Selbstbezogen

Buntschatten Ich weiß nicht, warum es sie gibt. Habe ich irgendetwas an mir, in mir, das so ähnlich ist? Sie ist einfach da, meine Faszination für Autismus.

Autisten sind ‘selbstbezogene’ Menschen. Sie leben in ihrer eigenen Welt. Sie begreifen sich selbst nicht als einen Teil der Welt da draußen. Oder begreifen wir sie nicht als Teil unserer Welt?

Die in der Allgemeinheit verbreitete Wahrnehmung der Gesichtsausdrücke, der Gestik, der Sprache – die teilen sie nicht, oder nicht zur Gänze. Soziale Interaktion fällt vielen schwer, mitunter bleibt sie völlig auf der Strecke. Viele empfinden sie vielleicht auch einfach nicht als erstrebenswert.

Ich hingegen mag Kommunikation, ich mag es, andere Menschen zu erleben; der Austausch mit meinen Lieben ist mir geradezu ein Lebenselixier. Was also haben wir gemeinsam? Ich empfinde etwas in mir, einen vergessenen Kern, der den Planeten Autismus schon besucht haben könnte, eine tief in sich versunkene Welt, die sich selbst genügt, und die sehr empfindlich ist gegenüber Reizüberflutung. Wer weiß, vielleicht gibt es diesen Kern sogar in jedem von uns? Ist es eine Grundeigenschaft, die wir nur verlernt haben, getauscht haben gegen die durchaus heimtückische Arena der sozialen Interaktion, und gegen Filter, die bei einem stärker arbeiten und beim anderen weniger stark?

Endlich habe ich mich wieder daran erinnert, dass es Bücher von Autisten gibt, und mir eines davon bestellt. Es war die beste Lese-Idee, die ich heuer hatte, ich bin völlig darin versunken, ha!, war gefesselt und fasziniert. Und spürte sie nach langem einmal wieder, diese abwehrende Traurigkeit, wenn plötzlich nur noch ein paar Seiten vor einem liegen.

Die Lebensgeschichte von Axel Brauns in Buchform endet in seinem zwanzigsten Lebensjahr. Im Klappentext sagt er, er hätte bis zu seinem 29. Lebensjahr in einer Welt nur mit sich selbst gelebt. Zwar gibt es weitere Romane von ihm, aber keine Fortsetzung seiner Geschichte. Es fehlen also neun Jahre seines Lebens mit Autismus, die ich mir sehr gerne noch auf weiteren 370 Seiten von ihm erzählen hätte lassen.

Natürlich mag man entgegnen, ein Autist, der schreiben und erzählen kann, wäre wohl höchstens von einer “milden” Form dieses Zustandes betroffen, und ein solches Buch könnte nur schwer einen Eindruck von diesem selbstbezogenen Leben geben. Dennoch dürften solche Bücher unsere einzige Möglichkeit sein, einen Blick hinter die autistischen Kulissen zu werfen.
Auch andere Bücher von Autisten gibt es, vielleicht werde ich noch weitere lesen.

Hier erstmal mein Lesetip für alle Interessierten:
Axel Brauns – Buntschatten und Fledermäuse
Goldmann Verlag, ISBN 3442152445.

17 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. T.M. sagt:

    Mir erscheint im Absatz “Ich hingegen …” wichtig, dass es sich um eine oberflächliche Gemeinsamkeit handelt, nicht etwa um dasselbe. Ich bin ja kein Autist :)

    Diesen Kern hat allerdings jeder. Es ist die eigene Individualität, je nachdem, wie weit sie eben ausgeprägt ist, “die sich selbst genügt” – madame verwendet hier wörtlich Schopenhauer. Ob man ihn, den Kern, nun vergessen oder aufgegeben hat, oder ihn etwa pflegt und kultiviert, hängt von jedem selbst ab. Einen Rest davon hat wohl jeder, die wenigsten leben ganz und nur in der Gesellschaft. Aber auch der Fall, dass einer ganz ausserhalb ihrer lebt, ist höchst selten.

  2. Etosha sagt:

    Auch ‘die eigene Individualität’ scheint mir daneben-/zu hoch gegriffen, wenn es um dieses innere Reich geht. (Herr, schmeiß Worte vom Himmel! ;) Zumindest schwingt in diesem Wort Individualität ein Sinn mit, der mir nicht zutreffend erscheint. Der Individualität, wie ich sie verstehe, geht eine Art von Selbsterkenntnis voraus, die hier nicht mitspielt. Es ist vielmehr losgelöst, von allem Tun sowieso, aber auch von dieser Art des Seins; eher ein Nicht-Sein, sich nirgendwo spiegeln.

    I give up!

  3. T.M. sagt:

    Hinsichtlich dessen, was echte Individualität bedeutet, lohnt, wie ich finde, ein Blick auf eine Katze :)

  4. blue sky sagt:

    Das Autismus-Weblog von Moni und Roland kennst du schon?

    Ich habe bislang nur die Bücher von Oliver Sacks gelesen. (Z. B. “Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte”, “Eine Anthropologin auf dem Mars”). Er wirft eine faszinierende, sehr menschliche Sicht auf die verschiedensten Arten seelisch/geistiger Krankheiten und Zustände – u. A. auch Autismus.

  5. nömix sagt:

    Interessant auch Axel Brauns Herangehensweise an sein Filmprojekt (“Tsunami”, dessen Gestehungsprozess sich in div. Filmer-Fachforen mitverfolgen lässt) als völliger Laie – außerordentlich unorthodox, wie es einem Nicht-Autisten niemals einfallen würde. Aber gerade diese manische Fixierung scheint dafür ausschlaggebend zu sein, dass ihm das ganze vermutlich tatsächlich so gelingen dürfte, wie er es vorhat – entgegen jeder “vernünftigen” Prognose von professionellen Filmern.

    Artikel in der ‘Welt’

  6. Etosha sagt:

    Vielen Dank, Ihr beiden, für die Infos! Kannte ich alles bislang noch nicht. Wie gesagt, habe ich mit Autismus im Grunde nichts zu tun, bis auf mein Interesse dafür. (Die Doku über Axel Brauns hab ich vor Jahren mal im TV gesehen und mich jetzt daran erinnert.) Und ich interessiere mich für so viele Dinge, dass ein Tag, der 48 Stunden hat, auch ausgefüllt wäre.

    Oliver Sacks klingt interessant, werde ich mir bei Gelegenheit zu Gemüte führen.

    nömix, falls du Links zu oder Texte aus Fachforen hast, bitte immer her damit! :) Google gibt da nicht allzuviel her, wie mir scheint.

  7. nömix sagt:

    Axel Brauns postet unter dem (ebenso merkwürdigen) User-Namen “Volltrottel”. Er schreibt in verschiedenen Foren oft hunderte (sic!) Beiträge pro Monat, sehr gescheit aber äußerst detailliert und wortreich bis zur Geschwätzigkeit, oft in befremdlich belehrendem Tonfall als würde er ex cathedra von oben herab dozieren. Also zwar durchaus einer Kommunikation aufgeschlossen, aber immer mit dieser manischen Fokussierung auf Details, die (jedem anderen) völlig unerheblich scheinen. Er gibt auch oft sehr viel Persönliches & Intimes über sich preis, seine Ich–Fixierung oder Auf sich selber–Bezogenheit fällt auf.
    http://forum.regie.de/viewtopic.php?p=67923#67923

    (Auf seiner Webseite verrät er wiederum überhaupt nix über seine Vita, außer “Axel Brauns lebt.” Auch irgendwie seltsam.)
    http://www.axelbrauns.de/vita.htm

    Auf Wikipedia gibts noch paar Links zu ihm.
    http://de.wikipedia.org/wiki/Axel_Brauns

    Er schaut bissel komisch aus, seinen scharfen Intellekt sieht man ihm äußerlich nicht an.
    http://www.zdf.de/ZDFde/inhalt/1/0,1872,2024737,00.html

    Sein Filmprojekt dürfte gute Fortschritte machen, bemerkenswert vor allem unter den Umständen unter denen er es zustande zu bringen beabsichtigt. Selber bin ich auf seinen Film jedenfalls sehr gespannt, was da herauskommt.

  8. Etosha sagt:

    Bist ein Schatz! Dankeschön!
    Die Vita auf der HP hatte ich auch gesehen und in mich reingegrinst.

  9. cappuccina sagt:

    ob Autisten tatsächlich “selbst”bezogen sind ?, da assoziere ich Eigenschaften wie egoistisch, egozentrisch,…. Autisten “retten” sich viel mehr in sich, und sie sind unglaublich individuell, das weiß ich aus meiner Arbeit mit ihnen, aber das sind wir doch alle, jed(r) ganz für sich- Gott sei Dank!

  10. cappuccina sagt:

    PS:
    demnächst dazu in unseren Kinos:
    snow cake

  11. Etosha sagt:

    Deshalb steht mein ‘selbstbezogen’ im Text auch unter Anführungszeichen – ich selbst bezog mich dabei auf den griechischen Wortursprung.
    Danke für den Link!
    Arbeitest du immer noch in dem Bereich, oder ist das passé?

  12. cappuccina sagt:

    Mir begegnen autistische Kinder in meinem Beruf,
    sind faszinierende kleine Persönlichkeiten, v.a. weil sie uns oft so fremd sind in ihrer so eigenen Welt.

  13. Etosha sagt:

    Gehört sicher auch eine Portion Mut zu solchen Begegnungen. Von beiden Seiten, vermutlich.

  14. nömix sagt:

    Nachtrag, über Axel Brauns Dreharbeiten zu seinem Spielfilm gibt es eine 90-minütige (preisgekrönte) Dokumentation, Der rote Teppich. Kommt voraussichtlich im Frühjahr im Bayrischen Rundfunk, genauer Sendetermin steht noch nicht fest.

  15. Etosha sagt:

    Super, vielen Dank!

  16. nömix sagt:

    Ein anderer Fall, der dich ja vielleicht interessiert, ist der des Kölner “Selbstfilmers” J.Zimmermann. Zwar kein ausgewiesener Autist per definitionem, aber ebenfalls ein Sonderling mit sozialen und kommunikativen Defiziten, die er über das Medium (Selbst-)Filmemachen zu kompensieren versucht. Auch über den gibts eine mittlerweile preisgekrönte Dokumentation (30 min.) der beiden Würzburger Filmer Hanni Welter & Alex Weimer:
    http://roundrock.de/roundrock/download/herrmuellerherrschulze.wmv
    (ein Interview mit den Filmemachern dazu hier http://www.dokux.de/217349.html )

  17. Etosha sagt:

    Danke für die Links, nömix, ich werd’s mir zu Gemüte führen!

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