Ich bin immer wieder entsetzt, was für eine überaus trostlose Angelegenheit ein katholisches Begräbnis ist. Entstehen Religionen nicht vor allem aus der Not des Menschen, die Sterblichkeit allen Lebens irgendwie bewältigen zu müssen? Daher erhofft man sich doch von einer Religion, gerade wenn man einen geliebten Menschen verloren hat, noch am ehesten Nähe, Wärme, Trost, Verständnis, Menschlichkeit. Stattdessen wird man mit endlos heruntergebeteten Litaneien abgespeist, die bei jeder Wiederholung etwas mehr ihres Sinnes entleert werden, und mit dem Hinweis, man möge doch an ein Leben nach dem Tod glauben, um Erleichterung zu erfahren, und statt dass man sich gräme lieber dankbar sein, dass man den verstorbenen Menschen überhaupt bei sich haben durfte.
Dieser Mensch, der wahrscheinlich jemandes Mama oder Papa war, jemandes Oma oder Uropa, jemandes Bruder oder Schwester oder Kind, jemandes bester Freund, wird darin zwar ab und zu erwähnt, dabei wird er jedoch mit einem Vornamen tituliert, mit dem er im Leben von niemandem angesprochen wurde, oder gar mit einem unpersönlichen Herr/Frau Nachname. Dieser Mensch, dessen Gesicht für immer verschwunden ist, lebte ein ganzes Leben; darüber wird beim Begräbnis nicht gesprochen. Nicht über seine Berge und Täler, nicht über seinen Mut oder seine Hartnäckigkeit, seinen Stolz oder seine Treue oder seine Schrulligkeit, nicht über die Liebe, die er geben und erfahren durfte, oder die Spuren und Prägungen, die er hinterlassen hat. Wer nicht bereits das Glück oder Pech hat, gläubig zu sein, lernt es bei einem solchen Begräbnis sicher nicht. Die Gläubigen fühlen sich von dem armseligen Rest, der nach all dem Ungesagten übrig bleibt, vielleicht tatsächlich getröstet; ich persönlich kann diesen distanzierten Phrasen allerdings nicht den geringsten Trost abgewinnen. Noch die zurückhaltendsten protestantischen Begräbnisse stellen die katholischen in einen Schatten, der nicht viel mit einem liebenden, gütigen Gott zu tun hat.
Meine eigene Trauer mal beiseite genommen – für meine Freunde bin ich ohnehin selbstverständlich da, wenn sie jemanden verloren haben; für Bekannte aus Kindheitstagen, aus dem Heimatdorf sieht das aber oft anders aus. Es betrübt mich, dass mein Erscheinen bei einer so unterkühlten Veranstaltung die vielleicht einzige Möglichkeit ist, meine Anteilnahme zu zeigen. Irgendwie habe ich dabei das Gefühl, betrogen werden und selbst zu betrügen, als würde ich mich damit den Hinterbliebenen gegenüber auf denselben Standpunkt stellen wie die katholische Kirche – oder vielmehr gestellt werden. Ein kleiner Trost: Es ist wohl etwas mehr wert als ein Nichterscheinen.
Religionen entstehen meiner bescheidenen Ansicht nach als Antwort des Menschleins auf die ihm begreiflich gewordene Erkenntnis seines begrenzten Verstandes, als scheinbares Werk- und Handwerkszeug im Umgang mit der ihn umgebenden immensen Irrationalität. Der Tod ist dabei nur ein Spezialfall letzterer. Drum findet ja so ziemlich jede Kirche auch genug Betätigungsfelder im hiesigen Leben: kaum hast du deinen ersten Atemzug gemacht, wird dir das Brandzeichen aufgedrückt – von den eigenen Eltern! – die keinen Tag länger warten können … Warum? – Aus Furcht! Aus Furcht vor dem Leben.