Morgensonne

Im Grunde bin ich eher Nachtvogel als Morgenmensch. Ich kann mich morgens oft nur sehr schwer überwinden, den Schlaf aufzugeben, weil ich gerne schlafe, auch wenn sich Träume in meinen Schlaf mischen, die zuweilen so grausig sind, dass ich sie mir nichtmal selbst erzählen würde; so wie die von letzter Nacht.

Dass meine Knochen sich morgens anfühlen, als wäre ich achtzig, hilft ein bisschen, aus dem Bett zu kommen, denn Bewegung lockert die Gebeine.
Noch mehr aber hilft, dass ich den frühen Morgen mit allen Sinnen erleben möchte. Im Sommer früh aufzustehen ist eine wunderschöne Sache. Ich mag es, wach zu sein, draußen zu sein, wenn alles noch ganz still ist, noch keine menschliche Stimme die Ruhe stört. Nur die Gesänge der Vögel sind zu hören. Ohne auf den Einsatz der anderen zu warten, schenken sie ihre Lebensfreude der Welt, singen sie aus dem weiten, blauen Himmel in eine unvergleichlich klare Luft, die alle Möglichkeiten in sich zu tragen scheint.

Ich kann fühlen, dass es warm werden wird, als trage die kühle Morgenluft die Verheißung zukünftiger Wärme in sich. Jeden Morgen laufe ich barfuß über feuchtes, kühles Gras, sehe nach ersten Prunkwindenblüten, die nur morgens blühen, und atme diese wunderbare Luft ein und damit alle Versprechen für diesen Tag, gewürzt mit dem Duft von feuchtem Laub, bewurzelter Erde und einem letzten Hauch von Nacht.

Wenn dann die ersten Sonnenstrahlen über die Dächer blinzeln und ihre noch blassen Spuren legen, wenn ich den Unterschied zwischen Sonne und Schatten so genau auf der Haut spüren kann, dass die kleinen Härchen auf einem Arm sich aufstellen, während die des anderen Armes liegenbleiben, dann fühle ich mich sehr lebendig.

Und völlig zeitlos fühle ich mich, als wäre es erst gestern gewesen und könnte es morgen wieder sein, dass ich als kleines Mädchen bei Mama in der Küche sitze und dem Spiel dieser ersten Sonnenstrahlen an der Wand zusehe; blassgelben Vierecken, die über Küchenschränke mit rauher Oberfläche wandern, und schwermütig meinen Kakao trinke, in dem Wissen, dass ich das geliebte Zuhause gleich verlassen muss, um zur Schule zu gehen. In diesen Momenten empfinde ich Liebe für die wandernden, blassgelben Vierecke, und ich weiß, dass sie es nicht sind, die die Zeit vergehen lassen – dass sie nur die Zeit anzeigen, die noch bleibt, um zuhause zu sein; so wie ich überhaupt alles liebe, was Zuhause bedeutet: Den braunen Küchentisch mit den wenigen weichzarten Holzmustern, meine Tasse, deren Aufdruck mit den fröhlichen Eseln und Pferden sich schon an manchen Stellen ablöst, das schrille Klappern von Geschirr. Ich genieße die Minuten und versuche, sie auf Stunden auszudehnen, in denen ich all das einsaugen will, was da in ein paar wenigen Augenblicken an mir vorbeihastet, und mich gleichzeitig vor dem Gefühl fürchte, wenn ich später im Klassenzimmer sehnsuchtsvoll an Zuhause denken werde.

Kein Licht, keine Luft, keine Stimmung macht ein Zuhause so liebenswert wie das am frühen Morgen. Heute, wo ich nur zwei Tage die Woche außerhalb arbeite, genieße ich es, nicht weggehen zu müssen, sie nicht verlassen zu müssen, die unvergleichliche Geborgenheit der weichen Sonnenflecken auf den Schränken. Hier ist es ein schmaler Strahl, der durch das Gangfenster und die verglaste Nische in die Küche fällt; nur ein Detail, das eine Lawine von Gefühlen auslöst und mich an früher erinnert.

Und die Luft an diesem frühen Morgen ist immer noch die selbe, die ich auch am Weg zur Busstation atme, als Kind, in jenem Moment, den noch weiter hinauszuzögern mir dann doch nicht gelang. Ich atme Vogelgezwitscher und Ährenduft, von meiner Mutter in eine dicke, maisgelbe Wollweste gepackt, damit ich nicht friere am frühen Morgen an der noch kühlen Luft. Diese schwere Weste, von der ich schon morgens weiß, dass ich sie nicht werde anziehen wollen, wenn es mittags warm geworden sein wird. Und dass ich sie dann auf den Armen tragen muss – nach Hause.

9 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. hubbie sagt:

    Ein be-sinnliches Stück über das Sensorium Haut hast du da verfasst.

    Barfuß im feuchten Gras laufen, das konnte ich noch als Landbub, ich vermisse es sehr und substituiere mit nassem Costa-Sand…….als ich im Park des Theresianums diesen Kneipp´schen Sport anbot waren all meine Nichtmorgenmuffelzöglinge begeistert, obwohl anfangs kaum einer auf seine teuren Reeboks verzichten wollte/konnte.

  2. Etosha sagt:

    Mit Reeboks auf den Füßen büßt die Erfahrung natürlich schon einiges an Wohlgefühl ein. ;)

  3. EdgarB sagt:

    ein toller Text, warum werde ich jetzt erinnert an Marmeladebrot mit der Haut von gekochter Milch….

    -nur als Kind gegessen, dann vergessen, jetzt durch schöen Zeilen aus dem Bergwerk der Erinnerungen ausgebuddelt.

    Danke dafür

  4. Etosha sagt:

    Oh, blue sky, jetzt ist isabos Punkt schon bis zu mir durchgedrungen. So sprachlos kenn ich dich gar nicht.

    Danke, EdgarB, darüber freu ich mich sehr!

  5. T.M. sagt:

    .

    (Nee, nicht noch ein überflüssiger Deppenpunkt!)

    Ich wollte sagen, die Zeit zwischen 5 und 7 ist die schönste des Tages. Gestern bei Sonnenaufgang bewarf mich ein Eichhorn mit einem Buchecker, während ich an dem von einer dicken Mieze mitten auf dem Weg am Waldrand errichteten Kontrollposten halten musste. Ich hätte wetten können, beide kicherten sich hinterher eins in die Tatze, wie fast jeden Tag …

  6. Etosha sagt:

    Nana, Deppenpunkt… so streng heut? Ts. Sei lieb!

    Dabei nährt es sich doch so mühsam, das Eichhorn. :) Vielleicht wollte es dich ja zum Frühstück einladen!

  7. T.M. sagt:

    Wollte ich noch nachreichen. Mit den Biestern ist nicht zu spassen.

  8. Etosha sagt:

    ‘In der Nacht zum Samstag drangen zwei maskierte Eichhörner in ein Wohnzimmer ein…’

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