Ars Electronica Festival

Mein Twitter-Freund @oleschri hat mich freundlicherweise nach Linz zum Ars Electronica Festival eingeladen, das heuer von 3. bis 7. September stattfand. Es lohnt sich, für das Festival ein paar Tage freizunehmen, weil es da so viel zu sehen gibt. Ein paar Wochen zuvor hatte er mich schonmal sehr kompetent durch das Ars Electronica Center geführt. Als passionierter Dauergast ist er dort der totale Auskenner in Sachen Ausstellungsobjekte und deren Sehenswürdigkeitsfaktor, was in der Praxis bedeutet: Es hat unheimlich viel Spaß gemacht. Meine Erwartungen sind entsprechend groß.

Ich checke im Hotel Langholzfelderhof ein, etwas außerhalb von Linz, aber in sinnvoller Nähe zum Einladenden, der mich freundlicherweise tagtäglich abholt und zurückkutschiert. Ich mag ja Hotels – die Reduktion des eigenen Zeugs auf das Notwendigste, die stets frische Hotelbettwäsche, die kreativen Herausforderungen. Alles ist dort höchst unkompliziert, ich kriege eine Verlängerung bis Montag, zwar ein anderes Zimmer – doch mein Gepäck wird vom Personal übersiedelt. Das Zimmer, wiewohl als Einzelzimmer gebucht, ist groß, es hat eine Garderobe mit Haken für Jacken, die Kleiderhaken im Schrank sind ganz entspannt dem Diebstahl freigegeben, und es findet sich ein ebenso höchst normaler Fön im Bad – keiner von denen an gequirltem Telefonkabel, die für die widerstandsfreie Haartrocknung immer ums berühmte Ar…gentinische Drittel zu kurz sind – oh nein, einer, den man schlicht abstecken und ins Schlafzimmer vor den großen Spiegel mitnehmen kann – neben dem sich auch prompt eine Steckdose findet. Es sind die kleinen Dinge. Der Fernseher hingegen ist von derart gewaltigen Ausmaßen, dass ich mich ein bisschen fürchte, ihn einzuschalten. Aber: Zimmertür zu, alles meins! So schön! Muss ich eh nimmer rausgehen?

Etosha darf rein

Oh doch, da war ja noch ein Festival! Es findet in Linz an allerlei verschiedenen Orten statt, das ist jedes Jahr ein wenig anders. Einmal werden ganz normale Geschäftslokale ins Geschehen eingebunden, dann wieder verschiedene Museen und Unis, und obendrauf gibts einen großen, zentralen Ausstellungsort wie die Tabakfabrik oder, dieses Jahr, das aufgelassene Postverteilerzentrum an der Waldeggstraße. Daher fand auch das Festival heuer unter dem Titel POST CITY statt, womit man die Frage verknüpfte, wie das urbane Leben in der Zukunft aussehen soll, könnte und wird. “Lebensräume für das 21. Jahrhundert” lautete der Untertitel.

Ein bisschen Unklarheit herrscht offenbar stets über die Sache mit den Tickets und Eintrittspreisen. Die Zusatzlocations sind nur mit gültigem Festivalpass gratis – heuer LENTOS Kunstmuseum, die CyberArts-Ausstellung im OK, das AEC (und übrigens auch der Höhenrausch, obwohl dort eine eigene Ausstellung gezeigt wird, die eigentlich nicht zum Festival gehört). Für die Themenausstellung am zentralen, großen Veranstaltungsort selbst jedoch, wo die meisten Projekte ausgestellt sind, wird gar kein Ticket verlangt. Die Fahrten auf allen Linz-AG-Linien (ausgenommen Pöstlingbergbahn) sind mit dem Festivalpass übrigens ebenfalls gratis. Kostenpunkt des Passes: ~150€ für das gesamte Wochenende, es gibt aber auch Tagestickets.

Donau, LENTOS

Der Übergang zwischen Kunst und Technik ist hier fließend, nicht alles hat einen unmittelbar erfassbaren “Sinn”, den manch nüchternes Gehirn aus Gewohnheit für notwendig halten könnte; man kann sich aber gut vorstellen, dass jede einzelne Idee die Basis für Neuartiges, Sinnhaftes in der Zukunft bilden könnte.

Das Schwierige am Festival ist, man kann sich unter den Projektbeschreibungen im Programmheft zumeist nicht das Geringste vorstellen – und das eine oder andere Projekt erhellt sich selbst bei höchstpersönlicher Begutachtung nur um wenige Lux. Es fällt daher nicht ganz leicht, vorab auszuwählen, was man sehen wollen könnte. Man kann nur hinlaufen, schauen, und eventuell fühlt man sich dann sogar an einen der Textabschnitte aus dem Programmheft erinnert. Ein fixer Bestandteil sind Konzerte, die vor allem am Sonntag-Abend geballt aufzutreten pflegen, und künstlerische Performances, die über das Wochenende zu bestimmten Beginnzeiten wiederholt aufgeführt werden, sodass man zusätzlich zur wiederholten Gelegenheit, sie zu verpassen, auch die Chance hat, sie mal zu sehen.

Eine solche Chance nehmen wir bei der Tanzperformance Second Body wahr, die wir uns im Mariendom anschauen. Es ist zuerst ein scheinbar endloses Intro in völliger Dunkelheit zu überwinden, in dessen Verlauf nur absichtsvoll knirschende Geräusche aus den Boxen dringen, Nackenhaare kräuseln sich grüppchenweise, während die Tänzerin regungslos wartet. Darauf allerdings folgt eine Körperakrobatik, wie ich sie noch nie gesehen habe. Ihre Haut bemalt von Schattenmustern aus vier Projektoren und ebensovielen Himmelsrichtungen, biegt und dreht und windet sich eine asiatische Dame in der Mitte, dass ihre Schulterblätter nur so flattern. Die Bewegungen wirken durchgehend spontan, wie eben erst ausgedacht, obwohl sie choreografiert sind. Die Lichteffekte tun ihr übriges, um richtig Eindruck zu schinden. Sehr sehenswert!

Second Body - Anarchy Dance Theatre X Ultra Combos Second Body

Ars Electronica 2015

In der Post-City federt man den Industriecharme mithilfe natürlicher Elemente und Pflanzen ab, was für ein sehr angenehmes Ambiente sorgt. Projekte sind in allen Nischen, Ecken und Räumen ausgestellt, die Bezirke der Post City tragen Namen wie “Future Mobility”, “Knowledge” oder “Fashion District”. Wir bekommen Drohnentechnik und die Arbeit an der Wahrnehmung selbstfahrender Autos der Zukunft anhand kleiner, fahrender Roboter gezeigt – und in einem so außergewöhnlich schauderhaften Ösitanen-Englisch erläutert, dass wir uns vor lauter Augenrollen kaum auf den Inhalt konzentrieren können.
Dafür ist gleich nebenan der Mercedes F 015 (“Luxury in Motion”) ausgestellt.

Post City Deko Post City Deko Shared Space Bots F 015 Luxury in Motion Halbdurchlässige Spiegel

An den verschiedenen Locations stoßen wir auf eine Fülle an schrägen Ideen. Da gibt es solarbetriebene Kunst-Insekten, die unter Taschenlampenlicht zu surren und zu zirpen beginnen; eine echte Kommunikationsschnittstelle zwischen Mensch und Schimmelpilz; einen Raum voll wassergefüllter Gläser, denen feine, kompassartige Nadeln unter leichter Spannung zufällige Ping-Töne entlocken. Wir finden elektronische Hilfsvorrichtungen für Pflanzenbestäubungsprobleme; interaktive virtuelle Biosphären und andere virtuelle Realitäten hinter breiten Helmen und Brillen, unterschiedliche, berührungslos steuerbare Spielereien; UV-beleuchtete Schwammerln in Vasen.

Künstliches Insekt, solarbetrieben Mensch-Schimmelpilz-Telefonzelle Klingende Gläser PSX Consultancy Schwammerlraum
Cyberspace Puppenspieler, berührungslos

Es gibt viele recht abgehobene Projekte, aber auch sehr realitätsnahe.

Realitätsnähe Sensationelle unsichtbare Verkabelung

Zwischendurch überrascht die Post-City mit eigentümlichen Deko-Elementen, wie etwa Pflanzen im WC-Handwaschbecken, einem Durchgangstunnel unter spaghettimäßig aufgeschichteten Kabelmantelresten oder auch mit einer WC-Kabine, aus der metallisches Spiralband träge hervorquillt. Aber auch eine Menge architektonische Modelle sind ausgestellt, gleich neben dem “Yami ichi” Internet-Flohmarkt. Es gibt in der Post-City auch ein umfangreiches Kinder- und Jugendangebot in einem großen U19-Bereich. Zonen zum Chillen sind ebenfalls vorgesehen.

Waschbeckenbiotop Kabelmantelsalat Modell Internet Yami Ichi Internet Yami Ichi Platz genug
Betreten schwierig

Am Freitagabend ist DJ-Line in der “Train Hall”, der großen, dunklen Zughalle des Postverteilerzentrums, industrial charme in voller Wucht, sicher eine Traum-Location für jeden DJ. Sehr chillige Musik wird da gespielt, man bereut fast ein wenig, vorab keinerlei weiche Drogen konsumiert zu haben.

Post City, Train Hall

An derselben Stelle findet dann am Sonntagabend das alljährliche Konzert statt, das Bruckner Orchester Linz spielt unter dem dirigierenden Stab des Dennis Russell Davies (AT/US), und verschiedene Künstler bringen ihre Ideen vor Bestrahlung mit Hintergrundvideos von superleiwander bis unerträglicher Bildfolge dar, was übrigens gleichermaßen auf die verschiedenen Tonfolgen zutrifft. Von “klassische Orchesterbesetzung” bis “choreografierte Geräuschkulisse mit Infraschall” ist also alles dabei. Da hat das Hirn alle Hände voll zu tun, und meine Gänsehäute jagen einander von Kopf bis Fuß.

Post City, Konzertnacht: Bruckner Orchester Linz

Unter anderem an derselben Stelle übrigens, denn das Publikum wird nach dem Ende eines Konzertabschnitts immer wieder von Helfern mit beleuchteten “Folge mir!”-Schildern durch die Hallen und zu einer neuen Performance geführt, was unkonventionell ist, aber dafür sorgt, dass es ständig spannend bleibt. Unter anderem gibt es da einen Blechblasexperten namens Bertl Mütter, der solo und auf launig-humorvolle Art sehr schräge Töne von sich gibt und mich ein bisschen an den Loriot-Sketch mit dem Kunstpfeifer erinnert.

Post City, Konzertnacht: Bertl Mütter

Die Postrutschen-Halle, die im Programm unter dem Künstlernamen “Spiral Falls” geführt wird, trägt die Performance “Diaspora Maschine“, eines der Highlights des Wochenendes. In einer gespenstisch beleuchteten Kulisse aus zig überdimensionalen, blitzblauen Spiralrutschen, auf denen früher Pakete und Briefe der Schwerkraft zu folgen pflegten, wird mit Drumsticks auf dem Metall getrommelt, Trompeten erklingen im stimmig hallenden Raum, ein Kinderchor singt, Steinchen und Bälle purzeln die Rutschen hinab, Pakete transportieren eine Message der Diversität und Toleranz. Es ist eine für mich nur wenig durchsichtige, aber feine Performance zum Flüchtlingsthema, bei der Location und Performance einander zum Leben erwecken.

Post City, Spiral Falls: Post City, Spiral Falls: Post City, Spiral Falls: Diaspora Maschine
Post City, Spiral Falls:

Klangkünstler haben offenbar mehr Faible für Geräusche als für Klänge. Im mobilen Ö1-Atelier auf dem Hauptplatz werden wir mit Musik beschallt, die mit Geräuschen aus der Post-City untermalt sind. Nennt mich banausig, ohne die Geräusche wärs schöner gewesen, aber eine kurze Pause auf den aufblasbaren Fauteuils war auch so ganz erholsam.

Pause im mobilen Ö1-Atelier

Im AEC selbst ist natürlich auch ständig was los an diesem Wochenende. Wir genehmigen uns die hochaufgelöste Laserabtastungsfilmfahrt der römischen unterirdischen Aquädukte im DeepSpace8K in voller Länge, von denen wir beim vorherigen AEC-Besuch nur Ausschnitte in einem Best-Of gesehen hatten. (Unschlagbar aus diesem Best-Of übrigens bleibt für mich Michael Königs Time-Lapse-Video der Sonnenprotuberanzen – so etwas Schönes hab ich in meinem Leben nur selten zuvor gesehen. Unbedingter Anschautipp im AEC!)

Von der Klangwolke sehen wir nur die Proben am Freitag, aus Gründen der völligen Erschöpftheit und der regnerischen Wetterlage lassen wir den Samstagabend aus.

Klangwolke

Die Stadtwerkstatt hinter dem AEC treibt ihre ganz eigenen Geschichten am Festival-Wochenende. Projektbeschreibungen sind in Zettelform im Vorraum ausgehängt, der Eintritt ist frei. Wir dürfen dort einer Performance beiwohnen, bei der ein glaubwürdig als Imker getarnter Soundkünstler mithilfe diverser Rohrstücke allerlei Feedback-Geräusche verursacht, die uns alle vier Gehörgänge, obwohl die sich hinter Oropax verschanzt in Sicherheit wähnen, aufs Penibelste durchputzen. Das war so ziemlich das Schrägste, was uns an diesem Wochenende unterkam. Ich stand zum Glück unter dem Einfluss von einer kleinen Menge Alkohol – ein Vorteil, den mein abstinenter Begleiter nicht hatte.

Stadtwerkstatt

Meine Lieblingsmomente an diesem Festival-Wochenende:

Das intelligente Schattenwesen, mit dem ich auf einer Leinwand in der Kunstuni Linz per Handzeichen kommunizierte. Es war zauberhaft und unglaublich und so einfach, kein großer Schnickschnack, kein Brimborium. Da war gar niemand, und doch war da jemand, der auf meine Bewegungen reagierte, zart und vorsichtig, nicht ruppig; nicht spiegelgleich, aber auch nicht weit davon entfernt. Es war sehr eigen, und – dem fehlenden Körperkontakt zum Trotz – berührend.

Das Wesen und ich Das Wesen und ich

Und die Dachbodeninstallation im OK – Glasröhren, in denen es auf eine schaurig-schöne Art dahinpfiff, ohne dass wir die Funktionsweise wirklich kapierten. Das Pfeifen war ein Feedback, das jedoch nie unangenehm wurde, weil es durch ein selbstregulierendes Prinzip [siehe unter “nicht kapierten”] innerhalb der Schmerzgrenze gehalten wurde.

Singende Röhren unter dem Dach des OK Singende Röhren unter dem Dach des OK

Ars Electronica 2015

Vom Linzer “Höhenrausch” erzähle ich euch dann aus Gründen der Länge in einer eigenen Story.

Wir blättern im Bilderbuch

Fürs Mich-Knipsen und überhaupt für das gesamte tolle WE: Tausend Dank an @oleschri.

4 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Paula sagt:

    Ist ja der Wahnsinn! Und da denken wir Nordlichter immer noch, dass man in Österreich nur schöne Ferien machen kann, merkwürdige Mehlspeisen zu Essen bekommt und Melange trinken kann bei guter Musik. Ihr habt’s ja noch viel mehr zu bieten!

  2. rudolfottokar sagt:

    sehr sehr schöner bericht;-)

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