Raum ist mein Thema. Was bedeutet es, Raum zu haben?
Auf den ersten Blick ist es das Fehlen jeglicher oder zumindest einer allzu engen örtlichen Begrenzung.
Es heißt also erstmal, Platz zu haben für mich und für die Dinge, die mir gehören. Mich frei bewegen zu dürfen und zu können. Frei atmen zu können, in den idealerweise unbeengten Brust- und Bauch-Raum.
Raum haben, dazu gehört für mich auch, fremdes Eigentum zu respektieren. Und dass Menschen im privaten Bereich nicht einfach Dinge an sich nehmen, nur weil sie da gerade ‘so rumliegen’; sie tun es deshalb nicht, weil ihnen der einfache geistige Schluss möglich ist, dass diese Dinge nicht ihr Eigentum sind und folglich jemand anderem gehören dürften.
Ich will mich auch akustisch ausbreiten dürfen, mit Gesang, mit Musik, mit Feiern und Lachen. Wahrscheinlich haben die anderen nicht immer ihre helle Freude damit, und genauso ist es umgekehrt.
Raum haben heißt auch Zeit haben. Zeit definiert sich über die Bewegung im Raum. Zeit haben für Schönes, mir Zeit nehmen dürfen für Entspannung, für Kreativität, auch mal für geistige Leere, ohne dieses allgegenwärtige ‘Ich sollte’ im Nacken. Ich möchte nicht ständig jede Minute sinnvoll nutzen müssen, sogar eine Zehn-Minuten-Autofahrt zum Telefonieren, weil die Zeit andernfalls nicht reicht für all das, was getan werden muss – ganz zu schweigen von den Dingen, die getan werden wollen.
Ich möchte Raum für Ideen haben, die wachsen dürfen und auf ihre Tauglichkeit geprüft werden, bevor sie von irgendjemandem für wertlos befunden, zertreten werden und im geistigen Abfall landen, bevor sie sich auch nur einmal frei fliegen durften.
Mein Raum muss auch für Entscheidungen reichen und dafür, Entscheidungen rückgängig zu machen oder Meinungen revidieren zu dürfen. Niemand darf mir jemals wieder sagen, etwas wäre ganz allein meine Entscheidung gewesen, und mir gleichzeitig verwehren, mich heute doch anders zu entscheiden. Und niemand darf mir die Schuld zuschieben (‘in die Schultern schieben’, liebe M.!), um mich ruhigzustellen.
Ich möchte Raum für die Freiheit, der Mensch zu sein, der ich gerade bin. Frei von den aufgeprägten Verhaltensweisen, denen ich glaube entsprechen zu müssen, weil ich das immer getan habe und meine Mitmenschen nicht enttäuschen will: Zuverlässig, mitfühlend, für andere da – zurückstecken, vernünftig sein.
Es wird erwartet, dass man der Mensch zu sein hat, der man gestern war. Als ob es nicht auch ohne diese Voraussetzung schwierig genug wäre, sich zu verändern! Wer es dennoch tut, löst Angst in seinen Mitmenschen aus. Und dann werden alle Register gezogen, denn kein Mensch wird schlechter behandelt als der Angstmacher.
Ich aber möchte an jedem Tag, in jeder Stunde ein anderer Mensch sein dürfen. Mein klares Nein müsst ihr ab und zu hinnehmen können.
Ich will Raum für Hinlänglichkeit, für Unperfektion. Als Mensch werde ich niemals perfekt sein, und das dauernde Streben danach, der irrige Glaube, man könnte sich so die eigene und fremde Liebe sichern, frisst Zeit, Energie und vor allem Mut.
Für Zorn ohne Stocken und Runterschlucken möchte ich Raum haben. Vor mir selbst und anderen zornig sein dürfen. Ich will nicht mehr erleben, dass ich vor Zorn nicht weiß, wohin mit mir.
Es muss Raum für Gerechtigkeit sein, und Zeit, um zu einer Gerechtigkeit zu finden, die für alle Beteiligten gültig ist. Ich sehe nicht ein, dass jener über Gerechtigkeit entscheidet, der die wenigste Zeit hat, und alle anderen keine gerechte Lösung erfahren, sondern sich sich einer falschen Entscheidung aus Zeitgründen beugen müssen. Von Machtgründen will ich hier gar nicht erst anfangen.
Auch dem Bauchgefühl muss Raum gegeben und das Gewicht beigemessen werden, das ihm gebührt in dieser Welt der Hirnlastigkeit.
Raum dafür, so empfinden zu dürfen, wie ich es eben tue, ohne mir erklären lassen zu müssen, wie ich mich fühlen sollte, oder dass meine Gefühle unberechtigt sind, weil meinen Gefühlen das gleichbedeutend ist damit, kein Recht auf Existenz zu haben, oder gar erfunden zu sein. Aber sie haben eine Grundlage, sie sind legitim und real.
Ich will Raum für Freude. Jedermann darf sie mit mir teilen, aber keiner darf sie mir mehr stehlen wollen, indem er mich von dort vertreibt. Freude zieht Suchende an, die diesen Raum voll fremder Freude für sich beanspruchen wollen, ihn aber aus eigener Kraft nicht gefüllt halten können.
Ich überließ meinen Raum dann oft kampflos, denn der Kampf darum – und der unweigerlich in diesem Raum folgende Konkurrenzkampf – erstickten meine Freude und Kreativität augenblicklich. Ich suchte neuen Raum, und ließ mich auch von dort wieder verjagen.
Freudenkaskaden von Mensch zu Mensch, die sich niemals verbrauchen, sind wunderschön. Sie funktionieren aber nur, wenn man nicht alles für sich allein haben will. Ich teile gerne mit Menschen, die selbst auch etwas zu geben haben. Auf lange Sicht sollte sich ein gewisses Gleichgewicht einstellen. Rückzug aber kommt nicht mehr in Frage.
Ich möchte mich öffnen, nicht verschließen. Und schon gar nicht verschließen müssen, achtgeben müssen, was ich preisgebe, und was ich lieber für mich behalte. Ich möchte Raum für Vertrauen. Von Menschen, denen ich nicht vertrauen kann, halte ich mich lieber fern, denn ich will mich nicht mehr vor ihnen schützen müssen.
Ich fordere meinen Raum für Humor und für Verspieltheit, keine Bremsen dem inneren Kind! Wem so etwas peinlich ist, der soll doch einfach wegschauen und meinetwegen an seiner Ernsthaftigkeit und an der Wichtigkeit seiner Existenz und seiner Gedankenkonstrukte Spaß haben, wenn er das denn kann.
Meine Freiheit ist mir wichtig. Ich möchte mich nicht von außen einschränken oder gar beherrschen lassen. Fremdbestimmt zu sein ist mir ein Greuel. Dabei bin ich von Rücksichtslosigkeit immer noch sehr weit weg, meine ich. Natürlich werde ich weiterhin Rücksicht auf den Raum anderer nehmen, Raum geben. Die gesunde Portion Egoismus muss aber dabeisein.
Ich möchte Raum. Gib mir diesen Raum, und ich lerne, etwas damit anzufangen.
In jeder Stunde ein anderer Mensch sein, ja.
Hätte man diesbezüglich etwas mehr Spielraum, würde man das eventuell gar nicht so dringend wollen. Oder aber die Möglichkeit ganz selbstverständlich wahrnehmen.
Seit zwei Wochen lag dieser Beitrag in meiner Merkliste, heute fand ich endlich angemessen Raum dafür.
Aus der Betrachtung hast du ein ganzes Manifest gemacht, wie du leben willst. So viele gute und wahre Gedanken, ob zur angstmachenden Veränderung, den infrage gestellten Gefühlen oder dem Entscheidungsspielraum. Danke.
Ein Manifest wird es vielleicht erst aufgrund seiner Länge und fordernden Form, es ist im Grunde nicht mehr als eine Erhellung: Es war mir ein Bedürfnis, den Begriff von vielen Seiten zu beleuchten, um herauszufinden, was er für mich im Moment alles bedeuten kann.
Schön, dass sich Menschen die Mühe machen, diese Lichtspiele nachzuvollziehen.