir in zehn Jahren nochmal an.
    Selten wird doch über große Probleme gestritten. Meist sinds ja doch nur blödsinnige egomanische Kleinigkeiten.

    Drittens: Niemand, der irgendwas muss, ist frei. Vielleicht ist das Wort Dankbarkeit für dich nicht das richtige? Wenn du es so sehen willst, ersetze doch ‘dankbar sein’ einfach durch ‘sich erfreuen’.

    Ich persönlich hatte nie das Gefühl, mich in meiner Dankbarkeit an irgendein Subjekt zu wenden oder gar wenden zu müssen. Insoferne empfinde ich das eher als Polemik bzw. ich verstehe und anerkenne zwar die philosophische Frage als solche, empfinde die Dankbarkeit aber nicht als tatsächliche, subjektive Unfreiheit.

    Vielleicht sind wir alle Opfer der positiven Umstände – aber empfinden wir das denn häufig so?

  4. Iwi sagt:

    Ich danke (also freue mich) über jede Möglichkeit, in der ich Dankbarkeit zeigen kann. Und wenn ich diese Dankbarkeit noch an ein anderes Subjekt richten kann, dann umso besser, da bin ich keineswegs Opfer, sondern ich tanke auf. Gibt es denn nicht Kraft, die Freude des Subjekts zu sehen, wenn ich mich bedankt habe? Und wenn es diese nicht deutlich ausdrückt, dann habe ich durch meinen Dank doch auch den Moment der Freundschaft oder welcher Beziehungsart auch immer nochmal veräußert. Ich finde, das ist eine sehr schöne Interaktion, dieses Danken!

    Und die Bedeutung des Moments, die sehe ich genau so :-) Im Moment findet das Leben statt, was bedeutet: wenn wir jeden einzelnen Moment so gestalten, dass wir zufrieden sind, dann haben wir ein zufriedenes Leben, denn das ist nun mal die Ansammlung von Momenten. Und genauso ist auch die Ewigkeit für uns Subjekte nichts anderes als ein Moment. Wenn ich zum Beispiel überglücklich mit der schönsten Frau der Welt in einer Sonnenwiese liege und mit wünsche, das sollte ewig so sein, dann lass ich das ewig sein und bin froh, denn wenn ich auf mein Lebensende warte, um dann retrospektiv zu sehen, ob es denn wahr geworden ist, dann habe ich selbst im besten Fall mein ganzes Leben nur darauf gewartet, anstatt jeden Moment zu genießen.

    Genauso mit den Sorgen über die Zukunft: wer sagt mir denn, dass der Moment, sobald er eintritt, wirklich so ist, wie ich ihn befürchtet hatte? Ich kann mir dadurch nur die Zeit davor vermiesen.

    Der Moment – etwas sehr wichtiges – wie du nur darauf kommst?

  5. Etosha sagt:

    Die dankende und Freude potenzierende Interaktion mag ich auch sehr. Aber um diese gings hier gar nicht, nicht in erster Linie. Vielmehr um die quasi wirklich “nicht zielgerichtete” Dankbarkeit, die, die man gar nicht zielrichten könnte – außer an Gott vielleicht, wenn man das möchte.

    Mir fiel aber im Nachhinein, nach Beantwortung von TMs Kommentar, noch auf, das wir immer einen Verantwortlichen suchen – sogar wenns ums Dankbarsein geht, hehe :)
    ‘Irgendjemand muss doch hierfür ZUSTÄNDIG sein, verdammt noch eins!’ *rofl*

    Wie ich darauf komme? Ein Thema ist das bei mir schon lange, ich wollte wieder mal etwas umsetzen, das von tief innen kommt.
    Und ich hatte heute ein Gespräch, das mich dazu brachte, darüber zu reden. Demjenigen wird es derzeit nicht viel helfen – aber vielleicht doch ein bisschen, wer weiß?

  6. T.M. sagt:

    Mit “erfreuen” kann ich gut leben. Und dies praktiziere ich auch intuitiv oder bewusst.

    “Dankbar sein” hingegen (ich meine, für das Leben und seine positiven Wendungen) ist etwas, das mir fremd ist, nicht nur, weil es mir nicht anerzogen wurde und weil es auch einen Aspekt von “in eine Schuld eintreten” besitzt, sondern weil es vor allem auch die negativen Wendungen ausser Acht lässt. Die wenigsten sind für diese genauso dankbar, sie gehören ja aber untrennbar dazu und es gäbe gar keine positiven ohne sie.

    Ist kein Meckern. Ist ein Zusatz.

  7. Etosha sagt:

    Ich hab da auch kein Meckern rausgelesen. :)

    Es hilft, wenn man schon öfter im Rückblick auch gute Seiten an solchen ungewollten Wendungen entdeckt hat. Natürlich gehören sie dazu – so wie jedes Ding zwei Seiten hat.
    Wir haben eben nicht gelernt, alle Geschehnisse gleich – also quasi gar nicht – zu bewerten. Das würde in dieser polarisierten Welt vermutlich auch zu einer gewissen Gleichgültigkeit führen. Wir hätten womöglich keinen Antrieb mehr, weil wir nicht mehr nach dem ‘Guten’ streben könnten, wenn für uns alles ‘gleich gut’ wäre.

    Jedenfalls sehr interessant, welch unterschiedliche Assoziationen das Wort Dankbarkeit in verschiedenen Menschen auslöst! Bei dir dürfte es sehr stark mit einem Zielobjekt verbunden sein, und mit dementsprechener Interaktion.

    Wie gesagt, diesen Touch hat es für mein Gefühl einfach nicht, daher gehe ich auch niemandem gegenüber eine Verpflichtung oder Schuld ein mit meiner Dankbarkeit.

    Unmittelbar Dankbarkeit für Negatives zu empfinden, das dürfte schwierig sein. Aber trifft das nicht auf die Freude gleichermaßen zu? Lässt nicht auch sie die negativen Wendungen außer Acht?
    Will sagen: Es wird relativ wurscht sein, ob du in schlechten Momenten Nicht-Dankbar oder Nicht-Erfreut bist. ;)

  8. Iwi sagt:

    da hat T.M. schon Recht: die schlechten Momente sind ebenso sehr wichtig und es ist sehr schwierig irgendwie zu beschreiben, wie man deren Wert im Moment des Erlebens in irgend einer Form positiv betrachten kann. So richtig und komplett wird das schwer gehen, denn dann wäre es am End kein ‘schlechter Moment’ mehr, was letztlich auch nicht wünschenswert wäre. Wenn ich aber in einer solchen Phase direkt das für mich Wichtige erkenne, einen für mich und mein weiteres Denken/Fühlen entscheidenden Schluss ziehen kann, dann fühle ich auch gleich den Gewinn daraus und habe eine gewisse Zufriedenheit. Natürlich ist diese Unmittelbarkeit eine Idealvorstellung, aber die Gewissheit in dem Moment, dass diese Zufriedenheit über diese negative Erfahrung sich einstellen wird, macht auch dieses Erlebnis selbst spannend und der Wert des Negativen kann – ohne das Negative in Positives umzuwandeln – dennoch erkannt werden.

    Und ausserdem: wie könnten wir uns über den endlich einkehrenden Sommer so sehr freuen, wenn zuvor nicht Kälte geherrscht hätte…wie ja von euch schon erwähnt…

  9. Etosha sagt:

    “…aber die Gewissheit in dem Moment, dass diese Zufriedenheit über diese negative Erfahrung sich einstellen wird…”
    Genau. :) Danke für die Formulierhilfe.
    Eben das meinte ich mit ‘Es hilft, wenn man im Rückblick öfter gute Seiten an negativem Ereignissen entdeckt hat.’

    Klarerweise funktioniert das nicht immer, und nicht mit allen Ereignissen. Manche sind und bleiben einfach scheiße. ;)

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