Von Hirnen und Menschen (2)

Dieser Artikel ist Teil 2 von 2 in der Serie "Von Hirnen und Menschen" ...

Artikel-Serie "Von Hirnen und Menschen":

7. EXKURS: WAS DAS PATRIARCHAT MIT DEN MÄNNERN MACHT
(Fortsetzung aus dem ersten Teil, und gleichzeitig Abschnitt eines noch ausführlicheren Textes, den ich schon sehr lange in der Schublade hatte. Ich beleuchte nur einen Teilbereich davon, aus cis-het-Perspektive. Trotzdem: #longread)

Reden wär schön. Nicht nur, weil das Teilen von innersten Geheimnissen für die Nähe in einer Beziehung zwischen Menschen so wichtig ist. Nicht nur, weil diese Frau mit dem so ~andersartigen~ Gehirn sich das eben wünscht, weil (nur?) sie dieses innere Bedürfnis nach vertrauensvollen Momenten und Intimität spürt – und sich beim Stillen dieses Bedürfnisses nicht auf die rein körperlich-sexuelle Ebene beschränken (lassen) will.

Das Wesen und ich Sondern auch, damit der Mann den Kontakt zu seinen eigenen Empfindungen aufrechterhält oder wiedererlangt. Die eigenen Empfindungen und Bedürfnisse ungehindert wahrnehmen und auch entsprechend stillen (lassen) zu können bedeutet auch, selbst-entsprechend handeln zu können. Und davon hängt das seelische und körperliche Wohlbefinden entscheidend ab! Empfindungen und gestillte Bedürfnisse machen das Leben bunter und reicher und vollständiger, weil sie es überhaupt erst ermöglichen, in seinem eigenen besten und authentischen Sinne zu handeln, tiefe Freundschaften zu führen und aus vollem Herzen zu lieben und geliebt zu werden. Doch dafür muss man erstmal wahrnehmen und akzeptieren können, dass man Bedürfnisse, also “schwache”, bedürftige Gefühle, überhaupt hat. Diese Gefühle dann auch wahrzunehmen ist also erst der zweite Schritt.

Alle Menschen kennen den Druck, den “die Gesellschaft” – dieses Konglomerat aus Autoritäten, Medien, Mitmenschen und einem selbst – auf jeden einzelnen von uns ausüben kann. Viele von uns wissen etwa, wie es sich anfühlen kann, einem weiblichen Rollenbild entsprechen zu müssen: brav sein, hübsch sein, Mund halten, alles hintanstellen, Mann finden, Kinder gebären.

Von der gesellschaftlich diktierten Männlichkeitsschablone hingegen werden viele Gefühle als generell unmännlich aus der Erlebenswelt ausgeklammert. Die männliche Gefühlsabwehr – also dass Männern der Zugang zu den eigenen Gefühlen schon ab der Kindheit und Jugend erschwert und eingeschränkt wird, bis sie diese Aufgabe selbst übernehmen, weiterführen und weitergeben – ist ein mächtiger Mechanismus zu einer eingeschränkten Identitätsentwicklung und Lebensbewältigung, der über Jahrzehnte ausgebildet wird. Das ist wohlgemerkt kein individuelles Defizit, sondern ein gesellschaftliches.

SONY DSC Doch wir alle nehmen an diesem System teil. Es ist Erziehung mit klassischen Methoden, die darin stattfindet: Solange man sich rollenkonform verhält, gibt es von außen Bestätigung und Anerkennung. Doch das Abweichen von einem Rollenbild wird geahndet: durch Beschämung, Spott, Ausgrenzung, Zwang, Gewalt. Und wir alle wollen dazugehören. Nicht dazuzugehören bedeutet Verhungern und Erfrieren für unser archaisches Hirn.
Der Weg des geringsten Widerstandes ist also scheinbar der leichteste. Aber auch der mit dem höchsten “Fimo-Faktor” – also jener Weg, der einen Menschen am stärksten formen, verbiegen und verändern wird. Die Wahl dieses Weges sorgt täglich dafür, dass alles stets beim Alten bleibt: weil nie irgendwo irgendwer irgendwas dagegen sagt.

Obendrein durchziehen hierzulande immer noch allerlei Überbleibsel aus unserer politischen, religiösen und kulturellen Vergangenheit die Erziehung und Rollenbilder. Etwa die Denkmuster eines Rudolf Steiner, und ganz allgemein die Nazi-Bestrebungen in der Kindererziehung, aus kleinen Menschen möglichst bindungsunfähige Soldaten zu machen, oder Frauen, die unterwürfig und kontrollierbar sind und bleiben.

Strategien zur Gefühlsabwehr dienen dem Schutz vor der Überflutung durch Gefühle, und das ist im Prinzip eine sinnvolle Sache, wenn man es richtig macht. Es gehört zum Erwachsenwerden dazu, reifere Verhaltensweisen der Gefühlsbewältigung zu erwerben, um sich emotional besser im Griff zu haben. Es fehlen aber vor allem unter Männern gesunde Strategien zur Gefühlsbewältigung, dafür, wie vor allem mit schwierigen Gefühlen umzugehen wäre: Abhängigkeit (die emotionale Bedürftigkeit nach Zuwendung und Trost) und Gefühle von Ohnmacht, Scham, Einsamkeit und Angst.
Dass diese Gefühle da sind, um gefühlt zu werden, wird übersehen. Dass sie nicht einfach weg sind, wenn man nur nicht hinschaut. Es ist generell ein gesellschaftliches Manko, dass niemand uns zeigt, wie mit Gefühlen umzugehen wäre: dass man sie wahrnehmen, begrüßen und benennen kann, und dann entscheiden, ob aus ihnen eine Handlung folgen muss, ob man sie eventuell ausdrücken muss, oder ob man sie weiterziehen lassen kann. Diese Fähigkeit zu erwerben fällt leichter in einer menschlichen Umgebung, in der Gefühle kein generelles Tabuthema sind – also etwa unter Frauen.
(Mehr Konkretes zum Thema Gefühlsbewältigung habe ich später hier geschrieben.)

Weil Männer “stark” sein sollen, so die patriarchale Grundmeinung, haben sie mit solch schwachen Gefühlen nichts zu schaffen. Eines der wenigen Gefühle, das Männern zugestanden wird, ist Wut. Gleichzeitig wird genau diese Wut bei Frauen nur ungern gesehen; es erzeugt oft Unmut im menschlichen Umfeld, wenn eine Frau wütend wird. Weil Wut eine der letzten Männer-Gefühlsdomänen ist.
Die Unterscheidungen werden also sehr genau vorgenommen.

“Schwache” Gefühle aber gelten als unmännlich und werden seit jeher kurzerhand zur Gänze dem anderen Geschlecht zugeschrieben. Dieses gewinnt damit auch gleich das Attribut “schwach” hinzu, was ja praktischerweise auch zur geringeren Körperstärke der Frauen passt – ergo schon seine Richtigkeit haben wird. Stark ist gut und daher erstrebenswert, schwach ist schlecht – die Gefühle sind also minderwertig, und deren neue Allein-Besitzerinnen ebenso. So funktioniert, vereinfacht erklärt, die Entstehung von Rollenbildern mit unterschiedlicher Status-Bewertung.

Ein Mann hat so zu sein: stark, unabhängig, aktiv, rational, kontrolliert, konkurrenzfähig, potent, ungerührt, beherrscht, entschlossen – ein echter Kämpfer, Held und Sieger, Ernährer und Beschützer. Darauf konzentrieren sich Männer, um Männer zu werden und zu bleiben. Und darauf, dass diese Eigenschaften auch rundherum bemerkt, anerkannt und bestätigt werden.

Und viele dieser Eigenschaften werden auch anerkannt und geschätzt – im positivsten Sinn. Die Sicherheit einer schwangeren Frau oder einer jungen Mutter bei ihrem männlichen Partner, sein Schutz, seine Verlässlichkeit, seine Fähigkeit, für seine Familie zu sorgen und für sie einzustehen – all das ist für das Überleben unserer Art zwar mittlerweile nicht mehr zwingend nötig, aber es macht das Leben leichter und schöner, und unser Steinzeithirn reagiert auf diese Signale entsprechend.

SONY DSC In dem Maß, in dem Frauen heute gestattet wird, in der globalen Männerwelt mitzuspielen, werden auch ihnen diese männlichen Qualitäten abverlangt. Das Wertesystem insgesamt bleibt davon unberührt.

Auch Frauen kennen also den Druck von außen, Emotionen möglichst effektiv auszublenden. Und die Minderung des Status, der darauf folgt, dass wir dennoch etwas zeigen, das als Schwäche gilt. Weicheier werden gemobbt, auch unter Mädchen, unter Frauen. Es ist beileibe nicht (mehr) so, dass wir als ältere Kinder oder erwachsene Frauen jederzeit und jedermann unsere tiefsten Gefühle offenbaren würden und uns damit bewusst der Verletzlichkeit aussetzen, die dabei preisgegeben wird. Wir kennen die Aufforderungen, sich nicht gehenzulassen, sich zusammenzureißen und durchzusetzen, unseren Mann(!) zu stehen – und bei Seelenleid “einfach nicht daran zu denken”.

Für Männer ist dieses Diktat aber die gefühlt größere Bedrohung, weil bei einem Abweichen das Überleben der gesamten männlichen Identität auf dem Spiel steht (oder zumindest zu stehen scheint).

Doch männliche Vorbilder, die jungen männlichen Menschen emotionale Präsenz, Bewusstheit und Zugänglichkeit vorleben würden – einfach das pralle Leben mit allen seinen geistigen und gefühlsmäßigen Facetten ohne Einschränkungen – diese Vorbilder fehlen sehr oft. Solche Vorbilder also, die erstens anwesend sind und zweitens nachahmenswert erscheinen.

img_4640e Damit muss ein Teil der männlichen Identitätsfindung während der Kindheit und Jugend über das Konzept “Nicht-Frau” erfolgen: Ich bin ein männliches Wesen, also sollte ich mich nicht verhalten wie das weibliche Wesen in meinem Umfeld. Das ist natürlich fatal, denn im schlechtesten Fall geht das, bei allen guten Absichten der weiblichen Bezugspersonen, so aus: Je “gefühlvoller” das weibliche Vorbild, umso 180° die Identität des heranwachsenden Mannes. Je “ungerührter” das weibliche Vorbild, umso größer die spätere Verwirrung und Maßregelung von außen. So oder so, ein Schuss ins Knie.

Falls das männliche Umfeld gar nichts Brauchbares hergibt, erfolgt ein weiterer Teil der männlichen Identitätsfindung über meist sehr stereotype Vorbilder aus Film und TV.
Es ist sehr irritierend für eine Frau, wenn von Männern eigenartig eingelernt wirkende Sätze an sie gerichtet werden – künstlich-coole, distanzierte Sprüche, bei denen sie sich dann buchstäblich vorkommt wie im falschen Film. Denn oft sind diese Sätze auch verletzend, herabwürdigend oder sonstwie geprägt vom traditionellen Statusunterschied zwischen Mann und Frau.

Gefühlsabwehr geht freilich auch mit dem Unwillen oder Unvermögen einher, sich und seine Gefühle mitzuteilen. Aber auch das Zuhören wird davon beeinträchtigt, weil auch fremde Gefühle abgewehrt werden müssen, wenn man nicht versehentlich mit den eigenen in Berührung kommen will.
Vielleicht ist das der Grund, warum oft nicht die ganze Botschaft ankommt, wenn eine Frau ihrem Mann ihre Vorstellungen mitteilt: Nur die Ratio ist bei ihm auf Empfang, den emotionalen Anteilen der Botschaft hingegen wird in ihm nur wenig Resonanz eingeräumt. Für die Frau wird dann an ihren Gefühlen vorbei- oder diese wegdiskutiert, ihr wird gesagt, sie wäre zu empfindlich, irrational, unrealistisch, naiv oder mit Romantisierung geschlagen.
Doch womöglich spüren Menschen mit Gefühlskontakt auch dann mehr von ihren Gefühlen, wenn sie jemanden lieben. Vielleicht haben sie einfach ganzheitlichere und größere Ideen davon, was man dann tun, sagen, teilen und geben kann?

Auch Mitgefühl – wie das Wort schon sagt – ist eben nur schwer aufzubringen, wenn man keinen Kontakt zu seinen eigenen Gefühlen hat, auf Basis derer man mit-fühlen könnte. Insgesamt kann man auf diese Weise weder seinen Mitmenschen noch sich selbst sonderlich nahekommen. Man lebt dann ein Leben in Distanz von sich selbst und von seinen eigenen Sehnsüchten und Bedürfnissen.

Die Motivationen für männliches Handeln (und Reden) stützen sich indessen oft auf äußere Faktoren – generelle Handlungsorientierung, Selbstdarstellung, Bestätigung, Wettbewerb und Konkurrenzdenken, Statusgerangel und Machtkämpfe, Distanzierung; das alles sind externalisierende Strategien. Diese am Außen orientierten Verhaltensweisen haben natürlich nicht nur negative Aspekte. Auf die Balance kommt es an. Und nicht nur Männer verhalten sich so.

Der Schwerpunkt in all dem äußeren Treiben liegt häufig auf der Abwehr der inneren Gedanken- und Gefühlswelt. Damit entfernt sich der Mensch wiederum weiter von seinem inneren Bezug und liefert sich und seinen (Selbst)wert letztlich zu einem großen Teil den externen Maßstäben aus. Und gibt auch seine Zuständigkeit für diesen Selbstwert ans Außen ab. Als Nebeneffekt müssen traditionellerweise andere Menschen für ihn ein großes Maß der Spiegelungs- und Bestätigungsarbeit übernehmen. Von Frauen wird erwartet, dass sie über-lebensgroße Mann-Spiegelbilder zurückwerfen und Männern Bewunderung und Bestätigung liefern.
So führt Gefühlsabwehr paradoxerweise zu abhängigen Verhaltensweisen – also zu genau jenem “schwachen” Gefühl von Abhängigkeit, das mit der Gefühlsabwehr ursprünglich vermieden werden sollte – weil eine wahre innere Souveränität und die davon erhoffte Unabhängigkeit sich durch übermäßige Außen-Orientierung nicht richtig entwickeln können.

Es gilt für Männer in diesem System, die Macht und Kontrolle zu erlangen und zu behalten. Wer das will, kann nicht riskieren, von unkontrollierbaren Gefühlen heimgesucht zu werden. Also Gefühle kontrollierbar machen, Gefahren kontrollierbar machen, Grund und Boden kontrollieren, die Frau, die Familie, die Stadt, das Land, die Welt! Kontrolle über die wichtigsten politischen, wirtschaftlichen, medialen und religiösen Ämter, mehr Glaubwürdigkeit, Redezeit und Aufmerksamkeit, höherer Verdienst, Dominieren der Inhalte von Filmen und Theaterstücken, mehr Sicherheit vor Gewalt – all das sind gesellschaftliche Privilegien, die Männer genießen.
Menschen, die “schwache” Gefühle ausdrücken, werden systematisch als niedriger im Status hingestellt. Und damit greift der männliche Hang zu Macht und Kontrolle auch gegen den Gefühlsausdruck anderer Menschen durch, um ihn zu kontrollieren und letztlich zu unterdrücken.

img_6834 Doch “kontrollierbare Gefühle”? Das ist beinahe so paradox wie “lebende Leichen”. Gefühle sind spontan und bedienen sich an Instinkten, Erfahrungen, Bedürfnissen, frühesten Kindheitserlebnissen. Sie sind per se eine schwer kontrollierbare Macht. Am Versuch, sie nur bestimmte Mengen von ihnen zu bestimmten Zeitpunkten wahrzunehmen, muss man zwangsläufig scheitern. Man behält den Kontakt zu ihnen und lernt, mit ihnen umzugehen, oder man rempelt sie weg und richtet dabei Schaden an – innen entstehen lebende Leichen, außen verhinderte Verbundenheit.

Ich reiße das Thema Kontrolle hier bewusst nur ganz kurz an. Aber achtet doch mal darauf, wie viele Aussagen, Vorgänge, Ereignisse mit Kontrolle und der Sucht nach Kontrolle zu tun haben, in der äußeren Welt und auch in der inneren. Und wie wenig es ist, das wir tatsächlich zu kontrollieren in der Lage sind – im Gegensatz zu unseren dahingehenden Illusionen.

Man könnte sagen, die ganze Armada der Gefühlsabwehr und Außenorientierung ist eine einzige Beschäftigungstherapie, die Menschen von der Innenschau abhalten soll. Dann sind irgendwann die unliebsamen Gefühle endlich so weit unter den doppelten Boden gerutscht, dass beim nächsten Öffnen des Deckels die Kiste leer ist. Scheinbar.

Die Gefühlsabwehr für den perfekten männlichen Auftritt samt Privilegien bringt persönliche, seelische und körperliche Nachteile mit sich. Darüber wird auch im 21. Jahrhundert nur sehr wenig gesprochen – und wenn, dann nur hinter den schweigepflichtigen Türen der Psychotherapeuten und -therapeutinnen oder in einschlägiger Literatur. Die sich jemand mit unterdrückten Gefühlen eher nicht kaufen wird.
Wer mit Gefühlsabwehr beschäftigt ist, wird auf gewissen Ebenen nie erwachsen genug, um einen anderen Weg als Ausweichen und Wegschieben zu probieren. Die gefühlsstrategische Entwicklung wird bei Männern von frühester Möglichkeit an mit Scham besetzt, und mit dem Drohen weiterer Beschämung gemaßregelt und gehemmt. Allerlei Strategien aus der Kindheit werden weitgehend unbesehen mitgenommen, während “schwache” Bedürfnisse immer weniger zum Zug kommen.

Ständig nur abgewehrte Gefühle sind allerdings nicht “unter Kontrolle”. Sie verschwinden nicht einfach. Es ist im Gegenteil gerade die fehlende Verbindung zu den eigenen Gefühlen, die sie unkontrollierbar macht. Gewohnheitsmäßiges Abschotten von der eigenen Gefühlswelt führt dazu, dass Emotionen eben nicht vom Bewusstsein und der Ratio wahrgenommen und benannt werden dürfen, und so auch keine persönliche Entscheidungsmacht darüber ausgeübt werden kann, ob aufgrund eines Gefühls eine Notwendigkeit zu handeln besteht oder nicht.

Gefühle, die gar nicht erst ins Bewusstsein vordringen dürfen, bleiben unter dem Radar und werden oft unbewusst ausagiert. Unbearbeitete Gefühle werden auf andere projiziert, es entstehen Ablehnung, Vorurteile und passive und aktive Aggression, und nach innen erzeugen sie Verwirrung, Überforderung, Angst und Selbsthass wegen unerfüllter Bedürfnisse und ungelungener innerer Kontrolle.

Die “Stärke”, die angeblich damit einhergehen soll, seine Gefühle unbeachtet beiseite zu schieben, ist also mehr als nur zweifelhaft. Gefühle sind im limbischen System des Gehirns eine wesentliche Grundlage für unsere Entscheidungen. Um gute Entscheidungen für sich selbst und seine persönliche Zukunft treffen zu können, sollte man mit seinem gesamten Sein verbunden sein, nicht nur mit einem rationalen Stumpf.

Gefühle abzuwehren macht es auch schwieriger, für sein Leben gute Werte zu entwickeln. Werte, nach denen man sein Hier und Jetzt tatsächlich ausrichten möchte, und die auch ganz real bestimmen, wie man lebt und womit man seine kostbare Lebenszeit verbringt. Werte, die sich deutlich unterscheiden von theoretischen Idealvorstellungen, die im praktischen Leben von den Notwendigkeiten der Umstände übertrumpft werden und sich wie Fremdbestimmung anfühlen. Gute Werte, nach denen wir unser Leben selbstbestimmt ausrichten können, sind idealerweise solche, die unsere seelischen Bedürfnisse erfüllen und auf deren Ausleben wir selbst den größtmöglichen Zugriff und Einfluss haben. Beispiel: Naturverbundenheit. Herzlichkeit. Mitgefühl. Solche Werte kann ich täglich selbstbestimmt und relativ unabhängig in die Welt hinaustragen.

Weniger ideal sind Werte, die vom Außen abhängig sind, bei denen andere darüber entscheiden, ob wir sie in unser Leben, in unser Hier und Jetzt integrieren können. Beispiel Erfolg. Popularität. Anerkennung. Da ist viel Außenwelt nötig, um solche Werte tatsächlich leben zu können. Außenwelt außerhalb der eigenen Kontrolle. Außen-abhängige Werte werden Ohnmachtsgefühle und weitere Abhängigkeiten nach sich ziehen. Wir stehen damit ohne stabile innere Orientierung da, ohne einen autarken Kompass. Es sind dann externe, bewertende Faktoren, die bestimmen, womit wir unsere Zeit verbringen, wo die Prioritäten zu liegen kommen. Statt selbst zu bestimmen, was man für sein eigenes (und einziges!) Leben tatsächlich will. Oder womöglich bei späterem Besehen: eigentlich gewollt hätte.

Auch hier erzeugt die männlichkeitsideale Gefühlsabwehr also just jene Abhängigkeit, der sie entfliehen wollte. Und das führt in die unverändert fortgesetzte Abhängigkeit vom patriarchal etablierten äußeren Bewertungssystem für den Grad der eigenen Männlichkeit, das Männer über das gefürchtete Gefühl der Scham auf Linie hält.

Womöglich ist uneingeschränkte persönliche Unabhängigkeit und das Freisein von abhängigen Gefühlen für eine soziale, gesellige Spezies einfach keine Option, und daher wird diese Abhängigkeit, wenn man sie zu unterdrücken sucht, immer an anderer Stelle wieder hervordrängen.

SONY DSC Das Vermeiden von Gefühlen ist nur ein Verschieben und Hinauszögern, denn es ist eine Strategie ohne befriedigendes Gefühlsergebnis. Das geht nicht ewig gut. Im Leben vieler Männer stellt sich, ausgelöst durch äußere Ereignisse oder auch “einfach so”, an einem gewissen Punkt eine tiefe Unzufriedenheit ein, eine Leere, ein Gefühl der Verlorenheit und des Abgetrenntseins. Schlafstörungen, Potenzprobleme, Angst, Depression, vulgo: Midlife Crisis. Die Versuche, all dem beizukommen, beinhalten oft  weitere Abwehr in Form von Süchten, Konsum, Arbeit, Alkohol, Drogen und Isolation. Von den Menschen, die ihr Leben durch Selbstmord beenden, sind drei Viertel Männer.

Wir Frauen hingegen fühlen uns mitunter betrogen um die vermeintlich in Aussicht gestellte, echte Partnerschaft mit einem Mann, die dann oft doch keine zwischenmenschliche Begegnung, tiefes Vertrauen und Intimität aufkommen lässt. Wir empfinden es als frustrierend und langweilig, nur solche Gespräche zu führen, in denen vom männlichen Partner die eigene Befindlichkeit gewohnheitsmäßig ausgeklammert wird; in denen er sich auf sachbezogene, äußere Aspekte konzentriert, ohne persönlich irgendeinen Bezug darauf zu nehmen. Es ärgert uns, wenn das in weiterer Folge auch von uns erwartet wird, denn es beschneidet auf einer ganz privaten Ebene unseren eigenen Gefühlsreichtum und Spielraum. Und es enthält beiden Seiten wertvolle Gefühle vor: Gehaltensein, Gesehenwerden, Akzeptanz, Wahrhaftigkeit und Sicherheit.

Natürlich ist es eine wertvolle Fähigkeit, eine Diskussion sachlich führen zu können, solange sich unterdrückte Gefühle nicht als passive Aggression oder Sarkasmus ihre Bahn brechen müssen, nur weil es keine Option ist, Angst, Scham, Bedürftigkeit oder auch Zorn zu empfinden und sie auch sozialverträglich auszudrücken. Das trifft selbstverständlich nicht nur auf Männer zu – Menschen einer ganzen Gesellschaft dürfen sich unter der strengen Maßgabe von Unverwundbarkeit und unendlicher persönlicher Stärke und Perfektion kaum je so zeigen, wie sie wirklich sind.
Doch wenn ein emotionales Thema im Raum steht, aber im Gespräch ausgeklammert wird, ist eine Klärung auf der Sachebene ebenfalls deutlich erschwert, wenn nicht sogar unmöglich.

Es gibt auch Frust, wenn frau im Gespräch zur stetigen Anerkennung und Bestätigung des gegenübersitzenden männlichen Egos genötigt wird. Natürlich hat jeder Mensch das Bedürfnis, bestätigt und anerkannt zu werden, und auch Frauen suchen Bestätigung im Außen. Auch hier ist das Maß das Maß aller Dinge. Ich persönlich reagiere empfindlich auf eine übermäßige Forderung nach Bestätigung, egal ob durch Mann oder Frau, und ich kann dann sehr bockig werden. Wenn ich hingegen jemanden liebe oder bewundere und er mich nicht nötigt, kommt meine Anerkennung von ganz allein.

SONY DSC Selbst wenn ein Mann im Gespräch sein Bestes gibt und etwas tiefer in seine Gefühlswelt vordringt, um tatsächlich etwas zu offenbaren, wählt er mitunter ausweichende Formulierungen oder fernab gelegene Gefühlsbereiche. Das frustriert Frauen ebenfalls und veranlasst sie zu entsprechenden Reaktionen. Manche Frauen wissen auch gar nicht, wie sie auf männliche Gefühlsäußerungen reagieren sollen, weil sie darin keine Übung haben, verunsichert sind und unreflektiert das patriarchale Muster fortsetzen. Sie geben dem Mann dann zu verstehen, seine Gefühlsduselei wäre unmännlich – und fachen damit fatalerweise genau dieselbe Scham an, die ihn schon als Kind hinter die Linie der erlaubten männlichen Gefühle zurückgerempelt hat. Und wozu soll mann sich offenbaren, wenn er dafür doch nur eins draufkriegt?

Trost, Akzeptanz und Erleichterung findet man in solchen Gesprächen nicht – weder der weibliche Gesprächspartner noch der männliche. Der Vorwurf, dass intime Gespräche nichts bringen würden, liegt dann nahe. Aber damit beide Seiten einen persönlichen Gewinn daraus ziehen können, kommt es eben nicht nur darauf an, dass man miteinander spricht, sondern auch, wie und worüber.

Ja, Männer missachten immer wieder die Gefühle von Frauen – aber wohl nicht mehr, als sie ihre eigenen missachten. Frauen jedoch können die Nuss nicht knacken. Denn wir werden in unseren Fähigkeiten und Tendenzen wohl in erster Linie als Nicht-Mann wahrgenommen, und leider selten als Auch-Mensch, der hilfreiche und nachahmenswürdige Verhaltensweisen in seinem Repertoire hat: “Natürlich kann sie Gefühle benennen und zeigen, sie ist ja auch eine Frau. Für mich als Mann ist das aber kein gültiger Maßstab.”

Männer können andere Männer knacken – Männer, die ihr vollständiges Innenleben wiedergefunden oder nie ganz verloren haben, können das. Männer, die darum wissen, dass vielen anderen Männern mit zunehmendem Alter ein wesentlicher Anteil ihres Seins fehlt. Männer, die den Weg des geringsten Widerstandes verlassen und den Wind nicht fürchten, der ihnen dann unvermeidlich entgegenpfeift. Männliche Therapeuten. Männliche Berater. Aber auch ganz normale Männer, die Zugang zu ihren Gefühlen haben und daher doch nicht unter “normal” fallen.

Sie sind es, die Vorbilder sein können. Sie können vermitteln, dass männliche Solidarität sich nicht gegen Frauen richten muss, um hilfreich zu sein. Und sie können alle abgeschotteten Männer auf die Kräfte von außen hinweisen, die das Gefühlsleben von Männern systematisch beschränken und einengen. Und auf die Kräfte im Innen, die diese Aufgabe so gewissenhaft fortführen, als wäre es ihre eigene, geniale Erfindung.

Das sollten diese Männer tun – stattdessen segnen Männer wie Mark Gungor oder auch John Gray auch noch all die blinden Flecken der männlichen Innenwelt einfach als “typisch männlich” ab, und Gefühlskontakt und Redenwollen als “typisch weiblich”.
Solche Männer implizieren, dass sie die schwachen Gefühle “in den Griff bekommen haben” und nicht “so armselig ihren Emotionen ausgeliefert sind” wie Frauen. Sie liefern damit eine Voraussetzung dafür, weiterhin auf Frauen und ihre Redebereitschaft herabzuschauen, während sie selbst weiterhin das Privileg genießen, dass ihre trotzigen Kindheitsstrategien der Marke “Ich bin eben so” akzeptiert werden müssen. Am besten bedingungslos. Statt sich Alternativen ehrlich zu erarbeiten, mit denen alle gut umgehen können.

Ein Mann in der Öffentlichkeit, der diesen Status Quo weiter bestätigt, gutheißt und ihn als unveränderbar hinstellt, verheizt damit eine Chance für alle Männer unter seinem Einfluss. Die Chance dieser Männer nämlich, sich selbst und ihrem Innersten wiederzubegegnen, ihr Erlebensspektrum wieder zu erweitern auf all das, was das Menschsein ausmacht. Schade um das schöne Potential!

In einer Gesellschaft, die in ihren Werten patriarchale Strukturen und Rollenbilder aufweist, haben Privilegien also ihren Preis. Und das hat nichts mit “verdienen” zu tun. Denn der nicht-privilegierte Teil einer Gesellschaft zahlt ebenfalls einen hohen Preis, aber ohne je dafür “belohnt” zu werden.

Wer ein Weichei ist, verliert massiv an Status. Das gilt zwar sowohl für Männer als auch für Frauen, aber Männer fallen von weiter oben eben weitaus tiefer. Ganz ehrlich, ich würde trotzdem nicht tauschen wollen.

Die gelernten Mechanismen schaffen blinde Flecken und Widerstand im Bewusstsein. Das Gesamtsystem, in dem man großgeworden ist, kann gar nicht ohne weiteres in seinem vollen Umfang wahrgenommen werden. Wäre Feminismus so lächerlich, wie manche uns gerne glauben lassen würden, dann würde man ihn einfach ignorieren. Ja, er enthält natürlich die Aufforderung: Seht bitte mal her, was euer doofes Spiel um Macht und Kontrolle im Leben von uns Frauen anrichtet. Doch er liefert auch eine wichtige Außensicht auf das Leben der Männer im Patriarchat!

Es wird gerne übersehen: Wenn FeministInnen gegen patriarchale Maßstäbe und Ungerechtigkeit ankämpfen, dann geht es dabei auch um Männerrechte – um den Kampf gegen eine künstliche Männlichkeit, die massiv anstrengend ist und krank macht. Es geht um das Recht des Mannes auf ein erfülltes und vollständiges Leben, in dem ihm nicht ständig der Verlust seiner männlichen Identität droht. Feminismus richtet sich gegen ein hierarchisches Gesellschaftssystem, das letztlich alle Menschen verbiegt und unfrei macht.

Inwieweit nimmt jeder einzelne von uns daran teil, dieses System fortzusetzen? Womit können wir es formen? Wollen wir was verändern?
Jeglichem Widerstand auszuweichen führt jedenfalls offensichtlich nur in weitere Unfreiheit, für alle.

Ein volles Gefühlsspektrum zu haben versetzt uns in die Lage, uns selbst in unserem Dasein zu platzieren. Es lässt uns wissen, wo wir stehen, was gut für uns ist, von welchen Menschen wir uns fernhalten sollten, in welche Richtung es weitergehen soll – kurz: was wir wollen! Es lässt uns den Menschen näher sein, die wir lieben. Es lässt uns spüren, dass das Leben zu kurz ist, um vorgefertigten Idealen hinterherzuhecheln, die immer nur ein Stück von unserer Nase entfernt zu baumeln scheinen und letztlich niemanden richtig glücklich machen. Es lässt uns eine neue Mitte finden, von der aus wir das Leben in allen seinen Aspekten auskosten können, und zwar deutlich öfter als nur in ein paar seltenen Augenblicken der Resonanz und des Glücks. Es lässt uns mitfühlender sein.
Menschlicher sein! Denn Gefühle sind menschliche Empfindungen – nicht weibliche.

img_1031 Ich persönlich würde mich mit meinem Partner durch Jahrzehnte der Gefühlsabwehr graben – wenn er sie aufgeben wollte. Ich würde mich lieber gemeinsam mit ihm mit echten sensiblen seelischen Inhalten auseinandersetzen, auch wenn sie schwierig sind, als allein mit den scharfen Kanten, die aus seiner verhärteten Fassade jählings als unvermutete Empfindlichkeiten hervorschießen. Wenn ich die inneren Zusammenhänge, Gefühle und Vergangenheiten nicht kennen darf, denen sie entspringen, bleiben diese Empfindlichkeiten zusammenhanglos und unbegreiflich. Daraus allein kann man einen Menschen nicht kennenlernen, und echtes Verständnis kann so gar nicht entstehen.

Dazu muss aber der Mann auch sich selbst verstehen wollen. Und ebenfalls bereit sein, sich verletzbar zu machen, statt mir all die Aufgaben zu überlassen, die Verletzbarkeit beinhalten. Ich würde mit-entdecken, mit-fühlen und heilen helfen – all das würde ich tun. Was ich aber nie wieder tun werde, ist mich hinzusetzen und brav auf gar nichts zu warten vor einem legitimiert-unveränderlichen Schild, auf dem steht: “Ich darf leider nicht hinein”.
Dieses Warten führt nie zu echter Nähe. Denn auf der anderen Seite des Schildes steht: “Ich darf leider nicht hinaus”.

A ship in harbor is safe, but that is not what ships are built for.
(Ein Schiff im Hafen liegt sicher, doch dafür werden Schiffe nicht gebaut.)
(John A. Shedd, 1859-1928)

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ENDE TEIL 2, FORTSETZUNG FOLGT.

Dieser Artikel ist Teil der Serie "Von Hirnen und Menschen".<< Zum vorigen Teil: "Von Hirnen und Menschen (1)"

1 Kommentar Schreibe einen Kommentar

  1. ms. hü sagt:

    genau das.

    meine schwester bekam während ihrer ausbildung gesagt, „nur dem sprechenden menschen kann geholfen werden“. (lustigerweise war das ein handwerksbetrieb und alles kerle außer ihr. den grundsatz hatten die herren also sehr wohl verstanden.)

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