Nimm, was dir geschenkt wird, und erfreue dich daran – aber erwarte nichts.
Ist es überhaupt noch zeitgemäß, welche zu haben?
Muss man alle Erwartungen auch erfüllen?
Und wieviel wissen wir überhaupt
über die Erwartungen anderer?
Und über unsere eigenen?
Als Kind erlebt man mit Freuden seine ersten Geburtstage, das Christkind, seine Freunde, die zum Spielen und Übernachten kommen wollen, das Feuerwerk zu Silvester, sofern man das Schlafbedürfnis niederkämpfen kann – und das alles mit großen, leuchtenden Augen. Wir warten mit Vorfreude auf das nächste Mal. Nach den ersten Erfahrungen mit diesen Dingen entstehen auch Erwartungen. Wir erwarten zu Weihnachen ein gewisses Glitzern, dass das Glöckchen klingelt, dass die Familie kommt, dass es Geschenke gibt. Und all das tritt dann auch ein. Erwartungen sind was Wunderbares!
Unsere Erwartungen werden von Anfang an gestrickt und gefärbt durch unsere tägliche Wirklichkeit, die wir im Nachhinein unsere Vergangenheit nennen, durch das, was wir uns für die Zukunft wünschen, und durch die Menschen, mit denen wir bisher zu tun hatten. Unsere Integrität ist wohl das Ergebnis aller genannten Faktoren. Wir lernen im Laufe eines Lebens, was “richtig” ist, wie “es sein muss”, damit wir zufrieden sind. Erwartungen werden geboren.
In allerlei Zitaten und Inspirationssprüchen will man uns hingegen nahelegen, es sei nicht gut für uns, Erwartungen zu haben.
Die einfache Rechnung lautet nämlich:
Demnach lautet die einfache Umkehr auch:
Und in weiterer Folge:
Und niemand will schließlich ein vorwurfsvoller Mensch sein.
Twitter ist dazu eine Fundgrube:
@unliniert:
Nichts erwarten, um nicht enttäuscht zu werden.
@deinbier:
Bis einer Erwartungen hat.
@Zuckerschnegge2:
In meinem Paralleluniversum können Erwartungen sprechen.
Innerlich gedacht werden sie sonst zum kleinen Monster.
@betrunkenvondir:
Ich habe so null Erwartungen an andere Menschen und werde trotzdem enttäuscht, es ist lustig.
@_sixtyniner_:
Nichts erwarten, weil alles von selbst geschieht.
@SinnvollF:
In der Liebe gewinnt man nur, wenn man etwas gibt ohne es an Erwartungen zu knüpfen
@Green_Queen7:
Erwartungen, die man nicht erfüllen kann, machen auf Dauer unfassbar müde. Und traurig.
@_kjuut:
“Habe Hoffnungen, aber niemals Erwartungen.
Dann erlebst du vielleicht Wunder, aber niemals Enttäuschungen.” – J. Cole
@PaulsEnkelin:
Menschen, die mehr geben, als man erwartet. Genau die.
@Schanuf:
Menschen, die nichts von mir erwarten, die bekommen reichlich.
@AnChVIE:
Schlüssel zur Gelassenheit: Keine Erwartungen an irgendwen zu haben …
Es ist ja über weite Strecken auch wahr, dass Erwartungen des Teufels sind. Ist man mit “guter” Erziehung sowie mit Empathie ausgestattet, so macht man seine Entscheidungen und Handlungen auch davon abhängig, was andere sich wünschen oder nicht wünschen. Weil wir die Menschen glücklich sehen wollen, zumindest jene, die wir lieben, und das auch uns selbst glücklich macht. Aber auch, weil wir weniger Nahestehende nicht um jeden Preis vor den Kopf stoßen wollen. Oder zumindest, weil die Freiheit des einen dort endet, wo die der anderen beginnt. Man nennt das Nächstenliebe oder Altruismus (von lat. “alter” – der andere).
Sind diese Wesenszüge kombiniert mit sehr hohen Ansprüchen an sich selbst, reißt man sich erstmal jahr(zehnt)elang einen Haxen aus, um allen gerecht zu werden – inklusive sich selbst, eben weil es die eigene Integrität gebietet, sich auch für andere ebendiesen Haxen auszureißen. Daraus folgt die Erwartung, dass alle anderen sich ebenfalls so verhalten.
Wer die Welt kennt, der weiß: Enttäuschung vorprogrammiert. Viele kümmern sich nur um sich selbst, also geht man selbst knirschenden Zahnes auch immer mehr dazu über. Man lernt zuerst, dass Erwartungen nicht immer angemessen sind. Dann, dass sie immer weniger angemessen sind. Und irgendwann vielleicht, dass sie es wohl gar nicht mehr sind. Im gleichen Maße schraubt man seinen Altruismus zurück und dafür einen (gesunden bis ungesunden) Egoismus hoch. Irgendwo findet man hoffentlich eine Balance, die außen und innen gleichermaßen auszuhalten ist. Man darf eben nicht zu viel erwarten.
Aus diesem Zusammenhang abgeleitet klingt Erwartung schon weniger nach freudigen, großen Kinderaugen. Das Wort gewinnt eine merkwürdige Konnotation hinzu – weit mehr als nur einen Hauch von “etwas fordern, das einem nicht zusteht”. Stehen einem bei eigenem altruistischen Verhalten durchaus auch Erwartungen an andere zu? Oder muss Nächstenliebe immer uneigennützig sein, um ihren Namen zu verdienen? Das heißt auch: ohne etwas “als Gegenleistung” zu erwarten! Ist Altruismus nur maskierter Egoismus? Ein Weg, sich selbst glücklich zu machen? Darüber kann man sicher mehr als einen Abend verdiskutieren.
Ich persönlich empfinde Beziehungen dann als stimmig, wenn man aufeinander eingeht und seine eigene Wirklichkeit vom anderen sanft(!) erweitern lässt. Und Altruismus finde ich am schönsten, wenn er auch mit Altruismus belohnt wird, ähnlich wie der Vertrauensgrundsatz für alle Erwachsenen im Straßenverkehr gilt – und nicht nur für jene, die zufällig keine Arschlöcher sind.
Wir Menschen haben die Angewohnheit, uns in Vertrautem aufzuhalten und zu bewegen (“Komfortzone”). Unsere individuelle Version der Wirklichkeit und unser Selbstbild – auch dessen negative Aspekte! – lassen wir uns auf diese Weise immer weiter bestätigen. So lebt jeder einzelne Mensch in seiner eigenen Wirklichkeitsblase und pflegt diese durch Verstärkung und Vermeidung, er nährt und bestätigt sie ständig. Zu glauben, es gäbe nur eine objektive Wirklichkeit, ist vielleicht unser größter Irrtum überhaupt – während jeder einzelne fest davon überzeugt ist, seine Wirklichkeit wäre die einzig gültige.
Welche dieser unzähligen Wirklichkeiten richtiger oder falscher ist, darüber lässt sich vortrefflich streiten. Man kann aber am Ende ehrlicherweise höchstens konstatieren, welche Wirklichkeit für das Individuum förderlicher, gesünder oder eben ungesünder ist. Und selbst das lässt sich im Grunde nicht objektiv beurteilen – was uns aber nicht daran hindert, ständig aus unserer eigenen subjektiven Warte zu beurteilen, welche Ziele oder Erfahrungen für andere gut oder schlecht sind.
Zu unseren Erwartungen gehört demnach auch, dass die Wirklichkeit der anderen Menschen mit der eigenen übereinstimmt – und daher auch das, was “man erwarten darf”. Enttäuschung besteht immer auch darin, die Unterschiede zwischen der eigenen Wirklichkeit und jener der anderen aufzuspüren. Wir mögen Enttäuschungen nicht, weil sie bisherige Täuschungen aufdecken.
Eine Basis unserer Wirklichkeit sind unsere persönlichen Grundregeln des Lebens, auch bekannt als “Glaubenssätze”. Gerne vergesellschaften sich diese Regeln im Kopf mit Worten, die außerhalb des eigenen Kopfes eher tabu sein sollten, wenn man es mit anderen zu tun hat: “immer”, “nie” und “alle”. Unser Hirn verallgemeinert Erfahrungen und fremde Denkinhalte, um die Zukunft halbwegs brauchbar vorhersagen zu können und uns vor Schaden zu bewahren.
Viele Grundregeln kommen praktischerweise bereits als vorgefertigte Sprichworte daher, damit sie von Beginn an leicht in das Wirklichkeitskonstrukt integrierbar sind:
Eigenlob stinkt. Ehrlich währt am längsten. Nur wer arbeitet, ist auch was wert. Zeit ist Geld. Geld verdirbt den Charakter. Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu. Wer hoch hinaus will, kann tief fallen. Die Frauen sind alle gleich. Alle Männer sind untreu. Niemand mag mich. Ich bin nicht liebenswert. Ich bin nicht gut genug. Wer Verletzlichkeit zeigt, wird nur verletzt. Wut ist immer böse. Reiß dich zusammen.
Und: Ich bin nicht würdig, dass du eingehst in mein Haus.
Die Stoßrichtung für die Bestätigung unserer Wirklichkeit und unseres Selbstbildes geben wir selbst vor – mit all diesen Sätzen, an die wir glauben. Viele dieser Glaubenssätze sind nicht mehr zielführend oder auch gesund für uns selbst. Wir kämpfen sonst ständig gegen das an, was mit unserer Glaubensbasis nicht übereinstimmt, im Außen und oft auch in uns selbst. Und das bindet sehr viel emotionale Energie. Aber es kommt auch nie jemand von außen, der da drin mal ausmisten würde!
Eines dürfte aber klar sein: Je mehr Regeln, desto mehr Anlass zur Enttäuschung. Und wenn es nur die Enttäuschung darüber ist, dass andere nicht so sind wie wir selbst.
Obendrein ist das, was wir für die Erwartung anderer halten, nur vermeintliche Erwartung oder erwartete Erwartung. Selten ist die Kommunikation zwischen Menschen so klar und offen, dass uns die Erwartungen anderer tatsächlich präzise bekannt wären. Also gehen wir einfach von irgendwas aus, was wir für plausibel halten. Erwartung, das unbekannte, fehleingeschätzte, interpretierte Wesen. Warum? Weil simples Nachfragen oder auch Ausformulieren irgendwie auf der Unbequemlichkeitsskala ziemlich weit oben rangiert? Weil wir meinen, die anderen müssten doch längst wissen, was wir erwarten? Sofern sie überhaupt gewillt sind, sich irgendwie an uns zu orientieren, müssen wir uns mit dem zufriedengeben, was sie – oft irrtümlich – für unsere Erwartung halten. Wenn wir nicht darüber reden.
Erwartungen sind auch Bedürfnisse, die gestillt werden wollen: Wünsche nach Nähe, Geborgenheit, Zuwendung, Aufmerksamkeit, Akzeptanz, Gemeinsamkeit und Hilfe – Verbindlichkeit, Zuverlässigkeit, Sicherheit, und all das in einem individuellen Maß.
Diese Bedürfnisse sind nicht bestreitbar, sie sind keine von vornherein unberechtigte Forderung, und man kann sie auch nicht einfach abdrehen.
Ein Mensch kann sich im Idealfall weitgehend selbst versorgen mit vielem, was die Seele so braucht: sich um sich selbst kümmern und auf sich achten, lieb zu sich selbst sein, sich auf sich selbst verlassen, sich selbst der beste Freund sein, sich akzeptieren. Wir Menschen sind jedoch soziale Tiere, und es wird in uns immer ein gewisses Grundmaß geben, zu dem wir andere brauchen und uns nach Nähe sehnen, nach Anerkennung und nach Liebe. Kein stetes Grundmaß, nicht von Mensch zu Mensch, und auch nicht in ein- und demselben Menschen von Situation zu Situation.
Aber genau wie einen das Zusammenleben mit anderen anstrengen kann, mag man auch von der Selbstpflege (oder auch dem Kampf gegen sich selbst) zuweilen ausgelaugt sein. Aus dem Grundmaß wird dann vielleicht auch ein allzu großer Hunger, in beide Richtungen: nach Nähe, nach Distanz; nach Sicherheit, nach Autonomie – die alten Pole, zwischen denen wir seit unserer frühesten Kindheit pendeln, mehr oder weniger ideal begleitet von Erwachsenen, die all das auch zulassen können oder eben eher nicht.
Wo die gesunde Grenze ist, weiß wohl niemand ganz genau, weil es für jeden anders ist. Man kann es aber vielleicht in sich erspüren.
Bei enttäuschter Erwartung denken wir zunächst an Unterlassungen. Jemand hat etwas (von einem anderen) erwartet, was nicht eingetreten ist, und dann ist dieser Jemand enttäuscht. Gerade diese Unterlassungen jedoch werden sonst recht selten besprochen, weil sie besser getarnt und im Gespräch auch schwieriger zu benennen sind als Handlungen. Wie soll man auch ernstzunehmend über etwas sprechen, das nicht da war? Im Zusammenhang mit Erwartungen sind Unterlassungen anscheinend die Nummer eins unter den Auslösern von Enttäuschung. Aber auch die Handlungen und Aussagen anderer können uns enttäuschen. Sowohl Zuwenig als auch Zuviel führt wohl unweigerlich zu Enttäuschung.
Nur die Skala dazu ist so facettenreich wie die Menschen selbst. Diese Markierung auf der Skala, an der “Genau Richtig” steht, liegt bei jedem Menschen und bei jedem Thema an einer anderen Stelle.
Das Ziel liegt also dort, wo wir uns selbst näher kennenlernen und unsere Grenzen neu ausloten und abstecken. Und wohl weniger darin, von einem klugen Kalenderblattdichter gesagt zu bekommen, es wäre nicht mehr okay, Erwartungen zu haben. Persönliches Wachstum statt noch mehr fremdbestimmte Lebensregeln, die in irgendwelchen Hirnen mit nur wenig dazugehörigen Herzen ersonnen wurden, um die nächste Verletzung zu vermeiden.
Es ist nämlich auch diese Rechnung vollkommen gültig:
In Partnerbeziehungen ist das Thema Erwartungen noch komplexer. Der Partner ist mir wichtig, der wichtigste Mensch auf der Welt sogar, ich habe Gefühle für ihn entwickelt und ihm Vertrauen und Offenheit geschenkt. Ich habe ihm mein Herz anvertraut und erwarte, dass er es pfleglich behandelt. Seine Handlungen und Unterlassungen wiegen daher auch weit mehr als die anderer Menschen in meinem Leben.
Erwartungen an den Partner sind geprägt von unserer individuellen Vergangenheit, von früheren Beziehungen, und auch von dem, was in den ersten Tagen, Wochen, Monaten der aktuellen Beziehung passiert ist. Außerdem natürlich von dem, was wir selbst zu geben bereit sind. Aber kaum ist eine Beziehung vorhanden, werden aus Leistungen von der einen Seite plötzlich Forderungen von der anderen, so als wäre plötzlich der eine vollständig für das Seelenheil (oder auch Körperheil!) des anderen zuständig, obwohl man sich vielleicht bisher gar nicht so schlecht um sich selbst gekümmert hat.
Was nun, wenn das, wonach man sich sehnt, einfach nicht mehr kommt? Vielleicht ganze Wochen oder Monate nicht mehr, vielleicht nur über Stunden, je nach persönlichem Schwerpunkt auf dem schmalen Grat zwischen Autonomiebedürfnis und Verlustangst, auf dem wir alle wandeln. Manche Veränderungen sind abrupt, viele auch schleichend. Letztere sind noch dazu schwerer zu erkennen und zu definieren.
Ich werde verunsichert sein. Das, was mir bislang aus freien Stücken geschenkt wurde, bekomme ich plötzlich nicht mehr. Sollte das nicht von selbst kommen? Muss ich ab jetzt darum bitten? Aber darf ich das überhaupt wagen? Wird meine Bitte als Vorwurf verstanden werden? Hängt das von der Formulierung ab?
Die Verunsicherung wird tiefer. Ich werde mich fragen, will er noch? Will ich noch?
Und wohin mit dem, was ich selbst zu geben habe? Will der andere es überhaupt noch haben? Und will ich es noch hergeben? Oder halte ich mich damit auch besser zurück? Weil es mir vielleicht fehlen wird, wenn lange nichts “zurückkommt”? Verausgabe ich mich ins Leere? Werde ich verhungern?
Die Beziehung als energetische Bilanz. In Ordnung, solange sie unbewusst geführt wird, aber des Teufels, wenn sie ins Bewusstsein gelangt oder gar ausgesprochen wird. “Aufrechnen” würde man, heißt es dann. Dabei ist es nicht eine Buchhaltermentalität, die zu diesem Aussprechen führt, sondern ein bestehendes Ungleichgewicht. Es geht um eine langfristige Balance, die wir ohnehin immer spüren, das Klima über die Zeit, das darüber bestimmt, ob eine Beziehung klappt oder nicht.
Zwei große Worte stehen mittlerweile wohl unübersehbar im Raum:
Liebe und Bedingungslosigkeit.
Ja, wir sind tatsächlich dazu in der Lage, einen anderen bedingungslos zu lieben.
Auch, wenn er uns immer wieder weh tut? Wenn er unser Herz nicht so pfleglich behandelt, wie wir das zu Recht erwarten? Ja, auch dann. Wir können ihn lieben, aber wir können ihn womöglich nicht in unserem Leben bleiben lassen. Die Liebe an sich ist bedingungslos, denn sonst würde sie abrupt enden, sobald die Bedingungen nicht mehr erfüllt werden.
Für das Teilen von Zeit, eines Lebens, gibt es jedoch immer Bedingungen. Es gibt sie zu Beginn einer jeden Beziehung. Es werden ihr stille oder offen ausgesprochene Regeln zugrunde gelegt. Diese Regeln sind gar nicht so starr, wie man meinen möchte, sie können in die eine oder andere Richtung gedehnt werden. Es kommt aber der Punkt, an dem auch das flexibelste Material dem Druck nicht mehr standhält. Jeder von uns hat ganz persönliche Bedürfnisse und Wünsche und seine eigenen Grenzen der Integrität, des Stolzes, des Sicherheitsgefühls, des Selbstschutzes gegen Zurückweisung, gegen Gedankenlosigkeit, gegen Grausamkeit.
Vielleicht läuft es am Ende doch darauf hinaus: Es funktioniert dann zwischen zwei Menschen, wenn das, was der eine von Natur aus zu geben hat, auch das ist, wonach der andere sich sehnt. Doch eine hunderprozentige Übereinstimmung wird überaus selten sein. Der Wunschtraum vom Seelenverwandten schleicht uns zwar beständig nach, wird davon aber nicht wirklichkeitsnäher.
Dazu kommen all die körperlichen Vorgänge während der Partnerwahl: hormonelle und geruchliche Komponenten, weitgehend unbewusste Vorgänge. Quasi der ausgiebige und ressourcenfressende Nachdenkprozess der Körperintelligenz, was die Kompatibilität unseres Immunsystems mit dem des neu gewählten Partners angeht. Und der Drogenrausch, dem wir dabei ausgesetzt sind. Da wäre es geradezu ein Wunder, wenn daneben auch noch diese Geben-Nehmen-Bilanz zufällig und dann auch dauerhaft stimmen würde. Wenn man nicht darüber redet.
Unglücklicherweise wird dieses “von Natur aus zu geben haben” zu Beginn einer Beziehung gerne überbetont, überflexibel gestaltet oder gar verbogen; und von der anderen Seite wird es verkannt, fehlinterpretiert oder auch fälschlicherweise für allzu authentisch oder dauerhaft gehalten. Wenn dann über die Zeit die freiwilligen Gaben weniger werden, steigen die Erwartungen – nicht! Sie gehen nur nicht weg! Allzu oft definieren sie sich eben sogar über genau diese Anfangsphase – über das Geschehen in den “Werbewochen”, wie das der Ex einer Freundin so treffend-zynisch ausdrückte. Man vergisst vielleicht, was man ohnehin nicht so dringend brauchte, aber man vermisst, was einst den emotionalen Appetit so wohlig stillte und gleichzeitig anregte. Und das will man dann wieder zurückhaben. Das mag unvernünftig sein, aber es ist sehr menschlich.
Müssen wir hingegen erst aktiv um das bitten, was wir uns wünschen, dann verdrießt uns das vielleicht, weil zu so mancher Erwartung auch noch gehört, dass es “aus freien Stücken” geschehe. “Es ist einfach nicht dasselbe, wie wenn’s von allein kommt”, sagen die betroffenen Menschen dann. Es verdrießt uns ganz sicher dann, wenn die Formulierung von Wünschen dann vom anderen als Druck wahrgenommen wird oder schlicht auf taube Ohren stößt.
Müssen wir nachfragen, was dem anderen wirklich Freude machen würde, verdrießt uns das vielleicht auch, weil er es nicht von selber äußert. Oder weil wir uns dann plötzlich nach den reellen Wünschen eines anderen richten müssten und nicht mehr nach dem, was wir erwarten, dass er sich wünscht. Wir können uns nicht mehr “frei entfalten” – was zwar an sich ein legitimer Wunsch ist, aber eben nicht just dann, wenn es um die Erwartungen anderer geht.
Es ist heimtückisches, überraschend paradoxes und sehr dünnes Eis.
Hellseherei und Telepathie sind aber immer noch sehr selten auf der Welt. Wir können es nie mit Sicherheit wissen, wenn wir nicht darüber reden. Mit Kommunikation steht und fällt jede Beziehung. Sie findet freilich nicht nur auf verbaler Ebene statt, sondern auch auf vielen anderen. Da uns die Fähigkeit zu sprechen gegeben ist, sollten wir diese aber auch tunlichst nutzen.
Kommunikation ist ja an sich schon perfide genug.
Wir glauben ja gerne, dass das so läuft: Wir sagen etwas, und unser Gegenüber hört und versteht das.
In Wirklichkeit läuft es eher so: Meine Gedanken müssen erstmal in Worte gegossen werden. Das ist, je nach körperlichem und seelischem Befinden und auch je nach Hormonstatus, schonmal ein nicht ganz triviales Unterfangen. Ich muss möglichst den Punkt treffen, aber auch darauf achten, dass nicht durch meine Wortwahl eine ganz andere, womöglich unbeabsichtigte Information mitschwingt (“Subtext”). Ich muss in mich hineinhorchen und eine balancierte Mischung aus Worten finden, die einerseits authentisch und andererseits der Beziehung zum Gegenüber angemessen ist. Und dann müssen diese Worte dem Empfänger auch noch in einer geeigneten Situation dargebracht werden. Was nützt es mir, mich perfekt ausgedrückt zu haben, wenn der Empfänger gerade nicht in der Lage ist, sich auf mich einzustellen, weil er abgelenkt, aufgeregt, deprimiert oder müde ist.
Zu diesem Zeitpunkt ist die Botschaft eventuell bereits etwas verzerrt aus meinem Munde gestolpert. Und erst jetzt beginnt die Aufnahme beim Empfänger! Er muss sich auf meine Ausdrucksweise einstellen, die vielleicht ganz anders ist als das, was er selbst betreibt und gewöhnt ist. Seine Assoziationen sind ganz andere als meine, besonders, wenn man einander nicht besonders gut kennt.
Der Empfänger interpretiert die Wortwahl und den Tonfall anders als ich. Er hört vielleicht etwas raus, was da nicht ist, oder fühlt sich auf der persönlichen Ebene angegriffen und geht sofort zur Verteidigung oder zum Gegenangriff über. Meine Hoffnung darauf, mein eigentliches Anliegen als meinen persönlichen Wunsch und Anspruch begreiflich formuliert zu haben, ist dahin – sofern der Gesprächspartner sich nicht aktiv darum bemüht und es schafft, sein “Beziehungsohr” wenigstens kurz auf Durchzug zu schalten.
Und schließlich muss der Empfänger, um meine Sicht und das von mir Gesagte tatsächlich nachzuempfinden, auch auf sein eigenes Gefühlsleben zugreifen wollen und können. Mitgefühl funktioniert nicht ohne eigenes Gefühl als Referenzpunkt!
Sehr häufig liegt der innere Fokus der Gesprächspartner auch gar nicht auf Verständnisgewinn, sondern darauf, die Diskussion zu gewinnen, recht zu haben oder das eigene Gesicht zu wahren. Es gibt also eine Vielzahl an Möglichkeiten, in einem Gespräch “falsch abzubiegen” und an einer Stelle herauszukommen, die vom angepeilten Ziel nicht weiter entfernt sein könnte.
“Darüber zu reden” ist also nicht so profan, wie man meinen möchte. Kommunikation als einfaches “Sagen, Hören, Verstehen” ist eher selten, gerade wenn’s um Gefühlsthemen geht. Weil wir das schon oft gespürt haben, aber nicht richtig verstehen, wie es dazu kommt, scheuen viele davor zurück, überhaupt Gespräche über tiefergehende Themen zu führen.
Dennoch ist nicht darüber zu reden keine Alternative. Auch nicht aus Angst vor dem Gespräch. Niemals. Die Wucht des Schweigens nämlich liegt noch jenseits jener der verbalen Zurückweisung – und die ist schon sehr schwer emotional zu verkraften. Schweigen transportiert: “Du bist Luft für mich. Ich stehe zu dir in keiner Beziehung. Ich muss nicht mit dir interagieren.” Zumindest in diesem Punkt unterscheidet sich das Schweigen stark von tatsächlich stattgefundener Kommunikation: Es ist garantiert, dass diese Botschaft beim Empfänger genau so ankommt. Die Situationen, in denen wir dem Empfänger tatsächlich genau diese Botschaft reinwürgen wollen, dürften aber relativ selten sein.
Wir alle kennen Menschen, die mehr nach Kommunikation zu streben scheinen als andere. Tun sich diese Menschen damit “einfach leichter” als andere? Ich halte das für einen fatalen Irrtum. Manche haben einfach erkannt, dass ohne Kommunikation früher oder später alles den Bach runter geht. Dass ohne ein Klären der unüberspürbar im Raum stehenden emotionalen Konflikte gar keine echte Sachdiskussion möglich ist. Und sie haben vielleicht zum konkreten Zeitpunkt mehr Übung als andere. Aber auch sie müssen beim Beginnen eines Gesprächs die Hürde immer wieder von Neuem überwinden. Man sollte diesen Part nicht nur immer wieder demselben Menschen überlassen oder ihm gar einen Vorwurf aus seiner Gesprächswilligkeit machen, ihn dafür bestrafen oder heruntermachen. Denn die Verantwortung für jede Art von Beziehung ist 50:50 zu teilen. Immer! Und stetige Kommunikation ist ein unverzichtbarer Teil jeder Beziehung. Die Kommunikation selbst ist sicher immer verbesserungswürdig, sofern alle Beteiligten dazu bereit sind – aber dass sie zum Erhalt der Beziehung notwendig ist, darüber gibt es keinen Zweifel.
Reden ist Vertrauenssache, das sollte sich eigentlich von selbst verstehen. Es gehört sich nicht, dem anderen aus dem, was er in einem intimen Gespräch offenbart hat, einen Strick zu drehen. Nein, auch nicht später irgendwann. Sätze wie “Ich weiß nicht, was du schon wieder für Ängste hast, aber…” darf man sich also getrost dorthin stecken, wo die Sonne niemals scheint. Und muss vermutlich in Betracht ziehen, selbst offener zu werden, um ein Gleichgewicht wiederherzustellen, das offenbar gegenwärtig nicht besteht.
Also ja, du darfst erwarten, dass dir nahestehende Menschen mit deiner Seele so sorgsam umgehen, als wäre es ihre eigene. Aber die Erwartung wird nicht immer erfüllt werden. Und ja, es würde sich manchmal leichter leben, wenn es im Inneren einen Schalter für Erwartungen gäbe, den man einfach auf “Aus” drehen kann. Aber für die persönliche und seelische Entwicklung ist Shutdown und Mauerbauen keine echte Option.
Es wirkt auf den ersten Blick tatsächlich verlockend, sich selbst gar keine Erwartungen zuzugestehen und sie auch nicht zu äußern, damit man später nicht enttäuscht wird. Es klingt ja auch sehr gut und erwachsen und erleuchtet, solange man es nur mit dem Verstand besieht. Es kann aber ein teuflisches Unterfangen sein. Vom Leugnen der eigenen Erwartungen ist noch niemand erwartungsfrei geworden. Denn sie verschwinden nicht durch reine Geisteskraft, will sagen, nur weil man sie sich wegwünscht. Oder indem man gleich einem anderen Menschen das höhere Prinzip der Erwartungsfreiheit predigt – weil es ja auch viel bequemer ist, von so weit oben jemandem die unedleren Prinzipien zu bescheinigen, und weil es so schön von den eigenen Unzulänglichkeiten ablenkt. (Es ist höchst absurd, von anderen zu erwarten, sie müssten erwartungsfrei sein.)
Die Erwartungen reagieren nicht auf solche rein intellektuellen Selbstüberlistungsmanöver – sie bleiben bestehen. Daher bleibt auch die Enttäuschung nicht aus – und beleuchtet grell all die Erwartungen, die man fluchtsicher in seinem finstersten Inneren verstaut zu haben glaubte. Womöglich ist man obendrein noch enttäuscht von sich selbst, weil man erwartet hätte, seine Erwartungen mittlerweile im Griff zu haben. Für das Seelenheil und die persönliche Entwicklung ist das so wertig wie wie alleine im Dunkeln mit verbundenen Augen Verstecken zu spielen. Kann eine Ablenkung sein, um nicht hinschauen zu müssen, führt aber im Sinne einer persönlichen Entwicklung nirgendwo hin.
Für den nächsten Schritt bleiben in dieser Situation dann nur wenige Wege offen: Die Enttäuschung genauso zurückzudrängen wie die Erwartungen zuvor und ein verbitterter, einsamer Mensch zu werden, der fest glaubt, dass ihm das Leben nichts gönnt. Oder mit dem Menschen zu reden, der einen enttäuscht hat. Manchmal wird das sachlich ablaufen, meistens aber eher in Form einer patzigen Bemerkung, mitunter auf passiv-aggressive Weise. Schließlich ist man enttäuscht. Man muss sich dann womöglich die Frage gefallen lassen: “Warum hast du nicht vorher was gesagt? Ich bin doch kein Telepath.” Und das nicht ganz zu unrecht.
Noch seltener als Telepathie ist nur, dass innere Vorgänge sich auflösen, wenn man nur lange genug nicht hinschaut. Ganz genau hinzuschauen, wenn es um das eigene Innere geht, ist bestimmt unbequemer und auch anstrengender, aber für die persönliche Entwicklung mit Sicherheit zielführender.
Tief durchzuatmen und die eigenen Erwartungen zu sichten, eine nach der anderen, am besten genau dann, wenn Erwartungen oder Enttäuschungen in einem auftauchen. Und im Zuge dessen festzustellen: Was davon ist angemessen? Wie lautet die Grundregel in meinem Denken, die dieser Erwartung zugrundeliegt? Ist sie noch gültig? Möchte ich sie weiterhin gelten lassen? Und gilt sie auch für mein eigenes Verhalten? Oder erwarte ich womöglich von anderen etwas, das ich selbst gar nicht zu geben bereit wäre?
Vieles davon kann dann tatsächlich weg. Wenn du es von geistiger und emotionaler Warte aus loslässt. Nicht, weil die zum Ausmustern herausgelegte Erwartung dir nicht zustehen würde, oder weil sie zu hoch gegriffen wäre. Sondern weil die dazugehörige “Lebensregel” vielleicht aus einer alten Zeit stammt, die für die Gegenwart gar nicht mehr gültig ist, oder vielleicht einfach, weil es im Grunde keinerlei Rolle spielt. Manche Kleinigkeiten nehmen wir wirklich viel zu genau – das merken wir immer dann, wenn wir jemanden verlieren und plötzlich sehr genau spüren, worauf es wirklich im Leben ankommt. Oder angekommen wäre.
Nur wer seine Erwartungen kennt und als legitim empfindet, kann sie irgendwann auch formulieren. Nur dann bin ich der Erfüllung der erwarteten Erwartung von außen nicht mehr unwidersprochen ausgesetzt. Anderenfalls muss ich mich womöglich noch darüber freuen, wenn mir eine Erwartung erfüllt wird, die ich eigentlich gar nicht hatte, und mich dafür auch noch dankbar zeigen – weil es von mir erwartet wird! Schon Eugen Roth schrieb einst, dass »unfroh bleibt, wer froh sein muss«. Es ist somit auch manchmal nötig, den anderen gegenüber auszusprechen, was man nicht erwartet.
Selbstverständlich muss niemand immer jede Erwartung erfüllen, und man kann das auch umgekehrt nicht für sich einfordern. Es geht vielmehr darum, eine gesunde Balance zu finden zwischen dem, was ich für mein Leben möchte und dem, was andere Menschen sich von mir wünschen – nicht alle anderen Menschen, aber jene, die für mich wichtig sind, und die ich in meinem Leben weiterhin haben möchte. Dazu gehört jeweils eine gesunde Portion Selbstliebe und Nächstenliebe.
Manche kriegen schon beim Wort “Selbstliebe” Schuldgefühle – ein todsicheres Zeichen dafür, dass ein rigoroses Ausmisten in den eigenen, mutmaßlich katholisch infizierten Glaubenssystemen ansteht. Nicht falsch verstehen – als moralischer Grundpfeiler ist die christliche Lehre sicher nicht ganz ungeeignet. Vieles darin ist aber dazu angetan, den Mensch klein und unter Kontrolle zu halten. Es steht damit der Entwicklung einer gesunden Selbstliebe sehr breitschultrig im Weg.
Mit dem Aussprechen meiner Erwartungen steigt jedenfalls die Chance, dass ich das bekomme, was ich will. Nicht auf 100%, aber sie steigt. Ich erspare außerdem mir und anderen das nachträgliche Diskutieren eines Enttäuschungsgefühls. Vielleicht frage ich dann sogar mal bei einem anderen nach, was er oder sie sich eigentlich wirklich wünscht und erwartet, so ganz tief im Inneren.
Ob ich darauf eine ehrliche Antwort bekomme – oder überhaupt irgendeine – steht allerdings auf einem anderen Blatt. Aber ich habe vielleicht einen Menschen dazu angestoßen, ehrlicher mit sich, seinen Erwartungen und seiner Wirklichkeit umzugehen. Und mit mir.
liebe Susi!
faszinierend, wie wortgelenkig du es schaffst, komplizierte zwischenmenschliche abläufe zu beschreiben. treffsicher, ohne unter- oder übertreibung. Danke Dir vielmals, du hast einmal mehr “dem Kind einen Namen” gegeben. Denn so wie Du glaube ich auch, dass Verdrängen, Tuchent drüber, wegschauen – letztendlich die untauglichste methode ist, mit Disharmonien des Alltages “fertig” zu werden. Alles Liebe Dir v. roswitha
Ich hab zu danken, liebe Witherl, für deinen wohlwollenden und ebenfalls sehr wortgelenkigen Kommentar! :) Es wird viel zu viel weggeschaut, überall.
was für ein schöner eintrag.
den werde ich mir dieses we noch mal mit mehr zeit und ruhe genauer zur brust nehmen.
liebes tosherl, ich dank dir sehr.
sei umarmt!
Vielen Dank! Fühl dich auch gedrückt, meine Liebe!
Sowas von brillant und genial formuliert! Betrachtungen nicht nur aus einer Sicht, sondern von vielen – ich glaube, von allen – Seiten bringen einen oftmals zum bejahenden Nicken, machen aber auch nachdenklich, ein schön anspruchsvoller Text. Bin wieder mal ganz stolz auf Deine Eintragungen hier!
Oh, ich erröte! =) Danke für die bedingungslose Liebe und Unterstützung!
Das Leben kann schön einfach und grausam kompliziert sein, du hast es in bekannt wohlgesetzter Manier herausgearbeitet, dass es zur erfolgreichen Bewältigung ehrlicher und tiefer Kommunikation bedarf, dass im Zwiespalt zwischen spontaner und besonnener Gefühlsübermittlung und deren nicht immer erfolgreichen Rezeption ein Spannungsfeld von Sehnsüchten, überzogenen Erwartungen, Ängsten und mangelndem Selbstwertgefühl entsteht. Mögen dir dabei Geduld, Offenheit und Empathie helfen, ich drücke dich ganz fest von der fernen Costa…
Du sagst es. Und wie immer gilt: Grau ist alle Theorie. Was einem in der Praxis dann für Gestammel aus dem Mund purzelt, aber das dafür im unpassendsten Moment – das steht auf einem anderen Blatt und ja, das ist alledem geschuldet, was du zusammengefasst hast. Danke lieber Herbert und Bussis Richtung España an dich und deine Süße!
Wieder ein sehr schöner, berührender Text mit hoffnungsvoller Conclusio von Dir!
Dankeschön! Manchmal ist ja sogar die Hoffnung zum Erschießen nervig, aber sie stirbt eben zuletzt.