Ein paar psychologische Grundlagen

Dieser Artikel ist Teil 2 von 5 in der Serie "Verschwörung in der Psyche" ...

Worum es hier geht, steht ausführlich in der ersten Folge dieser Serie.
In Kürze: Die psychologischen Aspekte von Verschwörungsmythen (“VeMy”) sollen umrissen werden, um daraus Verständnis für verschwörungs-affine Angehörige und Freunde (“VaFoF-Personen”) abzuleiten – und eventuell sogar die eine oder andere Strategie, wie man bei ihnen intervenieren könnte.
Eure Mitarbeit ist immer noch erwünscht! Dazu bitte die erste Folge nachlesen bzw. ganz unten im ersten Artikel gucken.

Wer hingegen alle in einen Topf werfen und als Idioten abschreiben möchte, ist hier schlicht falsch -> hier ist der Ausgang.

Psychologische Grundlagen
Ein paar davon brauchen wir erstmal, damit ich die psychischen Aspekte der VeMy dann an etwas anknüpfen kann.

Beginnen wir mit einer simplen Frage:

Was will so eine menschliche Psyche eigentlich?
Ich nehme willkürlich drei Kernbedürfnisse in den Fokus:
SICHER SEIN.
ANGENOMMEN WERDEN.
WISSEN, WER MAN IST.

Bonusrunde: SCHWIERIGES – BITTE NUR IN KLEINEN HÄPPCHEN!

Die Balken im Floß
Wenn wir ein grundlegendes Sicherheitsgefühl im Leben haben, das uns in den meisten Situationen wie selbstverständlich zur Verfügung steht, dann deshalb, weil wir in unserer frühen seelischen Entwicklung genug von ebendiesem Gefühl tanken konnten: Urvertrauen.
Je besser das gelingt, desto stabiler sind unsere psychischen Strukturen. Wir wissen dann, dass wir gehört werden, verstanden werden, dass uns geholfen wird, dass wir zu einem großen Ganzen gehören, nicht allein bleiben und nicht dem Untergang geweiht sind.
Das Haus hat ein tragfähiges Fundament, und wir können gelegentlich in den Keller lachen gehen. ;) Oder, um bei meinem vorher gewählten Bild zu bleiben: Das Floß, auf dem wir stehen, ist dann aus massiven Balken gebaut und schwimmt in vielen Situationen zuverlässig oben.

Das Wort Urvertrauen klingt ein wenig danach, als müsste jede/r es automatisch besitzen, als könnte dieses Grundgefühl gar kein anderes sein. Doch je weniger ein neuer Mensch an diesem Gefühl satt werden konnte, desto instabiler fällt seine Struktur aus, und desto geringer ist sein Urvertrauen. Es gibt in der frühen Entwicklung noch kein Ich, das Angst, Schmerz, Hunger, Nähebedürfnis adäquat erkennen, zuordnen oder benennen und damit in irgendeiner Art “verarbeiten” könnte. Der Säugling, das spätere Kleinkind, lebt erstmal einfach in einem Alles-ist-Eins-Universum.
Das Ich-Sein und dessen Funktionen lernt es erst durch die tausendfach wiederholte Interaktion mit seinen engsten Bezugspersonen. Sie reagieren auf das Kind, spiegeln ihm zurück, was schlimm ist und was weniger schlimm, trösten es, geben dem Problem einen Namen und vermitteln, dass es kein Todesurteil ist, sondern durch unterschiedliche Maßnahmen lösbar. So entsteht allmählich ein Gefühl für Zeit und Rhythmen, für Nähe und Abstand, für den Grad der Bedrohlichkeit von Empfindungen und Affekten, für psychische Bedeutung – und für das Ich.

Ein Ausbleiben der Resonanz von außen, ein völliges Alleinbleiben ist für einen Säugling bereits eine existenziell bedrohliche Situation. Es bedeutet massive Ängste, den Sturz in eine dunkle Nichtexistenz für die junge, noch wehrlose und ich-lose Psyche.

Übergeschnappt?
Menschen sind imho nicht grundsätzlich “normal” oder “verrückt”. Sie gehen mit kritischen Situationen so um, wie sie es vermögen und wie ihre Psyche sie am effektivsten vor Reizüberflutung und Zusammenbruch schützt.
Jemand, der über starke Balken in seinem Rettungsfloß verfügt, wird sich nicht die Mühe machen, sich nach jedem Strohhalm auszustrecken. Ganz anders jemand, den die Angst vor einem entsetzlichen Gefühl aus seiner frühesten Kindheit verfolgt, dem Gefühl der akuten existenziellen Bedrohung, haltlos, allein, vernichtend. Es ist egal, wie der Strohhalm aussieht, wenn dein eigenes Floß unter dir zusammenbricht.
Kleine und große Traumata in dieser frühen Entwicklung spalten die Psyche, sie polarisieren in Licht und Schatten an einer Stelle, wo andere Seelen später ein ganzes Spektrum an Verläufen und Schattierungen empfinden können – in sich und bei anderen. Auch bei Gewalterfahrungen in der Kindheit, wenn Schutzgeber gleichzeitig Angreifer sind, findet eine solche Spaltung statt.

Was wir ebenfalls im Laufe unserer Entwicklung tanken (sollen (könnten)), ist ein Gefühl des Selbstwerts. Niemand lernt von allein, etwas wert zu sein und das auch für sich allein so zu empfinden. Wir lernen das, indem uns jemand zeigt: du bist wertvoll und liebenswert! Und indem wir das Gefühl in uns aufnehmen, bewahren, nachvollziehen und nähren.
Fußnote1: Selbstliebe
[Die Fußnoten werde ich nach und nach unten in die Kommentare schreiben. Sonst wird das hier noch länger. ;) Es lohnt sich also, nochmal reinzuschauen!]

Trick Siebzehn: Psychische Abwehrmechanismen
Die Psyche erwirbt im Laufe ihrer Entwicklung verschiedene Tricks für ihr Repertoire, um ihr individuell maximal mögliches Gleichgewicht beizubehalten oder wiederherzustellen. Unter anderem…:

SCHWIERIGES – BITTE NUR IN KLEINEN HÄPPCHEN
Ungewohnte, kritische, emotional schwierige Situationen und Gefühle zerteilt die Psyche gern in verarbeitbare Häppchen. So schützt sie sich und ihren Menschen vor Überwältigung.
Dazu stehen ihr eine Reihe psychischer Abwehrmechanismen zur Verfügung. Je instabiler die zugrundeliegende Struktur, desto höher und vielschichtiger muss die Psyche die Abwehr dosieren. Es wäre eine überzogene Erwartung, dass man die Verarbeitung von Situationen jeglichen Schwierigkeitsgrads in völliger seelischer Ruhe und ohne Abwehr absolvieren können müsste.
Fußnote2: Stoizismus
Der Psyche geht es vielmehr darum, einem Zusammenbruch ihrer selbst zuvorzukommen. Psychische Abwehr findet daher weitgehend unbewusst statt, und die Verarbeitbarkeit ist individuell unterschiedlich.

Abwehrmechanismen – Segen oder Fluch?
Wie uns die körperliche Immunabwehr vor Krankheiten schützt, aber auch autoimmun auf die eigenen Zellen losgehen kann, sind Abwehrmechanismen zweischneidige Schwerte: Sie können seelische Entwicklung komplett blockieren, sie aber auch anstoßen, indem sie einzelne Häppchen durchlässt, oder auch, indem sich individuelle psychische Themen in Lebensentscheidungen niederschlagen, wo sie über lange Zeit in Ruhe aufgearbeitet werden können – in der Berufswahl etwa, in Kunst, Spiel und Kreativität.

Die letzte Instanz und der Endgegner heißt, wie immer in der seelischen Welt:
Akzeptanz der Realität — & — Akzeptanz der eigenen Gefühlswelt.

SICHER SEIN.
Als biologische Wesen sind unsere Gehirne auf Überleben programmiert, und dafür müssen wir vor allem eins: sicher sein. Allerlei psychische oder biologische Funktionen wie Angst, Ekel, Aggression sollen vor allem unser Überleben sichern, damit wir unsere Art durch Vermehrung sichern können. Somit ist vermutlich alles Psychische im Grunde eine Unterkategorie des Bedürfnisses “sicher sein”. Selbst Spaßfaktoren sichern wohl unser Überleben: sie machen, dass wir lieber noch weiterleben als freiwillig abtreten.

Sicher verarbeitbar
Die Psyche versucht, sich selbst und ihren Menschen vor allzu schwerwiegenden Wirklichkeiten zu schützen – und wird im Fall eines Traumas, das ihren Reizschutz durchbricht, eher ganze Bereiche ihrer selbst abspalten, als einen völligen Zusammenbruch zu riskieren. Ein erster Aspekt von Sicherheit: Stabilität vor Verarbeitung.

K01 [-> Ab hier erscheinen thematische Knotenpunkte, an die ich in der nächsten Folge anknüpfe, wenn es um den psychischen Zugang und die Verheißung der VeMy geht. Die Knotenpunkte sind als Link zum dazugehörigen Inhalt in der 3.Folge klickbar.]
Die Ungewissheit aushalten – Ambi-was?
Die Natur ist unstet, uneindeutig, oft unvorhersehbar. Die Welt ist oft unklar und unbegreiflich. Von wirtschaftlichen und sozialen Gefügen ganz zu schweigen. Wir leben in hochkomplexen Systemen, die obendrein oft widersprüchlich und mehrdeutig sind. Niemand durchschaut diese Systeme vollständig.

K02
Genausowenig eindeutig zuordenbar sind die Menschen selbst.

Die Fähigkeit, diese allgegenwärtige Uneindeutigkeit, Unwägbarkeit und Unklarheit auszuhalten, das eigene Nichtverstehen zu ertragen, ohne zu polarisieren oder aggressiv zu werden, nennt man Ambiguitätstoleranz (lat. ambo = beides, lat. ambiguus = mehrdeutig).

K03
Ungewissheiten, die für ein Individuum zu unerträglich werden, erzeugen innere Anspannung, Aggression und psychische Abwehr.

Die Dinge der Welt sind aber nicht per se gut oder böse. Staaten, Kulturen, soziale Gesellschaften, Gruppen, einzelne Menschen sind es auch nicht. Alles bewegt sich vielmehr auf einem changierenden Spektrum der Perspektiven und auch der geistigen Offenheit, ist abhängig vom Kontext, von der Perspektive, von der Kultur. So wie ein Baum, vor dem man vorbeigeht, sich vor seinem weiter entfernten Hintergrund bewegt und an einem vorbeiwandert, wenn man seinen Standort ändert, obwohl er doch an Ort und Stelle verwurzelt ist.

Erträgt man dieses Gefühl nicht, dann muss man genauso auf der Stelle verharren, und alles Äußere hat sich dann dieser einen Perspektive zu fügen. Oder vielmehr: die innere Entsprechung dieses Äußeren muss sich fügen, in eine Spaltung in zwei entgegengesetzte Pole. Stillstand oder Bewegung. Licht oder Schatten. Gut oder Böse.
Freilich wird davon nicht die tatsächliche Kontrolle größer, sondern nur die innere Abwehr der Realität. Aber es gibt ein Gefühl der Kontrolle – nämlich über die diffuse Angst vor dieser allgegenwärtigen Uneindeutigkeit. Man erspart sich selbst so den Anblick eines beweglichen Baumes. Und damit den Hinweis auf seine Existenz.

Die größte Gewissheit und Ungewissheit zugleich, die unserem menschlichen Bewusstsein zugemutet wird, und mit der wir es irgendwie in unseren Gedanken und Gefühlen aushalten müssen, ist wohl: “Ich lebe, aber ich werde sterben”.
Dementsprechend vielfältig ist die Abwehr dieser beiden(!) existenziellen Tatsachen. Psycho-logisch folgerichtig wehren wir nicht nur das Gefühl ab, einem ungewissen Todeszeitpunkt ausgeliefert zu sein, sondern auch das Gefühl des Lebendigseins selbst.

K04
Für manche Menschen ein Ersatz für ein authentisches lebendiges Gefühl: Drama (kein psychologischer Fachbegriff soweit ich weiß). Wenn Dinge im Außen dramatisch sind, wenn eigene Umstände (über)dramatisch dargestellt werden können, rührt das vorübergehend an die eigene Lebendigkeit, ohne gleich an die Sterblichkeit zu erinnern. So leben viele ein Halb-Leben, in dem sie emotional und seelisch gar nicht richtig anwesend sind.

K05
Wir streben danach, die aus mangelnder Ambiguitätstoleranz entstehenden psychischen Spannungen durch Gewissheit / Kontrolle aufzulösen. Dafür hat die Menschheit sich Kontroll-Instrumente und auch Illusionen geschaffen: Religion, Aberglaube, aber auch die Wissenschaft, Medizin, Psychologie; die Sprache selbst – sie alle dienen im Grunde dazu, Komplexität zu reduzieren, Dinge benennbar, eindeutig und damit auch vorhersagbar zu machen, sodass sie (besser) kontrollierbar sind oder uns zumindest so erscheinen. Wir glauben dann, wir hätten unseren Körper unter Kontrolle, unsere Gefühle natürlich; unser Umfeld, Verwandte, Eltern, Kinder – unser Leben. Teile davon können sich als Illusion entpuppen und uns in neue Unsicherheit stürzen.
Fußnote3: Ambiguitätstoleranz

Zum Sicher-Sein gehört aber noch mehr. Den eigenen Wert als gesichert zu empfinden etwa.

K06
ANGENOMMEN WERDEN.
Vielleicht ist das zentrale Bedürfnis der Seele, angenommen und geliebt zu werden, auf seine schnöde archaische Notwendigkeit zurückzuführen: Als Säuglinge wären wir schonmal überhaupt nicht überlebensfähig, wenn wir ungeliebt wären und daher alleingelassen würden. Und als Erwachsene/r war es den Großteil unserer Evolution lang unabdingbar, weiterhin zur Gruppe zu gehören, um nicht zu verhungern und zu erfrieren. Eine heutzutage scheinbar halbwegs machbare Autarkie des/der Einzelnen ist evolutionär selbst noch ein Säugling und daher für das archaische Hirn vernachlässigbar. Aber ein Dach über dem Kopf und Geld für Essen zu haben ist natürlich immer noch ein psychischer Sicherheitsaspekt.

Um zur Gruppe zu gehören, muss man annehmbar sein. Daher müssen wir uns wohl angenommen fühlen können, um psychisch ruhig zu sein. Und auch vor uns selbst als liebenswert = annehmbar gelten. Ob wir es nun weitgehend akzeptieren, dass unser Wohlbefinden stark von diesem Faktor abhängt, oder ob wir diese Abhängigkeit vor uns selbst und anderen bestreiten und bekämpfen – wir drehen uns seelisch ums Angenommen-Werden. Deshalb ist Zurückweisung auch so schmerzhaft – sie verweigert uns ein existenzielles Bedürfnis.

K07
Wer sich seines Angenommenseins nicht sicher (genug) ist, und wer die beschriebene Uneindeutigkeit in der Welt nicht gut verträgt, der verträgt sie meist auch nicht an und in sich selbst. Die Psyche bietet für solche Fälle die Möglichkeit, alles Böse und Schlechte auszulagern und bei den anderen zu verorten. Diesen Trick nennt man Projektion.
Natürlich glaubt niemand von sich, dass er seine dunklen Seiten und unerwünschten Persönlichkeitsanteile auf andere projizieren würde, um sich selbst gegenüber sein ideales Selbstbild zu wahren. Aber es lohnt sich, mal darüber nachzudenken.
Fußnote4: Stammtisch

K08
Die Schuld für eigenes Fehlverhalten oder Scheitern anderen zuzuschieben ist auch eine Art von Projektion. Man deutet sich selbst in eine Opferrolle und wehrt so sein eigenes Gefühl von Schuld oder Scham ab. Solche Mechanismen werden schnell zur Gewohnheit, weil sie den (freilich vorübergehenden) Bonus haben, ein womöglich drohendes “Selber schuld!” von außen in Mitgefühl für das arme Opfer zu verwandeln.

Massiven Projektionen als Abwehr kann ein labiler Selbstwert bis hin zu Selbsthass zugrundeliegen. Die Gefühle, die man selbst nicht spüren will, schiebt man den äußeren Umständen zu, oder einem/einer anderen Menschen – oft sogar so explizit, dass dieser Mensch sie dann tatsächlich spüren muss (und sich mitunter den Schuh anzieht, das heißt dann “projektive Identifizierung”).

Zielsuche
In der akuten Krise, während der Ausgangsbeschränkungen, waren und sind manche besser situiert als andere – hatten ihre Sozialkontakte, weil sie näher dran waren an Familie oder Freunden; hatten einen Garten zur Verfügung; hatten mehr Geld, mehr Mobilität, mehr Gesundheit, mehr Möglichkeiten. Und das Gras auf der anderen Seite ist ohnehin immer grüner. Neidgefühle sind da naheliegend, aber in der Psyche extrem unbeliebt.

K09
Natürlich erzeugt die Unfassbarkeit des Virus selbst eine mehr oder weniger große Angst – eine Bedrohung für das eigene Leben und das seiner Liebsten, die man nicht kontrollieren kann. Auch die Spannungen aus anderen inneren Konflikten oder aus einer niedrigen Ambiguitätstoleranz erzeugen unbewältigte Gefühle, Angst und Aggressionen. All diese Affekte sind leichter erträglich, wenn die Psyche ein konkretes äußeres Ziel dafür verantwortlich machen kann. Sie erhalten somit neue Grundlage und Legitimierung, die Verantwortung dafür zeigt vom Ich weg, ihre wahre Herkunft wird verschleiert. “Angst? Neid? Aggressiiiiv? Ich doch nicht!” Das entlastet das Ich.

Hübsches Spiegelbild eigentlich!
Um sich selbst annehmen zu können, muss die Psyche mitunter das eigene Spiegelbild ein bisschen aufhübschen. Aus der Kindheit nehmen wir so viel Bestätigung mit, wie wir nur können – und so viel Narzissmus, wie wir brauchen, um die Löcher zu stopfen, die uns unsere Misserfolge und unsere menschliche Umwelt in unsere Seelenhaut ballern. Wir sind soziale Wesen, niemand von uns kann einen absolut autonomen Selbstwert aufrechterhalten ohne die Anerkennung, Bestätigung und Zuwendung von anderen Menschen. Wir sind alle narzisstisch. Wir brauchen die narzisstische Bestätigung punktuell(!) für unseren Selbstwert, um uns gut und wertvoll zu fühlen.
Fußnote5: Abgrenzung zu narzisstischer Persönlichkeitsstörung

Für diese Bestätigung des Selbstwerts gibt es belebte Quellen – andere Menschen natürlich, aber auch Tiere können der menschlichen Psyche Wertgefühle und Lebenssinn vermitteln.
Und unbelebte Quellen: Statussymbole aller Art gehören dazu, Sich-Wertvoll-Fühlen durch Arbeit, Wissenserwerb, Nützlichmachen und Kunst; aber auch Statussymbole, Lebensstil, Glamour und finanzielle Sicherheit.

K10
Das Abwerten anderer Menschen oder Gruppen ist leider eine ebenso gern genommene Strategie, sich relativ zu den anderen wertvoller zu fühlen, ohne dabei am eigenen Wert tatsächlich was geändert zu haben (zumindest nicht nach oben).

WISSEN, WER MAN IST.
Weil die Psyche also keine reine Selbstversorgerin ist, suchen wir Anerkennung im Außen. Unser soziales Ich ist überhaupt nur in der Interaktion mit anderen Menschen wach und am Leben. Wir versuchen, nicht dumm dazustehen, gemocht zu werden, witzig zu sein – alles, um uns an anderen zu bestätigen und zu spiegeln, aber auch zu reiben. Wir möchten uns von anderen auch abgrenzen, individuell sein, eigene Werte entwickeln und Ziele verfolgen – zur individuellen Erfüllung, das wiederum ist wiederum mit Anerkennung von außen verknüpft.

K11
Aus der Gesamtheit und dem Zusammenspiel unserer psychischen Aspekte, Fähigkeiten und Tätigkeiten schafft die Psyche ein Gefühl der Identität. Und darin steckt wiederum ein Stück Sicherheit – eine stabile Identität sorgt für die grundlegende Gewissheit, dass ich morgen noch der Mensch sein werde, der ich heute war; dass ich mich selbst morgen wiedererkenne und von anderen wiedererkannt (und damit auch wieder-angenommen) werde. Identität schafft psychische Stabilität. Und Identitätsgefühle stehen in engem Zusammenhang mit unserem Selbstbild und auch Selbstwert.

Dennoch schaffen wir den Spagat, uns selbst und andere zu idealisieren oder auch abzuwerten – was an sich, wertfrei betrachtet, eine beachtliche psychische Leistung ist.

UND NOCH EIN HÄPPCHEN
Eine Gruppe der Abwehrmechanismen wird als primitiv bezeichnet. Das ist keine Wertung, sondern meint, dass sie in einer frühen Phase der psychischen Entwicklung erworben wurden.
Sie bedienen sich der Verleugnung und der erwähnten Spaltung von Affekten und Realitäten in Gut und Böse, Licht und Schatten.

Projektion zählt zu diesen frühen Mechanismen, genauso Dissoziation, also das Zerteilen der psychischen und körperlichen Gesamtheit, “Abdriften” und Tagträumen, Ausweichen auf andere Bewusstseinsebenen, auch mithilfe von Drogen, Amnesien, bis hin zu ausgewachsenen dissoziativen Störungen. Und auch die Regression gehört zu den primitiven Mechanismen, also der temporäre Rückschritt auf eine sichere, frühere Entwicklungsstufe. Regression hilft uns nicht nur bei akuten schwierigen Gefühlen, sondern auch beim Spielen, Kreativsein, Entspannen und beim Einschlafen. Sie ist also nicht nur eine hilfreiche psychische Strategie, sondern, in Maßen, eine Notwendigkeit. In exzessiver Form – nur noch in die Embryonalstellung rollen und schlafen, weil das (Gefühls)Leben so unerträglich ist – verhindert sie die Auseinandersetzung mit der Situation, und damit psychische Entwicklung, wie jede Abwehr.

Sogenannte reife Abwehrmechanismen hingegen werden erst später in der psychischen Entwicklung erworben.
Ihnen liegt Verdrängung zugrunde – im Unterschied zur Verleugnung, die Affekte komplett negiert, meint Verdrängung das Ersetzen eines Affekts durch andere Inhalte: Etwa durch relativierende Gedankengänge und Einsichten, durch künstlerischen Ausdruck oder anderweitige kreative Bearbeitung oder auch körperlichen/sportlichen Ersatz.
(Intellektualisierung, Rationalisierung, Sublimierung.)

Auch Affekte durch andere Affekte zu verdrängen ist möglich. (Affektualisierung.) Also etwa das Überspielen trauriger Äußerungen mit einem fröhlichen Lächeln, ganzer Depressionen mit ständigem Kasperl-Verhalten in Gesellschaft, oder die kalte Bitterkeit und Distanzierung des Zynismus, der an die Stelle eines verletzten Gefühls tritt und vermittelt: “Ich bin zu abgebrüht, um was zu spüren – ich geb den Schmerz einfach in Form verbaler Spitzen an meine Zuhörer weiter.”

Fußnote6: “Magisches Denken”

K12
“Psychosoziale Arrangements” dienen gemeinsamer Abwehr mehrerer Personen. Etwa wenn zwei unterschiedliche Persönlichkeiten einander dazu verhelfen, gewisse Aspekte ihrer Persönlichkeit auszublenden, die Auseinandersetzung und Konfrontation mit schwierigen Gefühlen zu vermeiden, weil ihre psychischen Rädchen im Alltag ineinandergreifen – zB: eine/r braucht ständig Bestätigung, der/die andere muss unbedingt gebraucht werden.

Sonst gibt’s nix?
Die Alternative zu Abwehr durch Verleugnung und Verdrängung heißt Gefühlsbewältigung oder Coping – das meint die Auseinandersetzung mit schwierigen Situationen und Gefühlen.
Vulgo: Hinschauen, spüren, aushalten, trösten, akzeptieren, lernen.

Bei allzu ausgeprägter Abwehr gibt es allerdings keinerlei Gelegenheit für Bewältigung.
Psychische Weiterentwicklung bedeutet, dass auf eine akute Abwehrreaktion idealerweise ein allmählicher Übergang folgt, in dem Coping-Strategien zur Bewältigung entwickelt und angewendet werden, statt alle schwierigen Gefühle weiterhin reflexartig abzuwehren.

Auf lange Sicht verbraucht psychische Abwehr nämlich eine enorme Menge an psychischer Energie, und das bei mangelnder Effektivität: Sie führt nicht zu restloser Aufhebung der schwierigen Gefühle, nur zum Schutz vor Zusammenbruch. Die Gefühle zeigen sich dann an anderer Stelle, als Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit, Aggression, Depri, Burn-Out. Unterdrückte Energien finden immer einen anderen Weg.

Nicht, dass Bewältigung/Coping keine psychische Energie kosten würde – meine Fresse, kann das zehrend und tränenreich sein! – aber sie bringt uns seelisch weiter und lässt uns (wieder oder erstmals) die Beweglichkeit der Bäume sehen, quasi.

Es spricht noch etwas anderes für Bewältigung:
Ausgeprägte Abwehrhaltungen sind nicht förderlich für zwischenmenschliche Beziehungen. Abwehr reduziert ihrem Zweck nach den Kontakt zur eigenen Gefühlswelt, das bedeutet aber auch Defizite beim Mit-Gefühl. Relativ ungerührte Personen, die ständig projizieren, die Realität verdrehen und die Opferrolle für sich gepachtet haben, vergraulen ihre Bezugspersonen. Ihr Rückzug ruft weitere unwillkommene Gefühle hervor, und damit weitere Abwehr. Das kann eine fatale Abwärtsspirale erzeugen.
Bewältigung ist anstrengend, langwierig und tut vor allem weh – genau das, was die Abwehr vermeidet – die Bereitschaft dazu kann aber zwischenmenschliche Beziehungen retten. Eine Psychotherapie hilft dabei!

Resümee
Um ihr Gleichgewicht zu halten, tut die Psyche also im Grunde so,
* als wäre ich jemand anderer
* als wären die anderen jemand anderer und
* als wäre die Realität eine andere

In welchem Ausmaß das geschieht, hängt von der Stabilität der Strukturen ab.
Psychische Erkrankungen sind oft mit einem massiven Einsatz von Abwehrmechanismen verbunden, diesseits und auch jenseits eines funktionierenden Realitätsbezugs.

Doch auch eine globale Krisensituation, die die persönliche Situation ebenso radikal verändert, wird der betroffenen Psyche stärkere und vielfältigere Abwehr entlocken als eine Lebensphase ohne besondere Vorkommnisse.
Die Übergänge von gesund zu krank dürften dann fließend sein.

Die Psyche in der (Corona-)Krise
Die Krisensituation hat den Menschen eine Menge psychische Sicherheiten (oder deren Illusion) abrupt unter dem Allerwertesten weggezogen. Es kam in geballter Form daher, was auch schon in kleineren persönlichen Krisen mit Sicherheit zu Abwehrreaktionen der Psyche geführt hätte.

Wir können uns jetzt gemeinsam vorstellen, Punkt für Punkt, wie massiv sich die ruckartigen Veränderungen seit Krisenbeginn auf die oben beschriebenen psychischen Bedürfnisse und Mechanismen auswirken mussten:
ஐ sicher sein – ஐangenommen werden – ஐ wissen, wer man ist.
Emotionales Sicherheitsgefühl, Selbstwert, Identität, Kontrollbedürfnis, Spannungen aus endlicher Ambiguitätstoleranz – wie reagieren sie wohl darauf?

* Arbeitsplatz verloren oder reduziert
* Finanzielle Sicherheit weg
* Wohnsituation plötzlich fraglich
* Leistbarkeit und/oder Verfügbarkeit von alltäglichen Produkten
* oder von Produkten mit statussymbolischem Wert und deren Sichtbarkeit(!) für andere
* Reduzierte oder verlorene soziale Aktivitäten: Privat, beruflich, Vereine, Religion, Gruppen, Kunst, Kultur. Wegfall von Seminaren, eigenen Auftritten, regelmäßigen Veranstaltungen; reduzierte oder komplett eingestellte Teilhabe
* Keine freie Zeit / freier Raum zu Hause (Kinder im Homeschooling, Partner im Homeoffice, workload und mental load!)
* Einsamkeit und mangelnde Kommunikationsmöglichkeiten, Mangel an körperlicher Nähe
* Verantwortung für / verminderte Kontrolle über Familienmitglieder außerhalb des Haushalts
* Kein Auspowern und Wettbewerb bei sportlichen (Gruppen)-Aktivitäten; eingeschränkter Zugang zur Natur (zB Bundesgärten in Wien)
* Keine zeitliche und damit finanzielle Abschätzbarkeit
* Unklare, uneindeutige Verhältnisse bei Infos über Ansteckung, Schutzmaßnahmen
* Wegfall psychosozialer Arrangements am Arbeitsplatz, in der Familie oder in Vereinen
* Bisherige scheinbare Kontrolle entpuppt sich als Illusion

Das alles bedeuten kann, zusätzlich zum Virus selbst und der Angst davor:
-> Wegfall von grundlegender existenzieller Sicherheit
-> Wegfall von Anerkennung, Sehen, Gesehenwerden, Gebrauchtwerden, Sinn, Bestätigungen für den Selbstwert.
-> Selbstdefinition über Tätigkeiten fehlt und schwächt Wert und Identität: “Ich bin, was ich tue – wenn das alles plötzlich wegfällt, wer bin ich dann noch?”
-> Überforderung, Stress, Zuständigkeits-Konflikte; kippende Beziehungs-Sicherheit.
-> Sorge, Stress, Kontrollverlust bei Verwandten.
-> Fehlen von Wettbewerb und Ausgleich bei körperlicher Betätigung, die auch Bewegung in die Psyche bringt; Naturerlebnisse fehlen, die Sinn geben und den Geist entspannen.
-> Desillusionierung über die Allwissenheit und Unkenntnis über die Arbeitsweise der Wissenschaft, Anpassungsschwierigkeiten beim aktuellen Wissensstand, daraus Verunsicherung, Ungehaltenheit und Zweifel.
-> Große Ungewissheiten an vielen Stellen, extreme Herausforderung für die Ambiguitätstoleranz! Innere Spannung steigt, und damit die Bereitschaft zur Spaltung.
-> Gewohnte Abwehrmechanismen ausgehebelt.
-> Gewohnte Kompensation fehlt plötzlich, weil die psychosozialen Arrangements fehlen.
-> Ungewissheit, Unklarheit, Spannung, Angst, Aggressionen.

Lücken im Floß
Viele dürften also abrupt die bisher üblichen Ersatzteil-Bezugsstellen für ihr Floß eingebüßt haben. Je nach Struktur brauchten manche sehr schnell ein Rettungsfloß, wie tauglich es auch aussehen mag.

Es haben sich Engpässe ergeben und Lücken in der menschlichen Psyche auftgetan.
VeMy wissen diese Lücken zu nutzen – indem sie sich über die Engpässe Zugang verschaffen, und die Lücken mit ihrem Angebot schnell und unkompliziert füllen. Und das ist für eine Psyche in Not mitunter leichter anzunehmen als die ungeschützte Konfrontation mit einer Realität, in der man niemanden für die eigene beschissene (psychische) Situation verantwortlich machen kann.

Die im Text eingesetzten Knotenpunkte K01-K12 beschreibe ich in der nächsten Folge:
Wie VeMy die entstandenen Lücken nutzen und füllen.

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6 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Etosha sagt:

    Fußnote1: Selbstliebe
    Soviel zum Thema “Du ~musst~ dich erstmal ~selbst lieben~ und darfst niemanden bRaUchEn, bevor du von jemand anderem wahrhaft geliebt werden kannst.” Das ist imho Kalenderspruch-Bullshit. Natürlich brauchen wir Zuwendung; natürlich brauchen wir auch ein gesundes Gefühl für uns selbst und unsere persönlichen Grenzen. Das eine entsteht im Zusammenspiel mit dem anderen, nicht ausschließlich unabhängig davon. Wir sind soziale Wesen, keine Autarkie-Maschinen.

  2. Etosha sagt:

    Fußnote2: Stoizismus
    Stoizismus ist eventuell auch nur eine Art Vorschlag für kollektive Abwehr – die Intellektualisierung von Umständen, gegenüber denen man machtlos ist. Da sie von außen als Verdrängung vorgeschlagen wird, wird sie nicht zwingend einen beruhigenden Einfluss auf die Affekte haben. Ähnlich wie Affirmationen im positiven Denken, wenn übertrieben, auf das eigene Hirn oft zu unglaubwürdig wirken und daher mehr Widerstand hervorrufen als positive Effekte:
    “Ich bin schön und liebenswert” – “Bullshit.”

  3. Etosha sagt:

    Fußnote3: Ambiguitätstoleranz
    Es gab in der menschlichen Geschichte Zeitalter von höherer und geringerer gesellschaftlicher Ambiguitätstoleranz; die Gesellschaft und der “Zeitgeist” färben auf das Individuum ab und freilich auch umgekehrt. (“Influencer” gabs schon immer.)

    Religionen versuchen, uns die Unsicherheiten in Bezug auf die eigene Sterblichkeit und die Sterblichkeit unserer Liebsten zu nehmen – im Tausch gegen unsere Seelen freilich, oder zumindest für die Macht über unsere Seelen im Diesseits.
    Hier wird ein wenig der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben, denn es wird (ähnlich wie bei VeMy) eine Angst gegen die andere getauscht. Die Angst vor dem ungewissen Tod und dem noch ungewisseren Danach gegen die Angst vor einem (womöglich) richtenden Gott, der für Sünden straft, oder vor einem Fegefeuer, in das der schlechte Mensch verdammt wird.
    Andere Religionen setzen auf Karma und Wiedergeburt – was ebenso dazu beiträgt, moralische Werte zu erzeugen und exekutierbar zu machen. Aber auch kritische Zweifel über die oft willkürlichen Zuordnungen zu Gut und Böse ausräumen soll, Bereitschaft zur Leidensfähigkeit schaffen, indem Ungerechtigkeiten hingenommen werden, statt aufzubegehren oder gar Selbstjustiz zu üben – weil man es ja dafür später besser haben wird und/oder die Bösen ihre gerechte Strafe schon kriegen werden.
    Dazu kommt oft ein Oberhaupt, dem es nachzueifern gilt, und eventuell ein bedrohliches Szenario, das es abzulehnen oder auch abzuwenden gilt. (auch hier Verwandtschaft zu VeMy)

    Selbiges gilt natürlich auch für Sekten. Vielleicht gibt es nicht in allen Sekten ein explizites Feindbild, aber immer die willkürliche Erhöhung der Gruppenmitglieder durch die Abwertung der “anderen” – und/oder durch Aufwertung über die Gruppenzugehörigkeit selbst. Spaltung in Licht und Schatten. Wir: Besonders. Erleuchtet. Clear. Woke. Die anderen: Muggles. Dumpfbacken. Unerleuchtete.
    Reduzierung von Komplexität zugunsten einfach zu erlernender Spaltungsvorgänge – einfache Begründungen, einfache polarisierte Zuordnung, Komplexität adé, und die Psyche sagt noch Danke.

    Wir kennen dasselbe aus dem rechtsextremen Populismus: “Es ist ganz einfach, ich sags Ihnen ganz ehrlich: erstens, zweitens und drittens: hier ist der Sündenbock für unsere Misere, schuld sind die anderen, wir sind hier die Opfer.”
    Nur dass diese Opfer in der Geschichte allzu oft die Aggressoren waren, die den Hass auf ihr willkürliches Feindbild in allen zu schüren versuchen, bis hin zur Massenvernichtung der menschlichen Vertreter dieses Feindbildes, vulgo: Mord.
    “Othering”, die Spaltung in “Wir” und “die anderen”, dient hier lediglich als Wegbereiter.

    Wissenschaft ist ebenso ein menschlicher Weg, um mit diesen Unsicherheiten umzugehen: Herausfinden, wie Dinge grundlegend funktionieren, bedeutet auch herauszufinden, wie sie funktionieren WERDEN – und damit Vorhersagbarkeit zu schaffen. Ein paar grundlegende Gesetze zu entdecken, die überall im Universum gelten. Um die Spannung zu bekämpfen, die von Unklarheit und Nichtverstehen in der menschlichen Psyche erzeugt wird. Um planbar zu machen, was vorher dem Zufall überlassen zu sein schien.

    Auch Medizin und Psychologie versuchen uns Komplexität zu erleichtern, indem sie Vorgänge im menschlichen Erleben kategorisieren und erklären, wie man gesund von krank trennt, und wie man Veränderung oder Heilung erreichen könnte.

    Die Sprache selbst verdankt ihre Entwicklung dem Versuch, die Dinge eindeutig benennenbar zu machen. Dann ist Sprache aber auch wieder mehrdeutig – PhilosophInnen haben sich damit befasst, wie man sprachliche Eindeutigkeit schaffen könnte – oder auch, warum man sie nicht schaffen kann.

    Es scheint oft, als sei Uneindeutigkeit der Urzustand aller Dinge, zu dem sie immer wieder zurückkehren, mit welchen Mitteln wir sie auch festzunageln versuchen. (vgl. Entropie). All diese Versuche sind Ausdruck unseres Bestrebens, die elende Komplexität der Welt, der Natur und der Menschheit zu reduzieren, die uns so viel Ungemach bereitet.

    Letztlich gibt es aber auch bei den Absolutwerten Gut und Böse keine 100%ige Eindeutigkeit. Abgesehen davon, dass sie stets eine Frage der Perspektive sind – selbst in globalem, moralischem oder religiösem Sinn recht eindeutig als böse eingestufte Ereignisse stoßen oft gute Veränderungen an, die sonst nicht geschehen wären.

    Wir können nicht in die Zukunft schauen. Vielleicht werden die VeMy gar die Welt retten, wer weiß. Doch bei allem Relativismus: Eine Bewegung, die für jede globale, komplexe Problematik einfache Erklärungen kennt, die wiederum einen Sündenbock benötigen, um zu funktionieren, sind tendenziell mit Vorsicht zu genießen. So gebietet es ein kritisches Denken, das sich dem Frieden und den Menschenrechten verpflichtet fühlt.

  4. Etosha sagt:

    Fußnote4: Stammtisch-Projektion
    Beim Psychologisieren am Stammtisch hingegen wird sehr gerne behauptet: “Alles, was dich an anderen ärgert, sind unbewältigte Selbstanteile.” Auch wieder Unsinn – damit tappt die Stammtischpsychologie nur selbst in die Falle, eine komplexe Angelegenheit auf Licht und Schatten herunterbrechen zu wollen, um ihre Komplexität zu reduzieren – und nutzt damit dieselbe Spaltung, über die sie sich zu erheben versucht.
    Manches stört einen an anderen, gerade weil es Bereiche betrifft, in denen man selbst sensibel ist und sich daher besonders um gute Vorbildwirkung und Integrität bemüht. Da hat man’s nämlich auch nicht gern, wenn man auf den Schädel gesch… kriegt.
    Das Motto der Projektion lautet “Was ich nicht will, das man mir tu, das füg ich einem andern zu.” Es gibt in reiferen Menschen aber durchaus auch bewusstere Zugänge.

  5. Etosha sagt:

    Fußnote5: Abgrenzung zu narzisstischer Persönlichkeitsstörung

    Der Unterschied zu einer ausgewachsenen narzisstischen Persönlichkeitsstörung liegt nicht beim Ob, sondern beim Wieviel: Dort, wo die narzisstische Bestätigung ständig (vs. punktuell) gebraucht wird, um den Selbstwert zu regulieren und damit das mentale Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Wo entstandene Lücken in dieser benötigten Bestätigung oder gar Kritik zu Aggression oder Depression führen. Wo diese Bestätigung rücksichtslos von anderen Menschen erbeutet wird.

    Wo der Kontakt zur eigenen Gefühlswelt fehlt bzw. vom idealisierten, falschen Selbst abgewehrt wird, und daher die emotionale Empathie für andere fehlt. Wo gewohnheitsmäßig mit Manipulation gearbeitet wird, um Menschen als persönliche Quelle der narzisstischen Bestätigung der eigenen Persönlichkeit einzuverleiben – als Funktion, statt sie als Mensch zu sehen. Dazu werden Grenzen überschritten und Spaltung betrieben: ein- und dieselbe Bezugsperson wird wechselweise idealisiert oder abgewertet, nur so gelingt die Benutzung als Quelle: Selbstwert-Bestätigung kann angenommen werden, weil: kommt ja von tollem Mensch! Kritik kann abgeschwächt oder negiert werden – weil: kommt von furchtbarem Mensch.

    Es steckt also keine echte oder gar uneingeschränkte Selbstverliebtheit in pathologischem Narzissmus, sondern der Versuch einer Psyche, ihren höchst labilen Selbstwert durch ein idealisiertes Ich-Bild zu stabilisieren, das ständig gestützt werden muss – von innen UND von außen. Die übertriebene Bedürftigkeit, die vom Selbst gern ausgeblendet wird, und die fehlende Empathie lassen anderen Menschen keinen Raum.

  6. Etosha sagt:

    Fußnote6: Magisches Denken
    Eine bemerkenswerte Variante eines reifen Abwehrmechanismus ist das “Ungeschehenmachen” – also gefühlt schlechtes Verhalten durch eine spätere gute “Gegenhandlung” ungeschehen machen zu wollen.
    Zwangsstörungen basieren teils auf diesem Abwehrprinzip, wobei dabei der ursprüngliche Zusammenhang nicht mehr präsent ist.

    Es gibt in diesem Zusammenhang auch den Begriff “Magisches Denken” – wir kennen das aus der Kindheit: “Wenn ich die Ecke dort erreiche, bevor der Bus mich eingeholt hat, dann wird xy morgen gutgehen.”

    “Ungeschehenmachen” ist: Wenn ich jetzt brav trainiere/arbeite/gesund esse, ist meine dumme Äußerung/Handlung/Exzess von gestern aufgehoben. Und damit ist meine Scham/Schuld darüber verdrängt – denn das erklärte Ziel jeder Abwehr ist ja das schwierige Gefühl.

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