In der letzten Woche unserer vier Monate Palau haben wir endlich frei. Bestürzt stelle ich fest: Obwohl die Inseln nicht besonders groß sind, leuchten mir da noch immer weiße Flecken von meiner Babeldaob-Karte entgegen! Ngaremlengui zum Beispiel hatten wir noch gar nicht. Martin geht heute tauchen, und ich mache mich kurzerhand auf den Weg in den unbekannten Bundesstaat auf der Westseite der Nordinsel.
Das erste, was mir dort nach dem Abbiegen von der Hauptstraße entgegenleuchtet, sind rote Hügel aus ebensolcher Erde, die sich wunderbar gegen den blauen Himmel abheben. Barfuß mache ich mich auf die Socken (was man auch erstmal schaffen muss) und erklimme den Hügel links von der Straße. Die harte Erde fühlt sich warm unter den Füßen an, das Erklimmen des Hügels geht ganz leicht. Knallgrüne Farne wachsen aus dem Boden und geben der Farbkombination den letzten Schliff. Ich sehe bis zum Barriereriff und fühle mich wie der König der Welt. Die Königin. Zu Recht, wie sich später zeigen wird.
Nach der Kletterei und ein paar Selfies mit dem Selbstauslöser fahre ich weiter über betonierte oder steinige Straßen, deren Schlaglochgröße variiert. Richtig schlimm wird die Fahrbahn erst, nachdem ich in Imeong den Fluss überquert habe. Sicher sind hier Unmengen Moskitos, wenn es Abend wird, aber dieses Dorf liegt so malerisch an seinem Fluss, dass man am liebsten gleich eine entsprechende Immobilie erwerben würde.
Als nächstes erweckt am Straßenrand ein Schild mit der Aufschrift Camp Melly meine Neugier. Ein halsbrecherischer Feldweg mit Löchern so groß wie Lkw-Reifen führt steil den Berg hinauf. An Umkehr ist hier ohnehin nicht mehr zu denken, also trete ich den armen Nissan bis auf die Hügelkuppe. Camp Melly entpuppt sich als Guave- und Tapioca-Farm. Zwei Philippinos hüten die Farm und kommen sogleich aus dem Schatten, um mich zu begrüßen. Süße Küken mit kreativen Rallyestreifen hüpfen um das Farmhaus herum. Ich darf fotografieren und bekomme drei Guaven geschenkt, die ich später noch gut brauchen kann. Zum Glück hab ich Kuchen eingepackt, also kann ich mich revanchieren. Man erwartet zwar hier nichts im Tausch, aber man freut sich natürlich trotzdem, wenn’s was gibt.
Auf dem weiteren Weg Richtung Wasser, Dock und Strand (hoffentlich, mir ist nämlich sehr heiß) liegt eine Wellblechbude, die eventuell eine Werkstatt sein könnte, diverse alte Schüsseln säumen den Garten drumherum. Keine Obstschüsseln, Kfz-Schüsseln. Ich denke an meinen Papa und finde, ihm würde es hier gefallen, und er würde die Dinger sicher genauer inspizieren wollen, bevor ihn vor Hitze sogleich der Schlag träfe. Mein Bruder würde die Inspektion vielleicht etwas länger aushalten.
Der letzte Teil der Fahrt ist der rumpeligste. Aber es lohnt sich. Ich komme auf einen Hügel, die Straße wird wieder breiter und glatter, jenseits davon liegt das Dorf Ngermetengel malerisch in einer Senke, Palmen säumen den Hang bis zum Ozean, und dahinter sieht man die Wellen an das Barriereriff branden. Auf einem Stück des Riffes fehlt das Weiß der Wellen, das dürfte der westliche Kanal sein, eine jener Durchfahrten, die von Schiffen seit jeher benutzt werden, um von außen nach innen zu gelangen.
Die Straße zum Dock wird von einem Fluss begleitet, das gegenüberliegende Ufer von Felswänden gesäumt. Ein paar Taiwanesen kommen gerade in Kajaks den Fluss herauf, nicht ohne dabei die ihnen so typische Schreierei zu verursachen. Die Stille an sich ist dem Asiaten unheimlich, darum gilt es sie stets zu bekämpfen, am einfachsten geht das unter Einsatz der eigenen Stimmbänder. Es sieht aber lustig aus, ich würde hier auch gerne Kajak fahren.
Als ich mich endlich dem Meeresufer nähere, findet sich dort ein Schild.
Ich, sogleich in die Hatchery stapfend, glaube, die haben sich mit der Pfeilrichtung geirrt. Da ist es doch, das Oldage Center:
Doch zum Glück entdecke ich auch lebende Geschöpfe in dieser Brutstätte.
Ich sehe auch große Krabben in den Becken, Baby-Riesenmuscheln (klingt komisch, is aber so) – und dann beginnt es zu regnen. Mir ist das egal, aber der Kamera nicht. Außerdem gibts noch ein Dock und einen Strand zu erkunden, die lockend mit ihren Palmen wedeln.
Der Regen kommt an diesem Tag aus nördlicher Richtung, immer wieder ballen sich die Wolken zusammen und schieben einen Guss nach dem anderen Richtung Dock, gefolgt von gleißendem Sonnenschein. Die Güsse ist man als gelernter Palau-Foreigner aber gewöhnt, außerdem bringen sie eine willkommene Abkühlung, wenn auch nur kurz. Eine weitere Erfrischung bringt mir das kurze Bad im Meer am Strand, leider ist das Wasser recht trüb, sodass ich mir die Schnorchelmaske hätte schenken können. Dafür kriege ich beim Rauskommen eine Dusche gratis, denn es schüttet schon wieder.
In einem der Jausenhäuschen am Strand finde ich Schutz vor dem nächsten Guss sowie den Reiseleiter der taiwanesischen Kolonie. Letztere hat sich mittlerweile im Dock-Häuschen weiter draußen zum Mittagessen eingefunden. Der Reiseleiter redet viel, sagt aber wenig. Daneben sitzt ein Typ, der für die lokalen Kajaks zuständig ist, der interessiert mich mehr. Ich frage ihn nach seinem Namen, er sagt: “Just call me King”. Ich frage ihn nach einem Kajak für einen der folgenden Tage, er sagt “Sure, I’m here every day”.
Wir kommen aufs Fotografieren und die Weltkriegsrelikte zu sprechen, und King fragt mich, ob ich schon die Kanonen oben auf dem Hügel fotografiert hätte. Kanonen?? Nein! Noch nicht! Die Kanonen hatten die Japaner im zweiten Weltkrieg in Richtung Kanal gerichtet (der erwähnte Durchbruch im Riff), wo sie die Schiffe der Amerikaner erwarteten. Ja, wo sind die denn? (Die Kanonen, nicht die Amerikaner.) Ach, da muss man nur da oben links abbiegen, dann kommt man da direkt hin. Ich kenne aber die Abzweigungen Marke “da eh eh gleich oben links abbiegen” mittlerweile und weiß, dass man die nur sehr schwer überhaupt als Abzweigungen identifizieren kann, geschweige denn sich tatsächlich traut, da mit dem Auto abzubiegen. Also frage ich King, ob er mir zeigen kann, wo das ist und biete ihm eine Guave im Tausch an. Seht ihr, ist schon gut, wenn man eine hat!
Ich gehe noch ein bisschen schwimmen, während King mit einer Scheibtruhe (Schubkarre, für meine deutschen Freunde) den taiwanesischen Müll draußen vom Dockhäuschen abholt und Gott weiß wo entsorgt. Unglaublich viel Müll für eine einzige Mahlzeit eines einzigen Grüppchens. Sein Hund begleitet ihn hin und zurück.
Dann tue ich etwas, was man in Palau tatsächlich wagen kann: Ich lasse einen Wildfremden in mein Auto einsteigen und fahre mit ihm eine “Bergstraße” hoch (oder: ein vom Wasser ausgeschwemmtes Trockenflussbett). Von der Qualität her gleicht der Weg jenem zum Camp Melly, allerdings ist er zum Glück wesentlich kürzer. An der nächsten Abzweigung halte ich neben einem Haus an, ich traue dem Nissan den immer enger und holpriger werdenden Weg nicht zu. Der Besitzer des Hauses ist ein junger Mann, den ich natürlich frage, ob ich hier parken darf. Na klar, er hat nichts dagegen.
Den Rest gehen wir zu Fuß. Oben wird es wieder breiter, und King zeigt mir den Weg.
Auf der Lichtung, die wir kurz danach erreichen, finden sich vier alte Kanonen von beeindruckender Größe, die immer noch auf die Amis am Riffkanal warten. Drei davon stehen im Freien und haben keine andere Aufgabe mehr, als im Sonnenschein rostrot zu leuchten. El Reisehase gefällt das.
Die vierte Kanone ist in einen Bunker eingebettet, in dem es sich lustig singen lässt. Ich probiere ein paar Obertöne und erschrecke damit den King zu Tode.
Kurze Zeit später treffen wir beim Auto auf den jungen Mann von vorhin, der sich als Ace vorstellt. Wir rauchen zu dritt eine Zigarette (also, jeder seine eigene) und plaudern. Ace, King – und ich. Und so kam es, dass ich mit As und König meine Zeit verbrachte. Sagte ich nicht vorhin, ich fühlte mich zu Recht wie die Königin?
Ace erinnert mich an Captain Jack Sparrow – nur dunkler von Haut und in Flipflops. Er hat sogar einen kleinen Zopf auf einer Seite des Kopfes. Meine Fotos werden dem Eindruck allerdings nicht gerecht. Dazu hätte er lächeln müssen, und wer kann das schon in Ruhe tun, wenn eine Kameralinse so unverhohlen auf einen zeigt?
Nach dieser Kartendeck-Begegnung holpere ich nochmal zum Dock zurück und finde dort drei singende Menschen vor. Ich fahre rückwärts ganz langsam an das Häuschen ran, in dem sie sitzen, und bin dabei so fasziniert von den Gesängen, dass ich nicht in den Spiegel schaue – eine Frau hört abrupt zu singen auf und ruft stattdessen Stop, was mir nicht so nahtlos in das Kirchenlied zu passen scheint, aber da habe ich leider bereits die Fahrertür des hinter mir lauernden Autos sanft touchiert.
Beim Aussteigen zeigt sich, dieses Auto sieht aus, als hätte des derlei schon öfter erlebt. Es ist schwarz, verbeult und gehört einem der Sänger. Er winkt nur ab, es ist nichts passiert. Ich schenke ihm trotzdem einen reuevollen Blick, eine Entschuldigung und eine Guave – nur zur Sicherheit. Es ist sehr gut, wenn man eine hat. Ich singe “How great thou art” mit den drei entzückenden Menschen, und sie versprechen mir einige Gesprächsfetzen später, für meine Frau Hund und ihre anstehende OP beten zu wollen.
Auf dem langen Weg zurück Richtung Hauptstraße beginnt es zu schütten, aber ich fühle mich pudelwohl, drehe die Musik laut auf und holpere zurück bis zum “River Park”, eine Stelle ganz am Anfang der Nebenstraße, wo ein paar Hütten am Fluss stehen sowie ein alter Flugzeugmotor samt Propeller. Auf der anderen Straßenseite gab es früher eine japanische Ananasdosen-Fabrik, kurz Cannery. Überreste der Fabriksmaschinen haben freundliche Menschen im Dschungel stehen lassen, damit man sich die in Ruhe ansehen kann.
Es regnet immer noch, als ich dort ankomme, und so bleibe ich im Auto und warte. Währenddessen kommen zwei junge Männer an und beginnen im Dschungel neben der Straße nach Fruchtfledermäusen Ausschau zu halten. Aber nicht aus Freude am Beobachten der Natur.
Wir kommen ins Gespräch, die beiden sind nett. 12-15 Dollar kriegt man für eine Fruit Bat, wenn man sie an Restaurants verkauft, erzählt mir Brandon, der von Kalifornien zurück nach Palau gezogen ist. Kein schlechter Preis für ein bisschen Herumgestapfe und Geballer mit dem Luftdruckgewehr.
Hier die beiden tollsten Jäger aus Ngaremlengui – ich musste ihnen versprechen, dass ich das schreibe.
Mir tun die Viecher leid, und ich sage, die seien doch süß und pelzig, wie kann man auf sowas Putziges schießen? “Putzig?”, fragt Brandon. “Die sehen doch aus wie Ratten”. Ich gebe zu, noch kein Tier aus der Nähe gesehen zu haben, nur auf Fotos, aber dass ich die trotzdem putzig finde. “Willst du eine sehen?” fragt er. “Wir haben eine im Auto.” “Tot??” “Nein, das ist ein Baby!” Die Babys bleiben sehr lange auf der Fledermausmutter hängen und lassen sich von ihr herumkutschieren und verpflegen, oft bis sie beinahe so groß sind wie die Mutter. Ganz wie bei uns Menschen. “Manchmal schießen wir eine, und das Baby überlebt. Dann ziehen wir es auf.”
Also kriege ich am Ende dieses wunderschönen Tages auch noch ein Fruchtfledermausbaby zu sehen. Es hängt an einem T-Shirt in einem Karton auf dem Rücksitz der Jäger und schläft. Viel ist nicht zu sehen, aber ich darf es knipsen (weniger sinnhaft) und streicheln (extrem sinnhaft).
Ich finde die immer noch sehr putzig, und der furchtbare Geruch, den diese Tiere angeblich verströmen sollen, ist zumindest bei diesem Baby überhaupt nicht wahrzunehmen. Aber Babys haben ja generell keine Witterung, das trägt zum Schutz des Nachwuchses bei.
Insgesamt betrachtet ist es ein Tag, so schön, als hätte ihn sich jemand ausgedacht. So schön, dass Martin und ich an den nächsten beiden Tagen gemeinsam noch zweimal nach Ngaremlengui fahren. Wir erkunden die Gegend rund um den River Park genauer und erklimmen dort in der Mittagshitze einen Hügel, dass uns ganz schwummrig wird. Auch unter Wasser gibts einiges zu sehen, wir schnorcheln am Riff in der Nähe des Docks, dort gibts Rotfeuerfische, die hab ich hier vorher nie gesehen.
Später füttert Martin die Fische mit Reis und Hühnerknochen, während ich unter Wasser filme.
Wir treffen am dritten Tag auch nochmal Ace am Strand. Ein paar Kinder laufen mit ihrem Hund dort rum. Als King mit seinem Hund ebenfalls auftaucht, kommt es zwischen seinem Hund und dem der Kinder zu einem spontanen Hundekampf. Er dauert eine gefühlte Ewigkeit, weil niemand Stiefel anhat, mit denen er dazwischentreten könnte, sondern nur Flipflops – und es gibt keinen Sieger, nur blutige Nasen.
King verschwindet mit seinem Hund nach dem Kampf. Dabei wäre ich gern mit einem seiner Kajaks den Fluss hochgepaddelt. Aber es müssen ja auch für den nächsten Palau-Besuch noch offene Punkte auf der To-Do-Liste bleiben.
Für meine Family: Die Jolly hab ich auch wiedergetroffen:
Am Abend nehmen wir Ace im Auto mit auf den Hügel, wo sein Haus steht, das einen rotbraunen Innenhof hat und umgeben ist von Rostlauben aller Couleurs. Und Martin und ich schauen uns oben auf der Lichtung nochmal gemeinsam die Kanonen an. Es ist ein bequemer Sitzplatz, obendrauf auf dem Kanonengestell, es gibt sogar eine schräge Rückenlehne, der rostige Stahl ist noch warm von der Sonne des Tages. Und dort sitzen wir nebeneinander, schauen uns den Sonnenuntergang an, der hinter dem Barriereriff über die Bühne geht, genießen die warme Luft und das stetige Zirpen und Summen und Vogelgezwitscher darin. Wir lassen uns Zeit, für mich ist es ein Abschiednehmen, ein ausgiebiger letzter Blick von oben über die wunderbare Landschaft, das Riff und das herrlich türkise Wasser – und all das mit warmem Kanonenstahl im Rücken.
Die letzte Guave bleibt mir. Ein paar Tage später schneide ich sie an. Ich hätt sie besser verschenken sollen. Die palauanische Guave ist nur was für ein Land, in dem keine Äpfel wachsen.
[Plugin zickig. Ein Foto nicht in Winzi-Größe wie es sein sollte. Chronologie nicht herstellbar. Entschuldigung.]