Artikel

Der Hirsch ist tot

Mit dem Tod hat er sich vermutlich mehr beschäftigt als der durchschnittliche Mensch. Vielleicht gehört das aber auch zu Wien, wie er zu Wien gehörte und für mich auch weiterhin gehören wird. Mit einer Erkrankung wie seiner rückt das Thema auch nicht gerade ferner. Die Entscheidung darüber, wann es genug ist, selbst treffen zu können, ist vielleicht die einzige Freiheit, die einem in einer solchen Situation noch bleibt. Mich hat die Nachricht trotzdem sehr getroffen, dass Ludwig Hirsch sich heute in Wien in den Tod gestürzt hat.

Ein gefühlvoller und mutiger Liedermacher war er. Seine Platte “Dunkelgraue Lieder” haben wir, mein Bruder und ich, in unserer Kindheit auf und ab gespielt, bis wir sie auswendig konnten, und danach noch weiter. Nun könnte man meinen, das sei aber etwas schwere Kost für Kinder, und damit mag man nicht ganz falsch liegen. Doch mich hat der Herr Hirsch als erstes Aufmerksamkeit gelehrt (Was singt der denn da eigentlich?), er lehrte Mitgefühl (“Der Wolf”), Vorsicht (“Der Herr Haslinger”) und die Gültigkeit von ambivalenten Gefühlen (“Die Omama”), aber auch das Lachen über schräge Zeitgenossen und Begebenheiten (“Liebeslied”) und grenzwertige Unanständigkeiten (“Geh spuck den Schnuller aus”) – aber vor allem viel Gänsehaut (bei fast allen Stücken, vor allem “Der Dorftrottel”).

Meine Tränen kommen mit 100%iger Sicherheit bei drei seiner Songs, “I lieg am Ruckn”, “Der Wolf” und “Komm, großer schwarzer Vogel”. Damit bildet er die einsame Spitze, vor Bobby Goldsboros “Honey” und Esther Ofarims “Kinderspielen”, wenn meine Mutter es singt.

Erst vor Kurzem gab es eine Radiosendung mit ihm, da wurden Hirsch-Lieder gespielt und… ich hab auf den nächsten Senderknopf gedrückt, als “I lieg am Ruckn” begann. Wie gesagt, nur in den seltensten Fällen halte ich ein ganzes Hirsch-Stück ohne Tränen durch; ich hör nur die Instrumentierung, und es beginnt schon zu fließen. Und da war mir gerade nicht nach Weinen.
Jetzt schon. Vielleicht sickert ane, a klane, zu dir durch, Ludwig Hirsch.

(Texte)
(Wiki)
(youtube)

Artikel

Freunde

Ich habe einen Brief bekommen. Einen richtigen, echten Brief, in dem eine richtige, echte Handschrift acht Seiten füllt. Ich weiß gar nicht mehr, wann ich das letzte Mal einen handgeschriebenen Brief bekommen habe. Was ich noch weiß ist, von wem ich ihn bekommen habe, doch das muss schon Jahre her sein. In einer Zeit, in der selbst im Rahmen der elektronischen Post nur noch jede zweiundzwanzigste E-Mail von einem richtigen Menschen direkt an einen anderen gerichtet ist, mit Anrede und persönlichem Inhalt, und der Rest aus automatisch generierten Inhalten für automatisch generierte Leser besteht, hat die Ankunft dieses Briefes mein Herz hüpfen lassen. Doch in den Minuten zwischen Briefkasten und Brieföffner hatte ich auch die Befürchtung, es könnte was ganz Schreckliches drinstehen, etwas, das man nicht einmal einer E-Mail anvertrauen wollen würde.

Es ist eine rechte Sauklaue, die sich mir darin in den Weg wirft, aber es ist eine kreative Sauklaue, meiner eigenen Handschrift gar nicht so unähnlich. Ich hatte jahrelanges Sauklauenentzifferungstraining in meiner Lehrzeit und danach, als ich beim Steuerberater händisch adaptierte Briefe und Vorjahresvorlagen in die EDV “einzuklopfen” hatte, wie man damals so schön sagte. Jeder Sachbearbeiter hatte seine eigene, und über die Jahre mutierte ich zur Meisterin aller Schriften und Glyphen. Nicht nur konnte ich über die Handschrift auch anhand ein, zwei kurzer Worte den Verfasser identifizieren, sondern auch alle kryptischen Einzelfälle lösen, ohne nachfragen zu müssen. Später wurde ich zum Ghostwriter; ein Kollege, der mittlerweile leider schon verstorben ist, wollte seine diktierten Briefe nur noch von mir tippen lassen, weil sie eleganter und punktgenauer formuliert in seiner Mappe landeten als er sie jemals diktiert hatte.

Es stand nur sehr wenig Schreckliches drin, in dem Brief, den ich bekommen habe. Mehr Persönliches, viel Zeitgeschichtliches, und ein paar der Eigentümlichkeiten, für die ich den Verfasser so mag, wie ich ihn eben mag. Ganze Bücher könnte ich lesen in diesem Stil, in dem er seine Worte abzufassen pflegt, und das weiß er auch. Die richtig guten Leute werden leider oft nicht verlegt.

Ich habe auch eine Ansichtskarte aus Las Vegas bekommen, etwas früher in diesem Jahr. Auch diese Ansichtskarte enthielt eine persönliche Anrede und richtige Handschrift. Ich verstand sie als eine Art Dank, der passiert, wenn man teilt, was man hat, weil jemand anderer auch gern hätte, was man hat. Ein Teilen, das keinen etwas kostet, aber beiden Beteiligten Freude bereitet. Was ich mit der Absenderin ebenfalls teile, ist die Liebe zum geschriebenen Wort und die Auftragsschreiberei. Als ich letztens ein akutes Problem in diesem Bereich zu lösen hatte, ließ sie sofort alles liegen und stehen, genehmigte sich noch einen Koffeinschub und war dann via Skype mit allerlei Vorschlägen für mich da. Für solcherlei Geschenke zeige ich mich gerne erkenntlich, und ich hatte noch in der gleichen Woche dazu die Gelegenheit, wenn auch nicht in gleichem Ausmaß. Zeit hat man nicht, Zeit nimmt man sich.

Ich fühle mich diesen Menschen verbunden, die mein Leben auf so wunderbare Weise bereichern. Es sind Menschen, die mir eine Freude machen wollen, die mir Geburtstagsgeschenke schicken, Bücher, die mich nach einem Spitalsaufenthalt trösten sollen, Briefe und Ansichtskarten und E-Mails, postalische CarePakete mit Schokolade, die hierzulande aus dem Sortiment genommen wurde, ja, Menschen, die mir sogar Internetbestellungen weiterschicken, die nur nach Deutschland versendet werden, und das, ohne dafür auch nur das Geringste zu verlangen, nicht mal eine Portovergütung. Ich fühle mich wirklich reich beschenkt und bin dafür ungemein dankbar.

In beiden Fällen, die ich oben erwähnt habe, Brief und Ansichtskarte, sind das Menschen, die ich nie persönlich getroffen habe. Mit manch anderem, dessen Geschenk im letzten Absatz vorkommt, hatte ich ebenfalls erstmals online das Vergnügen. Wenn Internet- oder SocialMedia-Verweigerer mir mit ihren undifferenzierten, oft nachgeplapperten Platitüden kommen, erwähne ich diese Menschen immer. Zugegeben, nicht jeder “Freund” ist wirklich ein Freund heutzutage. Ich reihe auch nicht alle Bekanntschaften, die ich im “richtigen” Leben habe, in diese besondere Kategorie von Menschen ein. Der exzessive Austausch von Oberflächlichkeiten findet auch offline statt, wie wir alle wissen. Für eine Freundschaft ist das nicht ausreichend.

So ist aber auch nicht jeder, den man “nur übers Internet” kennt, zwangsläufig kein Freund.