Gedanken zu Demokratie und Verfügbarkeit

Die Demokratie hat einen Schwachpunkt: Sie ist kompromissbereit.
Sie ist daher prinzipiell von beliebiger Seite beeinflussbar und bewegbar. Zumindest ein wenig. An dieser Stelle können allerlei Hebel angesetzt werden – auch undemokratische.

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      Gedanken zu Demokratie und Verfügbarkeit - von Etoshas Pfanne

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Diese Plastizität ist aber gleichzeitig ihre größte Stärke. Nur mit demokratischen Kompromissen können die Bedürfnisse vieler verschiedener Menschen ausreichend befriedigt werden. Statt nur die Bedürfnisse einer Mehrheit. Oder die Gier der Mächtigsten.

Um diese Stärke auch ausspielen zu können, braucht die Demokratie allerdings ein Volk aus Menschen, die diesen Widerspruch, diese Ambiguität auch aushalten. Und die die Zeit aushalten, bis sich die Rädchen der Institutionen an die richtige Stelle drehen.

Geben und Nehmen und der Anspruch auf Verfügbarkeit

Demokratie liefert Kompromisse. Sie fordert dafür von den Menschen Geduld, Toleranz und Vertrauen.

Und ich meine beileibe nicht, man möge sich in eine passive Haltung begeben und einfach nur geduldig vertrauen und alles tolerieren. Natürlich kann man sich für seine Ziele starkmachen! Aber die Ansprüche sollten daran bemessen sein, wie groß die eigene Bereitschaft ist, die nötigen Qualitäten zu entwickeln und sich einzusetzen.

Demokratie bedeutet auch: Es geht von hier aus in keine größere Freiheit. Nur in verschiedene Nuancen von Freiheit, mit der Zeit.
Dazu müssen wir alle aber die Instrumente der Demokratie mit sensibler und geduldiger Hand wählen und bedienen.

In der heutigen Zeit kommen uns zwei Voraussetzungen dafür immer weiter abhanden: die Geduld und die Toleranz.
Wir kennen keine Verzögerung mehr, keinen Widerspruch, ertragen kein Warten, kein jahrelanges Ansparen, keine Ungewissheit. Alles muss sofort verfügbar sein, Play-Button, on demand. Me, here, now! Unsere höchstmögliche Geduldsspanne ist Prime-Lieferung am nächsten Tag.
Verpflichtend hingegen ist sofortiges Mitschreien ohne Nachdenkpause, bequem vom eigenen Sofa aus.

Wenn Demokratie nicht genauso umgehend liefert, wie unser aggressiver Anspruch an die Verfügbarkeit es gebietet, geht somit als dritte Voraussetzung das Vertrauen verloren.
Nicht weil Demokratie langsamer geworden wäre. Sondern weil wir es sind, die mehr sofortige Verfügbarkeit, Nutzung und Kontrolle beanspruchen als je zuvor, und die nötige Geduld nicht mehr aufbringen. Warten erzeugt dann weiteres Unbehagen und steigert die Intoleranz gegenüber Ambiguität. Wir wollen uns dann noch stärker die Kontrolle sichern und uns unverletzbar machen. Und wir verlieren Vertrauen, wenn uns etwas Unbehagen bereitet.

An diesen Gefühlen und an diesem Vertrauensverlust sind dann ausschließlich die anderen schuld. Denn wir haben uns ja nicht verändert.
Oder?

Das Vernebeln alter Erzählungen

Diese ständige und sofortige Verfügbarkeit – online und offline – die kostet Geld, Ressourcen, Serverleistung, Mühe, Überstunden, Privatleben. Sie generiert tonnenweise CO2. Wenn man damit aufgewachsen ist, blendet man das alles aber wohl eher aus. Als wäre sofortige Verfügbarkeit by default und natürlich vorhanden – und nicht eine Leistung, die andere erbringen müssen. Und die daher auch ihre Grenzen hat.
Man benimmt und fühlt sich, als hätte man auf all das einen ganz persönlichen Anspruch.

Dieser Anspruch jedoch ist ungeschrieben.

Und es fehlt der Vergleichswert. Das Früher. Die Erzählungen aus dem vorigen Jahrhundert werden älter und leiser, verblassen zusehends. Die Erzählenden werden obendrein zu Ahnungslosen degradiert, durch das Herabschauen auf “Boomer” und auf eigentlich eh alle, die älter sind als man selbst.

Blasiert und leichtfertig werden hier die Gewissheiten und Errungenschaften der Vergangenheit heruntergespielt und noch weiter vernebelt.

Alles selbstverständlich. Jetzt. Woher es kam? Nicht mehr interessant genug.

Hauptsache, von mir wird nichts verlangt

Es dürfte eine so gängige wie fatale Fehleinschätzung sein, eine parteiseitig diktierte Meinung wäre auch okay, wenn sie nur mit der eigenen übereinstimmt. Weil dann endlich alle anderen Meinungen schweigen müssten und man sich ihnen nicht mehr stellen muss – diese Vorstellung erscheint manchen annehmbar. Man selbst dürfte ja immer noch mitbrüllen, wenn diese Partei mit der meinigen Meinung an der Macht wäre, richtig?
Das würde die unbehagliche Komplexität und Mehrdeutigkeit dezimieren. Oder?

Doch deine Meinung wird nie zu 100% mit einer anderen übereinstimmen.

Außer du lässt deine Meinung fernsteuern. Dann bist du allerdings kein Individuum mehr, sondern ein willfähriges Instrument der Parteipropaganda. Und pssst, Propaganda spricht am liebsten die Sprache deiner niedersten Instinkte.
Wo bleibt da deine Freiheit? Wo deine Fähigkeit zum Selberdenken?

Verschieben: ja. Auflösen: nein.

Man kann Komplexität, Widersprüchlichkeit und Mehrdeutigkeit nicht auflösen. Und auch das daraus resultierende Gefühl des Unbehagens nicht. Auch nicht durch Egomanie, Schwarzweiß-Malerei, Sündenbock-Blaming oder trotzige Verleugnung.
Man kann sie nur an eine andere Stelle verschieben. Wo auch das eigene Unbehagen sehr zuverlässig wieder auftauchen wird.

Oder aber man muss Zeit und Mühe investieren, um seine eigene Toleranz und Geduld zu trainieren und zu steigern.
Es ist im Grunde simple Thermodynamik: Erhöhe deine Leitfähigkeit – oder verglühe. Der Hitze ist das egal.

Das Ringen um Kompromisse in einer Demokratie ist naturgemäß eine zähe Angelegenheit. Was uns dabei aber bewusst bleiben muss: Dieses Ringen findet statt, damit auch für dich und für mich weiterhin Platz bleibt.
Ja, es erfordert Geduld, und ja, das erzeugt Unbehagen.

Ein Teil des Wahlvolks versucht offenbar derzeit, sein Unbehagen aufzulösen, indem es das Misstrauen gegenüber bestimmten Parteien auf das gesamte System Demokratie ausdehnt. Dann muss es auch demokratiefeindliche Tendenzen nicht mehr eindeutig als Ausschlusskriterium sehen.

Albernerweise ist das Fundament für diesen fatalistischen Rundumschlag jedoch durchdrungen vom Vertrauen auf die Demokratie und ihre Unsterblichkeit. Aus einer Erfahrung von Kindheit an und aus einer er-lebten Gewohnheit, die das Unbewusste völlig eingenommen haben. So sehr, dass man die vielen großen und kleinen Benefits nicht mehr wahrnimmt, die damit einhergehen. Und sich die drohenden Auswirkungen seines unsensiblen Wahlverhaltens nicht mal ansatzweise vorstellen kann.

Das ist aber ein Widerspruch in sich – aus hüfttiefem Demokratievertrauen heraus der gesamten Demokratie das Vertrauen entziehen zu wollen. Die Ambiguität wurde verschoben, nicht aufgelöst.

Mit seiner Meinung gehört und akzeptiert zu werden – auch dieser Anspruch entspringt direkt unserer jahrzehntelangen Gewöhnung an die Demokratie. Ein bedingungsloser Anspruch darauf – oder das Recht, mit der lauteren Stimme oder mit Gewalt die Meinung anderer verstummen zu lassen – existiert hingegen nicht.

Wenn wir von unserem gemachten europäischen Nest aus nach außen mauern, wird man uns das nicht vergessen. Selbst die höchste Mauer wird den Menschen, die aus Klimagründen flüchten müssen, nicht standhalten, wenn die obendrein entsprechend wütend auf uns sind.
Solches Mauern lässt sich folglich von Parteiseite nur glaubhaft verkaufen, wenn man gleichzeitig gewisse Aspekte der Wirklichkeit komplett leugnet, wie eben die Klimaproblematik. Der Lohn, der den Einzelnen dafür in Aussicht gestellt wird, wenn sie beim Leugnen mitmachen: ihre verwöhnte Welthaltung bleibt dabei unberührt und unhinterfragt. Hauptsache, wir müssen uns nicht bewegen oder verändern.
Das ist verlockend. Und es stimmt zufällig so gut mit unseren Verfügbarkeitsansprüchen überein!

Aber auch hier: Verschieben, nicht auflösen. Auch nicht durch Verleugnung.
Wenn man einen bereits aufgetürmten Berg dennoch weiter zur Seite schiebt, erschlägt er einen am Ende.

NichtMehrWissen

Was immer da ist, das verschwindet aus unserer Wahrnehmung. So wie man sein eigenes Parfüm nicht mehr riecht, weshalb man es mit der Zeit als übertriebene, externe Raumforderung mit sich herumträgt. Das Gehirn blendet aus, was immer da ist, damit es Veränderungen besser wahrnehmen kann. Das spart Energie.
Daraus folgt: Wenn wir wollen, dass uns keine Grundfesten unseres Lebens entgehen, dürfen wir nicht faul werden und müssen uns aktiv darum bemühen, wahrzunehmen, was wir haben.

Demokratie wird nicht mehr wahrgenommen. Sie bildet die Grundfeste für unsere Freiheit – und existiert gleichzeitig nicht. Wir haben die Freiheit bereits. Nur, allzu viele wissen das nicht mehr.

NichtMehrWissenden kann man viel erzählen. Man kann ihnen vorgaukeln, man wäre selbst eh auch Demokrat*in, obwohl einem die Demokratie und parlamentarische Prozesse verhasst sind. Weil sie zu wenig Raum für aufgeblasene Egos bieten. Weil sie Verleugnetes mit der Zeit immer aufblatteln. Und weil sie für Repression und Gewalt gegen beliebige Sündenböcke zu wenig Platz lassen.

Man kann die “Freiheit” (oder die “Alternative”) im Namen führen und damit die NichtMehrWissenden leicht täuschen. Mit ausgehöhlten Worten.

Man kann NichtMehrWissenden dennoch erzählen, es würde ihnen alternativ eine größere Freiheit winken, wenn sie ihre jetzige selbst abschaffen.
Die ihnen nicht fehlen wird. Weil sie sie ohnehin nicht mehr spüren.

Was sie danach spüren werden, ist der Verlust.
Aber leider viel zu spät.

Und jetzt?

Ein probates Mittel gegen uferloses Anspruchsdenken und besserwissende Blasiertheit ist Dankbarkeit und Demut.
Sich klarmachen, was man alles hat, das ein großer Teil der Menschheit immer noch entbehrt.
Und da höre ich auch schon ein paar Leute quietschen: “Waaaas!? Und DAFÜR soll ich auch noch DANKBAR sein?”

Ja, das sollst du. Denn wir haben es gut. Weitere Verbesserungen brauchen Zeit und Kompromisse.
Schlimmer hingegen, schlimmer geht immer. Und es geht schnell.
On demand.

Anmerkung:
Die Widersprüchlichkeit, die sich aus meiner Intoleranz gegenüber demokratiefeindlichen Parteien ergibt, halte ich locker aus. Eine Partei, die “endlich mal kompromisslos durchgreift gegen [beliebige schwache Randgruppe]”, und die “sagt, wo’s langgeht” – die wird deine und meine persönliche Freiheit sicher nicht erhöhen. Wer was anderes behauptet, lügt.
Die Demokratiefeindlichkeit ergibt sich schon aus “kompromisslos” und “sagen wo’s langgeht”.
Die einzige Freiheit, für die sich solche Parteien interessieren, ist die zum Ausleben ihrer Fantasien von Macht, Überlegenheit, Sadismus und Vernichtung.

1 Kommentar Schreibe einen Kommentar

  1. Christa sagt:

    Pffffaaauuu! Super formuliert!
    Es ist zu hoffen, daß viele diese Dankbarkeit und Demut noch haben oder sich der Notwendigkeit dazu wieder bewußt werden! Wahrnehmen, was wir Gutes haben und nicht nur die vermeintlich negativen Seiten sehen! Zeit und Geduld aufbringen, um Negatives zu bessern, ist halt mal schwer.
    Die im letzten Satz genannte Freiheit ist eine fatale , das meine ich auch.

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