Das tut nix, es ist nur ein Gefühl!

Sinnvolles Bewältigen von großen, schwierigen Gefühlen ist, sie wahrzunehmen, bei ihnen zu sein, sie zu spüren, zu trösten, zu umarmen, zu akzeptieren, sie nicht alleinzulassen.

Und damit auch: sich selbst nicht alleinzulassen. Eines der schlimmsten Gefühle ist es, sich alleingelassen zu fühlen. Dennoch tun wir uns das selbst immer wieder an – wir verlassen uns selbst, um uns nicht spüren zu müssen.

Dagegen:
Reinspüren. Aufspüren. “Ich hör dich. Ich seh dich. Ich bin da. Ich bleibe da, auch wenn’s schwierig wird. Es ist okay. Woher kommst du? Seit wann bist du da? Was willst du mir erzählen?”
Dortbleiben. Seine eigene Beschwichtigerin, Trösterin, Mama sein.
Zuhören. Fokussiert. Zugewandt. Erzählen lassen.
Erkunden, mit welchen Körpergefühlen das Gefühl zusammenhängt.
Tränen zulassen, wenn sie kommen. So lange, bis das Gefühl angenommen ist.
Dann aufatmen.
Reflektiertes Bewältigen, und es immer wieder zu tun, bedeutet, sich zu akzeptieren.
Sich selbst auszuhalten. Sich selbst lieb zu haben.

Dagegen ist sofort ausagieren, wüten, Schuld zuweisen müssen keine Bewältigung, sondern Verdrängung.
Dass andere Menschen das nicht gutheißen werden, versteht sich eigentlich von selbst. Vor allem solche, die für sich selbst und ihre Gefühlswelt bereits die Verantwortung übernommen haben. Und die andere für unreflektierte Affekte verantwortlich machen werden.

Wozu Gefühle bewältigen?
❥ Um die eigenen Gefühle zuzuordnen, zu benennen, aushaltbar zu machen, wiederzuerkennen.
❥ Um mit sich eine Verbindung einzugehen und verbunden zu bleiben, egal, was außen passiert.
❥ Um Blockaden zu lösen und sich weiterzubewegen, emotional und körperlich.
❥ Merken, wann man Ruhe braucht, bevor es zum Overload kommt. Spüren, wann man mit seinem Gefühl genug bei den anderen war und wieder zu sich selbst und seinen Quellen zurückmuss, um Energie zu tanken und alles in Ruhe einzuordnen. (Auch und gerade für Hochsensible)
❥ Um sich weniger alleingelassen zu fühlen, denn dieses Gefühl wird man so lange im Außen wiederfinden, wie man es innerlich mit sich herumträgt.
❥ Um nicht dem Auslöser die Schuld zuzuschieben, weil er jedesmal wieder mit dem wahren Ursprung verwechselt wird.

Manche glauben ja, mit dem Wissen um eine alte Verletzung wäre sie auch gleich gelöst. Aber da beginnt die Arbeit erst. Sich selbst und seine Gefühle zu kennen bedeutet freilich auch, leichteren Zugang zu sich zu finden, neue Situationen schneller einordnen zu können. Denn unsere Gefühle sind ein Fortsetzungsroman.

Es gibt für schwierige Gefühle keine Umleitung über den Intellekt. Nur wer die Gefühle der ersten Folge in sich kennt, bewältigt sie auch bei der Fortsetzung leichter. Und muss sich nicht im neuen Anlassfall mit einer ganzen Domino-Kaskade an älteren Gefühlen und Auslösern herumschlagen, die, angestoßen von einem neuen Auslöser, zusätzlich über ihn hereinbricht.

Leider wird den wenigsten von uns zeitgerecht beigebracht, wie das geht – bei sich sein. Für sich verantwortlich sein. Negative Gefühle okay finden, aushalten, bewältigen.
Gefühlsabwehr ist die unwürdige, aber am meisten verbreitete Ersatzstrategie. Panisches Wegschieben jedes Unwohlfühlens und schwerpunktmäßige Übertünchung der dunklen Farbe. Etwa mit rosaroter Feelgood-Ablenkung: Wellness, Alkohol, Serien und Schoki. Oder mit Aggression, Frustration, Schuldzuweisung, Drama, Rache. Oder Rückzug, Schlaf, Depri oder Selbstmitleid.
Die dunkle Farbe kommt aber wieder durch. Die Mauer an unbewältigtem Gefühl wird immer dünkler.

Dem modernen Imperativ der Masse nachzugeben, etwas zu erleben, den Tag zu nutzen oder auch etwas zu leisten, ist eine artverwandte und gern genommene Ausweichroute an Gefühlen vorbei – aber selten gleichbedeutend mit “mir selbst gut tun”. Man nimmt damit nur das enthaltene, verführerische Angebot an: “Solange ich das mache, muss ich nicht dort hinschauen, wo es wehtut”. Und: “Wenn ich fertig bin, ist es vielleicht weg.”

ES ist nie weg. ES löst sich nicht einfach auf. Es zieht in die Mauer ein, lässt darin die dunklen Stellen weiter anwachsen, und beeinträchtigt so allmählich die Stabilität. Bis die Mauer kollabiert.

Viele haben Panik vor schwierigen Gefühlen oder finden’s gar gefährlich, etwas zu spüren, weil sie meinen, dass ihr Verstand dann die Kontrolle verlieren könnte. Sie müssen das Gefühl umgehend verscheuchen, irgendwie agieren, andere mit hineinziehen oder auf sie projizieren – Hauptsache ganz schnell wieder super fühlen, zurück zur gesellschaftlich oktroyierten Default-Einstellung “Happy”, ohne Rücksicht auf Verluste. Und sie empfehlen dieses Vorgehen auch anderen, wollen mit deren Gefühlen nicht in Berührung kommen, weil sie dabei erst recht wieder ihre eigenen spüren müssten.

Dabei geht im “besten” Fall nur die Verbindung zu sich selbst flöten, im schlechtesten geht auch im Außen viel kaputt. Weil wir auch nicht mit-fühlen können, wenn wir uns selbst nicht spüren.

Auch „Mein Geist ist stets Herr über meine Emotionen“ ist ein nachvollziehbarer Wunsch, aber eben nur Wunschdenken. Je weniger Verbindung zum eigenen Gefühl, desto weniger bewusst sind uns die Auslöser des eigenen Handelns. Dabei entsteht leicht die Illusion, alles unter Kontrolle zu haben. Eine Zeit lang. Und währenddessen suchen wir weiter im Außen, woran es uns innen mangelt: Verständnis. Verbindung. Bedingungslosigkeit. Resonanz.

Es ist aber nicht die Aufgabe der anderen, unsere Gefühle für uns zu bewältigen oder jedes unreflektiert ausagierte Gefühl bedingungslos zu akzeptieren. Wer das glaubt, hat Liebe missverstanden.

Manche finden wohl auch, man wäre leichter manipulierbar, wenn man “zu viel spürt”. Doch die wahre Gefahr ist es, sich nicht zu spüren. Seine Empfindungen nicht zu kennen. Die klare Verbindung zu sich selbst, den Kontakt zu seinen Gefühlen nicht zu haben. Denn sie warnen vor Manipulation.

Etwas zu spüren ist noch keine Handlung. Es ist erstmal nur ein Gefühl. Eine Wahrnehmung, die unsere anderen komplettiert. Warum sollte man freiwillig auf einen Teil seiner Wahrnehmung verzichten? Wir verleugnen ja auch nicht unsere Nase, nur weil sie nicht immer nur Blütenduft meldet. Beide liefern uns wichtige Informationen darüber, was okay ist und was toxisch sein könnte.

Gefühle arbeiten auch mit kritischem Denken sehr gut Hand in Hand – und nicht etwa dagegen. Der Verstand darf dann im notwendigen Bias-Check die Gefühle auf Wahrnehmungsfehler abklopfen.

Wer hingegen gewohnheitsmäßig jedes ungute Gefühl sofort wegschiebt, tut sich auch schwer wahrzunehmen, wenn etwas nicht stimmt.

Auch Mitgefühl zu haben und zu zeigen ist nicht gleich Mit-Leid, und schon gar nicht (unverdiente, erschlichene) Zuwendung. Es ist nicht nötig, sich zu jeder Angelegenheit oder zu jedem Menschen und seiner Situation rigoros auf Schwarz oder Weiß zu positionieren. Man kann Nuancen von Grau und Bunt wahrnehmen dürfen, und bei jemandem sein, der etwas Schwieriges spürt, und dennoch bei sich selbst bleiben.

Gewohnheitsmäßige Gefühlsabwehr ist auch deshalb gefährlich, weil Verdrängung nicht ewig funktioniert. Wir laufen doch vor Gefühlen weg, weil wir spüren, wie stark ihre Energien sind. Und wir wissen genau, dass unterdrückte Energien sich immer ihren Weg bahnen werden – je stärker und je länger unterdrückt, umso heftiger. Letztlich bekommt man alles auf einmal zu spüren, seelisch und auch als körperliche Manifestationen – dann aber schwerer bewältigbar.
Oder gar nicht.

Wer sich selbst aushält, für sich verantwortlich ist und mit sich verbunden bleibt, kann sich auch mit anderen verbinden, dauerhaft, beiderseits zuträglich, fair und ohne Zuweisung unangemessener Verantwortlichkeit oder Schuld für schwierige Gefühle.
Und das ist es doch, was unser Leben mit Sinn erfüllt, und was die meisten von uns ihr Leben lang suchen, erhoffen und ersehnen – eine echte, wunderbare, tiefe Verbindung zu anderen Menschen.

Um für andere aushaltbar zu sein, darf man seine Gefühle nicht ausschließen. Ja, es erfordert großen Mut, sich ihnen zu stellen, bei ihnen zu bleiben und sie zu bewältigen. Auch das wissen alle, denn sonst würden nicht so viele davor wegrennen.
Ironisch ist, dass sich dennoch hartnäckig der Irrglaube hält, Gefühle zu haben wäre gleichbedeutend mit Schwäche. Etwas, das so großen Mut erfordert, kann gar keine Schwäche sein.

Man kann so eine Bewältigung mit sich allein machen oder mit professioneller Begleitung. Letzteres ist vor allem ratsam, wenn man dazu neigt, von schwierigen Gefühlen überwältigt zu werden, oder auch Gefühle im Verstand zu analysieren statt sie zu spüren, und das für Bewältigung zu halten.
Damit ist nicht gemeint, dass Analysen wertlos wären. Man kann auch dabei etwas lernen. Aber rationale Gefühlsanalysen sind keine wahrgenommenen Gefühle. Es ist nur eine weitere Art, seinen Gefühlen auszuweichen.

Auch um es zu erlernen und dabeizubleiben, kann Begleitung helfen. Mitgefühl zu bekommen ist natürlich wichtig, Trost von außen heilsam und manchmal in akuten Situationen auch unersetzlich. Letztlich ist aber das Ziel, sich auch selbst diese Begleitung zu werden und sein zu können.

Wichtig ist: Machen! Spüren. Mit sich verbunden sein.
Entspannter sein. Grenzen neu setzen. Besser leben. :)
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~ Für J. und alle, die es gerade brauchen können.
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~ Siehe dazu auch meinen nächsten Eintrag “Resonanz” – mit Podcast-Empfehlung!
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~ Oder auch meinen Artikel darüber, Was das Patriarchat mit den Männern macht.

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