A-6. C.i. obliviscens: Der Vergesser

Dieser Artikel ist Teil 8 von 11 in der Serie "Schweinehunde" ...
Nanü, worum gehts denn hier? Bitte zum ersten Eintrag in dieser Serie!

A-6. C.i. obliviscens: Der Vergesser

‘Glücklich ist, wer vergisst, was noch zu verrichten ist.’

Überlieferungen zufolge existierte in grauer Vorzeit schon einmal eine ausführliche Beschreibung dieses Schweinehundes. Angeblich sogar eine recht treffende. Sie wäre gewiss auch heute noch hochinteressant, hätte man nicht vergessen, sie niederzuschreiben. Also, auf ein Neues!

Öhm, was wollte ich gerade sagen?

Der Vergesser ernährt sich von deinen Ideen und von allem, was du dir einprägen möchtest. Er sorgt dafür, dass du Erledigungen oder Termine einfach vergisst, die nur wenig Zeit in Anspruch genommen hätten und noch dazu ohnehin auf deinem Weg gelegen wären (wie Arbeit, Tierarzt, Auftragsmord). Obliviscens lässt seine heimtückische Gnade walten und dich unbekümmerten Frohsinns deines Weges ziehen, womöglich macht er sich noch über dich lustig, indem er dich darüber frohlocken lässt, wie überraschend gut du doch heute im Zeitplan liegst.
Das wäre ja halb so hinterfotzig, hätte das Vorgehen des Vergessers nicht zwei Stufen. Im nächsten Schritt vollbringt er, dass dir diese Verpflichtungen kurz vor deren Fälligkeit – oder aber bevorzugt danach – wieder einfallen.

Ist die Wahl des Schweinehundes auf ‘kurz vor Fälligkeit’ gefallen, dann kannst du schonmal deine Herzpillen suchen gehen: Ein akuter Zustand siedendheißer Panik setzt ein, begleitet von Schweißausbrüchen und einem mulmigen Gefühl in der Magengrube, außerdem erfreust du dich einer infolge akuten Zitterns völlig unbrauchbar gewordenen Feinmotorik. Die Nebennieren schütten Adrenalin aus, das bekanntlich vor allem der quergestreiften Muskulatur den ultimativen Kick gibt. Flucht oder Angriff! Jetzt! Diese Voraussetzungen kombinierst du zu einem aberwitzig überstürzten Aufbruch – Arbeit, Tierarzt, Auftragsmord, wohin auch immer. Allerdings ist das menschliche Gehirn leider kein quergestreifter Muskel. Für die konkrete Erledigung unverzichtbare Utensilien wie Büroschlüssel, Hund, Pistole, bleiben daher zuhause auf – oder unter – dem Küchentisch liegen.

Schickt dir der Vergesser den Geistesblitz über die vergessene Erledigung hingegen erst nach deren Fälligkeit, bleibt zwar das erwähnte mulmige Gefühl auch nicht aus, dafür blickst du auf einen, je nach Angelegenheit, kleinen oder großen Haufen betretener Niedergeschlagenheit. Wenn du dabei noch sowas wie Glück hast, kannst du die Erledigung nachholen, es erwarten dich dabei aber verplemperte Zeit, unnötige Kilometer, und du spürst jeden einzelnen wie einen körperlichen Schmerz, nicht zuletzt deshalb, weil du dir die ganze Zeit lang Schimpftiraden anhören musst – von dir selbst über dich selbst.
Kannst du die Sache nicht nachholen, übermannt dich ein kindischer, ein absurder und vergeblicher Wunsch, nämlich jener, die Zeit zurückdrehen zu können – und er tut es mit voller Wucht. Mit diesem Wunsch beschäftigst du dich wesentlich länger, als es für einen Erwachsenen angebracht wäre.

Was die verlorene Zeit betrifft, so musst du dich aber gar nicht übermäßig grämen: In einem gut etablierten Schweinehundestall hätten der Verächter, der Verbieter oder der Zweifler eine kreative oder seelisch erfüllende Tätigkeit in dieser Zeit ohnehin erfolgreich verhindert.

Bist du vom Vergesser befallen, dann werden auch sämtliche Angelegenheiten, deren Notwendigkeit du dir mühsam eingeprägt hattest, sobald du einmal, wenn auch nur flüchtig, an deren Ausführung gedacht hast, sofort vom Hirn als erledigt abgehakt. Alle späteren Bemühungen, das verzweifelt Gesuchte wieder an die Oberfläche zu befördern, indem du dir ebenso krampfhaft wie tagelang dein Hirn zermarterst, bleiben erfolglos. So kommt es, dass tausende Ideen zur Rettung der Welt nicht einfach in Schubladen vermodern – sie wurden schlicht vom Vergesser gefressen.

Seine metaphysische Ausdehnung versetzt diesen Schweinehund allerdings in die Lage, dich anderweitig und sehr unmittelbar an die verlorene Erinnerungsspur heranzuführen, beispielsweise mithilfe von Anmahnungen von dritter Seite (Chef; den Impfpass beanstandender Zollbeamter; um die Anzahlung geprellter Auftraggeber Marke ‘Stinksauer’).

Selbst Lernerfolge, die du bereits vor langer Zeit erzielt zu haben glaubtest, fallen dem unstillbaren Appetit des Vergessers zum Opfer. Man sollte denken, dass gewisse Erkenntnisse deshalb mit bitteren Erfahrungen einhergehen, damit sie sich tief in das Selbst eingraben – das ist aber bei akuter oder chronischer Obliviscitis nicht der Fall. Daher findest du dich plötzlich in einer Situation wieder, deren Nie-wieder-Auftreten du dir bereits vor Jahr(zehnt)en geschworen hattest.

Ein kleiner Trost: Es ist niemals ein Fall bekanntgeworden, in dem jemandem eine bestimmte Sache nie wieder eingefallen wäre. Kunststück, das liegt auch in der Natur der Sache. Nun, wie ich bereits sagte, ist es ein kleiner Trost.

In seiner Freizeit beschäftigt der Vergesser sich gerne mit Abwägungen in Bezug auf den Schalterstatus von Bügeleisen und Herden, oder mit der Frage, ob du die Haus- oder Autotür auch wirklich abgeschlossen hast.

Nach Attacken durch C.i. obliviscens sind Selbstzerstörungsphantasien nicht selten. (“Ich könnte mich in den Hintern beißen!”“Ich könnte mich (er)schlagen!”) Der Wunsch, durch diese Zerstörung deines Selbst diese besonders infame Art Parasit gleich mitauszurotten, dürfte die tiefenpsychologische Grundlage dieser Phantasien sein.

Was tun?

Bei starkem Befall durch den Vergesser helfen nur Stift und Papier in Personalunion. Wichtige Erkenntnisse des Lebens: Aufschreiben und Zettel an die Klotür kleben. Innen!
Organisiere dich, so gut du kannst. Kauf dir einen winzigen Block und einen Kalender, und trag diese stets bei dir, auch nachts. Den Kugelschreiber solltest du dir am besten in die Hand implantieren lassen, denn der Vergesser hat nicht nur einmal auf dem Weg zum Kugelschreiberholen wichtige Erkenntnisse einfach geschluckt. Als Zettel kann dagegen notfalls auch die freie Handfläche dienen.
Ein Tipp für dich, wenn du gerne beim Autofahren geniale Ideen hast: Kauf dir ein Diktiergerät. Eines mit Solarantrieb. Es ist bislang kein Fall bekannt, in dem es der Vergesser geschafft hätte, dass die Sonne vergisst zu scheinen, wohl aber solche, in denen er den Plan zum käuflichen Erwerb von Batterien über Monate hinweg vereitelte.

Man gewöhnt sich schnell daran, alles aufzuschreiben oder ins Diktiergerät zu sprechen. Der Schweinehund wird auf diese Weise recht effektiv ausgehungert. Dieses Vorgehen braucht dir vor anderen Menschen keineswegs peinlich zu sein. Und übrigens: “Ich dokumentiere meine zahlreichen Ideen” klingt wesentlich souveräner als “Ich bin eben ein vergesslicher Trottel”.

Mir wurde bereits einige Male von erfolgreichen Therapien und extrem abgemagerten C.i. obliviscens berichtet; ich muss allerdings der Ehrlichkeit halber zugeben, dass ich noch nie von der völligen Ausrottung eines Exemplars gehört habe. Kann aber auch sein, dass ich es vergessen habe.

Dieser Artikel ist Teil der Serie "Schweinehunde".<< Zum vorigen Teil: "A-5. C.i. prohibens: Der Verbieter"Zum nächsten Teil: "A-6b C.i. obliviscens: Fallbeispiele" >>

5 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. mkh sagt:

    Klar, bevor ich mir einen Chip implantieren lasse – erst mal einen Kugelschreiber! Aber alles in allem hat C.i. obliviscens einen durchaus erfreulichen Nebeneffekt: damit sich unsere Ideen nicht verflüchtigen, schreiben wir Weblogs! (Wenn mir doch nur mein Passwort wieder einfiele…)

    Und ehe ich´s vergesse: ein köstlicher Text!! *mjamm*

  2. hubbie sagt:

    da war doch ein Termin demnächst….aaaargh, die Putze hat das Post it am Häusl abgekletzelt….im Moleskine müsste doch….ja, Freitagdreizehnuhr….puuuh!

  3. Lily sagt:

    Das fatalste was mir auf dem Sektor je geschehen ist, ist der berufsbezogene C.i. obl., ssp “Amnesia”. Der sorgt dafür, dass dir sämtliche wichtigen Dinge, die auf deiner Arbeits-Task-Liste stehen, immer genau dann einfallen, wenn die Fabriksirene gedröhnt und du das Büro für den Tag verlassen hast. Die Probleme halten dich die halbe Nacht wach, um beim Weckerklingeln wieder einer völligen Amnesie zum Opfer zu fallen. Den Tag über sitzt du halb schlafend (nachts schlafen ging nicht, da musstest du grübeln) an deinem Schreibtisch- und kaum schlägt die Tür daheim hinter dir ins Schloss, fallen dir alle deine Sünden wieder ein.
    Das kann durchaus Tage lang so weitergehen. Interessanterweise haben bereit gelegte Stifte und Zettel die gleiche Wirkung auf das Gehirn wie der Anblick des Schreibtisches im Büro.
    Kann man irgendwo in den lateinischen Namen noch einen Ausdruck für “fieser Saboteur” einbauen? Bitte?

  4. Ceh sagt:

    Gerade hatte ich eine Idee für einen wahrlich brillanten Kommentar. Diese habe ich klarerweise verschwitzt, daher nur meine herzlichste inhaltliche Zustimmung vom Meister des atemlosen ein-Zimmer-Betretens-weil-man-etwas-Wichtiges-zu-verkünden-hat-und-sich-nach-erfolgreichem-Blitzvergessens-desselben-in-der-Zimmermitte-stehend-vor-den-Augen-aller-mich-nun-anstarrenden-Zimmerinsassen-zum-Trottel-gemacht-Habens.

    ]:)

  5. Etosha sagt:

    Sehr anschaulich, meine Lieben, ich seh schon, da hab ich einen Nerv getroffen. Ich werd demnächst noch eine kleine Fortsetzung schreiben, da gibts noch einiges zu sagen. :)

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